Oskar Lafontaine behauptet, die SPD habe mit der Verschärfung des Asylrechts den Rechtsruck in den 1990ern aufgehalten. In Wirklichkeit verschaffte sie den Nazis Rückenwind. Erst eine breite gesellschaftliche Massenbewegung bremste ihren Aufschwung. Von Irmgard Wurdack
Oskar Lafontaine hat im August in der Zeitung »Welt am Sonntag« erklärt, dass eine Begrenzung der Zuwanderung die AfD schwächen könne. Als Beleg führt er an, dass die Zustimmung zu der rechten Partei »Die Republikaner« nach dem sogenannten Asylkompromiss von 1992/93 deutlich zurückgegangen sei. Im »Asylkompromiss« stimmte die SPD gemeinsam mit der Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP einer Grundgesetzänderung zu, die das individuelle Recht auf Asyl faktisch abschaffte. Lafontaine verdreht die Tatsachen: Erstens gab die Verschärfung des Asylrechts den Rechten zunächst Rückenwind. Zweitens kam der Absturz der Republikaner deutlich später. Drittens sind dafür Mobilisierungen auf der Straße verantwortlich.
Rechtsruck nach 1989
Die Jahre nach dem Fall der Mauer 1989 waren geprägt durch einen drastischen Aufschwung faschistischer Gruppierungen und von Parteien wie den Republikanern (Reps). Deren Vorsitzender Franz Schönhuber pries in seinem Buch »Ich war dabei« (bei der Waffen-SS) 1988 den italienischen Faschismus als gesellschaftliche Idealvorstellung. Bei der Europawahl kurz vor der Wende zogen die Reps erstmals ins Europaparlament ein.
Hausbesetzungen durch Neonazis, Aufmärsche, rassistische Angriffe auf das Leben von Menschen, selbst öffentliche Auschwitz-Leugnung und Pogrome schienen Alltagserscheinungen. Um nur einige Beispiele zu nennen: 1991 verbrannte Samuel Kofi Yeboahin einem Asylheim in Saarlouis. Im gleichen Jahr terrorisierten Neonazis in Hoyerswerda – unter Beifall von Nachbarn, vor laufenden Kameras und unter den Augen der untätigen Polizei – tagelang Geflüchtete und Vertragsarbeiterinnen, bis diese aus der Stadt gebracht wurden. Im Mai 1992 belagerte ein Mob mehrere Tage lang eine Asylunterkunft in Mannheim-Schönau.
Mindestens 3000 Menschen applaudierten im selben Jahr in Rostock-Lichtenhagen, als Neonazis ein Wohnheim vietnamesischer Arbeiterinnen und Arbeiter und ein heillos überfülltes Erstaufnahmelager für Geflüchtete in Brand setzten. Im November 1992 brannte in Dolgenbrodt ein ehemaliges Kinderheim völlig aus. Nach der Festnahme der Täter stellte sich heraus, dass Bewohnerinnen und Bewohner von Dolgenbrodt Geld gesammelt hatten, um die Brandstifter anzuheuern. Am nächsten Tag hätten dort Asylsuchende einziehen sollen. Ende November 1992 verbrannten Yeliz und Bahide Arslan sowie Ayse Yilmaz bei einem Brandanschlag von Neonazis auf ihr Haus in Mölln.
Tiefpunkt »Asylkompromiss«
Den Resonanzraum dieser rechten Terrorwelle bildete die sogenannte Asyldebatte ab Beginn der 1980er Jahre, die im »Asylkompromiss« schließlich ihren vorläufigen Tiefpunkt fand. 1980, als erstmals über 100.000 Menschen in Deutschland einen Asylantrag stellten – in der Türkei hatte gerade das Militär geputscht –, tauchte zum ersten Mal das Wort »Asylant« im Duden auf. Asylant wie Querulant, Denunziant, Simulant – bald hieß es nur noch »Scheinasylant«. Begleitet von Schlagzeilen über vermeintlichen »Asylmissbrauch« in der Springerpresse wurde eine Asylrechtsverschärfung nach der anderen durch den Bundestag gepeitscht.
Klagerechte gegen Ablehnungsbescheide wurden eingeschränkt. Für immer mehr Länder, in denen Krieg oder Bürgerkrieg herrschte, verunmöglichte eine Visumpflicht die Flucht nach Deutschland. Die Unterbringung in Sammelunterkünften und die Residenzpflicht wurden eingeführt. Folter, Notsituationen und kriegerische Auseinandersetzungen wurden nicht mehr als Asylgrund anerkannt. So wurde ein Gutteil der praktischen Probleme vor Ort erst geschaffen: Länder und Kommunen ächzten unter dem Druck, immer mehr Geflüchtete unterbringen und versorgen zu müssen, zumal ab 1986 für Asylbewerber auch ein fünfjähriges Arbeitsverbot galt.
Die Verantwortung der CDU für den Rechtsruck
Ein Jahr später machte die Union im Bundestagswahlkampf die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl zum Thema – trotz der Warnungen ihres damaligen Generalsekretärs Heiner Geißler, die CDU riefe damit »Geister«, die sie »nicht mehr loswerden« würde. Tatsächlich verhalf die Asyldebatte 1989 den Republikanern zum Durchbruch: Sie zogen nicht nur ins Europaparlament, sondern auch ins Berliner Abgeordnetenhaus ein.
