Vor 80 Jahren, im Frühjahr 1939, veröffentlichte die Jazz-Sängerin Billy Holiday den Song »Strange Fruit«. Wir erzählen die Geschichte hinter dem ersten politischen Popsong der Welt. Von Yaak Pabst
Im Frühjahr 1939 verändern zwölf Verse die Welt. In dem New Yorker Club »Café Society« singt die schwarze Jazz-Sängerin Billie Holiday ein Lied, in dem zum ersten Mal offen die Unterdrückung der Schwarzen in den USA angeprangert wird. Die Anwesenden sind begeistert, ahnen aber nicht, dass sie gerade die erste Hymne der Bürgerrechtsbewegung hören.
Die USA unter den »Jim-Crow-Gesetze«
Für Schwarze sind die USA zu dieser Zeit ein erniedrigender und gefährlicher Ort. Es herrschen die »Jim-Crow-Gesetze«: Rassentrennung, weiße Terrorherrschaft, Apartheid.
Die schwarze Bevölkerung wird brutal unterdrückt
Die Menschen sind zwar keine Sklaven mehr, aber Gefangene in einer von Weißen dominierten Welt. Weiße gehen auf weiße Schulen, Schwarze auf schwarze. Die öffentlichen Toiletten sind genauso nach Hautfarbe getrennt wie Restaurants, Wartezimmer oder Busse und Bahnen. Die besten Plätze bleiben für Schwarze versperrt. Auch das Wahlrecht wird ihnen verweigert. Sie sind Menschen zweiter Klasse.
Lynchmorde
Die Spitze der Unterdrückung stellt die physische Gewalt dar – die Lynchmorde. Zwischen 1882 und 1968 wurden in den USA 4743 Fälle aktenkundig – die meisten davon in den Südstaaten. Vier Fünftel der Opfer waren Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen. Das Lynchen war ein öffentliches Spektakel: Ein begeistertes Publikum schaute der Folter in karnevalistischer Atmosphäre zu oder hetzte mit. Eine Umfrage aus dem Jahr 1939 ergab, dass in den Südstaaten sechs von zehn Weißen das Lynchen befürworteten. Für manche weiße Südstaatler waren Knochensplitter der Opfer, Kleiderfetzen oder ein verkohltes Stück Strick begehrte Souvenirs. Fotos von den Morden wurden vervielfältigt und zum Verkauf angeboten.
Adam Meerpol und das Gedicht »Strange Fruit«
Als der jüdische Lehrer Adam Meerpol ein solches Foto in die Hände bekommt, ist er schockiert. Meerpol lebt in der New Yorker Bronx, ist aktiver Gewerkschafter, Mitglied der Kommunistischen Partei und leidenschaftlicher Dichter und Musiker. Das Foto verfolgt ihn tagelang, raubt ihm den Schlaf. Daraufhin schreibt er sich die Wut von der Seele: Der Song »Strange Fruit« ist geboren – ein Aufschrei gegen den Hass, die Entwürdigung und die rassistische Gewalt.
Die Reime ergreifen, bestechen, erschüttern
Die im Lied angesprochene »Strange Fruit« (seltsame Frucht) ist die Leiche eines gelynchten Schwarzen, irgendwo im Süden der USA, mit einem Strick an einem Baum aufgehängt. Meerpol legt in den wenigen Versen die Barbarei des Rassismus offen. Die Reime ergreifen, bestechen und erschüttern, weil es dem Dichter gelingt, den gewaltsamen Horror des Lynches der idylischen Landschaft des Südens gegenüberzustellen. Ein Bild, das beklemmt aber gleichzeitig Widerspruch hervorruft.
Southern trees bear a strange fruit, / Blood on the leaves and blood at the root, / Black body swinging in the Southern breeze, / Strange fruit hanging from the poplar trees
(Die Bäume im Süden tragen seltsame Früchte, / Blut auf den Blättern und Blut an der Wurzel, / Schwarze Körper schaukeln im südlichen Wind, / Seltsame Früchte hängen von den Pappeln)
Pastoral scene of the gallant south, / The bulging eyes and the twisted mouth, / Scent of magnolia sweet and fresh, / Then the sudden smell of burning flesh
(Ländliche Idylle im galanten Süden, / Hervorquellende Augen und verzerrter Mund, / Süßer frischer Magnolienduft, / Dann der plötzliche Geruch von verbranntem Fleisch)
Here is a fruit for the crows to pluck, / For the rain to gather, for the wind to suck, / For the sun to rot, for the tree to drop, / Here is a strange and bitter crop
(Hier ist eine seltsame Frucht, an der die Krähen picken, / An der sich der Regen sammelt, die vom Wind geschüttelt wird, / Die in der Sonne verrottet, bis sie vom Baum fällt, / Eine seltsame und bittere Ernte)
Das Lied wird regelmäßig in Kreisen der amerikanischen Linken in und um New York gespielt: Von Freunden Meerpols bei Gewerkschaftsversammlungen oder von einem Quartett von schwarzen Sängern, die das Lied auf antifaschistischen Benefizveranstaltungen für die Kämpfer der Internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg spielen.
Billie Holiday singt »Strange Fruit«
Im Frühjahr 1939 bittet Meerpol Billie Holiday, den Song in ihr Programm aufzunehmen. Doch sie zögert. Zu dieser Zeit ist die Sängerin 24 Jahre alt und bereits eine Berühmtheit in der Welt des Jazz. Weil sie schwarz ist, befürchten ihre Freunde, das Lied könne ihrer Karriere schaden.
Nach einigen Proben ist Holiday jedoch nicht mehr davon abzubringen. Sie macht aus dem Song einen unverwechselbaren, eindringlichen, wütenden Vortrag. Meerpols Verse interpretiert sie in einer unglaublichen Vielfalt. Ihr Gesang ist weich und kräftig zugleich. Die ersten Zeilen beginnt sie mit tiefer und kratziger Stimme, um dann sanft, leicht fast lautlos und einfühlsam fortzufahren. Doch plötzlich ändert sie die Richtung. Hart und wütend, dunkel, angewidert und voller Verachtung betont sie den letzten Buchstaben im Wort. Sie macht gezielt Pausen, lässt Stille den Raum füllen, um dann umso intensiver die nächste Zeile zu beginnen: Bedrückt, von einem tiefgreifenden Schmerz erfasst, zwingt sie das Publikum, dem Lied seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen.
Billie Holidays Darbietung löst heftige Reaktionen aus
Billie Holiday polarisiert
Ihre Darbietung löst heftige Reaktionen aus. In ihrer Autobiografie schreibt sie: »Dieses Lied schaffte es, die Leute, die in Ordnung sind, von den Kretins und Idioten zu trennen.« Die einen kommen täglich zu ihren Auftritten, nur um diesen Song zu hören. Die anderen, einschließlich des FBI, versuchen sie mit allen Mitteln zum Verstummen zu bringen. Vergeblich: »Strange Fruit« avanciert zum Höhepunkt von Holidays Auftritten. Die Künstlerin setzt das Lied gezielt an das Ende ihrer Show. Sämtliche Lichter werden ausgeschaltet, nur ein Spotlight ist auf die Sängerin gerichtet. Ein leidenschaftliches, beeindruckendes und anrührendes Schlussstück, nach dem es keinen weiteren Song mehr geben kann.
Holiday erinnert sich später: »Ich beendete das Set mit Strange Fruit und ging dann sofort zum Waschraum, so wie ich es immer mache, weil mich das Singen so mitnimmt, dass mir richtig schlecht davon wird. Es nimmt mir einfach meine ganze Kraft. Nun kam also diese Frau in die Damentoilette im Downtown Club und fand mich völlig fertig vom vielen Heulen. Ich hatte die Bühne im Laufschritt verlassen, mir war heiß und kalt zugleich. Sie sah mich an und die Tränen stiegen ihr in die Augen: ›Mein Gott‹ sagte sie, ›ich habe noch nie in meinen Leben etwas so wunderbares gehört. Dort draußen kann man immer noch eine Nadel fallen hören.‹«
Billie Holiday schaffft die erste Protesthymne der 1940er Jahre
Der Song erschüttert nicht nur zahllose Amerikanerinnen und Amerikaner, sondern Menschen auf der ganzen Welt. Als die Platte erscheint, schicken Aktive der Bürgerrechtsbewegung sie an alle Mitglieder des US-Senats, um gegen die Lynchmorde zu protestieren. Das Lied landet binnen weniger Wochen auf Platz 16 der Charts – es ist die Protesthymne der 1940er Jahre.
Der Song ist Holidays Beitrag zum Kampf gegen den Rassismus, ein ganz persönlicher. Ihr Vater starb 1937, weil sich alle Krankenhäuser der Gegend weigerten, einen Afroamerikaner zu behandeln. Sie schreibt: »Es macht mich immer noch traurig, wenn ich es singe. Es erinnert mich daran, wie mein Vater gestorben war. Aber ich musste es immer wieder singen, nicht nur, weil die Leute es sich wünschten, sondern auch, weil zwanzig Jahre, nachdem mein Vater nun tot ist, diese Dinge, die ihn umgebracht haben, immer noch im Süden passieren.«
Kampf für gleiche Rechte
Das Lied setzte fort, was Aktivistinnen und Aktivisten Anfang der 1930er Jahre auf der Straße begonnen hatten: Den Kampf für gleiche Rechte für alle Menschen – egal welcher Hautfarbe. Aber vor Meerpol und Holiday hatte kein Künstler gewagt, dieses Thema so direkt anzusprechen. Mit »Strange Fruit« schrieb Billie Holiday Geschichte, weil sie einen der ersten politischen Popsongs so interpretierte, dass Millionen Menschen davon berührt sind – bis heute.
Foto: William P. Gottlieb / wikimedia / als gemeinfrei gekennzeichnet
Schlagwörter: Bürgerrechtsbewegung, Geschichte