Um nach der Wende von der Wahlkampflüge der »blühenden Landschaften« und von der weiterhin hohen Arbeitslosigkeit abzulenken sowie die massiven Privatisierungen insbesondere in Ostdeutschland und ein drastisches Umverteilungsprogramm von unten nach oben durchzusetzen, verschärfte die Regierung Kohl ihre rassistische Sündenbock-Kampagne gegen Geflüchtete weiter. Am 16. August 1991 resümiert die Wirtschaftswoche: »So konnte es wirklich nicht mehr weitergehen: Alle Welt redete nur noch von Inflation und Rezession, höheren Steuern… Die Wähler wandten sich in Scharen der Opposition zu… Es musste etwas geschehen… Und es geschah: Bundesinnenminister Schäuble schob ein neues Thema ins Rampenlicht der Öffentlichkeit: Die Asylantenfrage.«
Rechte Wahlerfolge und Brandanschläge
Im Herbst 1991 machte der neue CDU-Generalsekretär Volker Rühe mobil. In einem Rundschreiben forderte er seine Partei auf, die »besorgniserregende Entwicklung von Asylbewerberzahlen« in allen Stadträten, Kreistagen und Länderparlamenten zum Thema zu machen und die SPD unter Druck zu setzen. Musterentwürfe für Ratsbeschlüsse, Presseerklärungen und Anfragen, wie viele Kindergärten sich mit dem Geld für die Flüchtlingsversorgung finanzieren ließen oder wie viel Unterricht ausfiele, weil Notunterkünfte in Schulen und Turnhallen eingerichtet worden waren, schickte er gleich mit. Wenn die SPD sich weiter gegen die Grundrechtsänderung sperre, so Rühe, sei jetzt jeder Asylant ein »SPD-Asylant«.
Bald schrieb nicht nur die »Bild«: »Die Flut steigt – wann sinkt das Boot?«Und:»Fast jede Minute ein neuer Asylant«. Auch der »Spiegel« titelte mit dämonisierenden, entmenschlichenden Bildern »Das Boot ist voll« und beschwor einen »Krieg des dritten Jahrtausends«. In Umfragen wurde das »Asylantenproblem« so zur Sorge Nummer eins.
Das Ergebnis der rassistischen Kampagne von oben: Die Zahl der Nazi-Übergriffe explodierte, ebenso die Stimmanteile von Nazi-Parteien. Die Zahl der Brandanschläge stieg von 1991 bis 1992 von 380 auf 656. Die Reps erreichten bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg 12,3 Prozent, in Schleswig-Holstein 7,5 Prozent.
SPD stimmt »Asylkompromiss« zu
Oskar Lafontaine hatte ohne Rücksicht auf Verluste schon 1990 für eine Grundgesetzänderung beim Recht auf Asyl mobilisiert. Wenige Monate nach dem Pogrom von Rostock verteidigte Lafontaine auf einem Sonderparteitag das SPD-Sofortprogramm für eine Grundgesetzänderung. Jusos protestierten mit Spruchbändern wie »Rassismus auf Raten Sozialdemokraten?!« und »Denkt dran: Auch Willy Brandt war Asylant!«. Zwei Tage zuvor hatten rund 150.000 Menschen unter dem Motto »Hände weg vom Asylgrundrecht« demonstriert.
Lafontaines heutigen Behauptungen zum Trotz gingen der rechte Terror und der rechte Aufschwung weiter, nachdem SPD, CDU/CSU und FDP nur wenige Tage nach dem Mordanschlag in Mölln den »Asylkompromiss« vereinbart hatten. Im Mai 1993 starben bei einem Brandanschlag in Solingen Samine Genc, Gürcün Ince, Hatice Genc, Gülüstan Öztürk und Hülya Genc. 1993 erreichte die Mitgliederzahl der Reps den Höchststand von 23.000. 1996 gelang der Wiedereinzug in den Landtag von Baden-Württemberg.
Lichterketten und Demonstrationen
Zurückgedrängt wurden die Rechten durch eine breite Massenbewegung. Der Schriftsteller Günter Grass schickte kurz nach dem »Asylkompromiss« öffentlichkeitswirksam sein SPD-Parteibuch zurück. Nach der Abstimmung im Bundestag verließen 30.000 Mitglieder die SPD. Bereits am 6. Dezember 1992 protestierten eine Million Menschen in München mit einer Kerze in der Hand dagegen, dass Asylsuchende und ihre Heime überfallen und jüdische Friedhöfe geschändet wurden. Niemand hatte mit so vielen Menschen gerechnet, teilweise verabredeten sich ganze Belegschaften. An den folgenden Wochenenden setzten bundesweit Hunderttausende ein Zeichen. In Frankfurt am Main kamen 150.000 zu einem Konzert »Heute die, morgen du«. Millionen Zuschauer verfolgten das Konzert und die Botschaften vieler prominenter internationaler Künstler.
Viele nahmen das erste Mal in ihrem Leben an einer Demonstration teil und erlebten, dass sie mit ihrer Bereitschaft, sich einzusetzen, nicht allein waren. Die Lichterketten haben den rechten Terror nicht beendet, aber als Manifestation von Millionen deutlich gemacht, dass die Mehrheit der Gesellschaft keineswegs mit denen sympathisierte, die Jagd auf Migranten machten.
Initiiert wurde die Lichterkettenbewegung von unten, von prominenten Publizisten wie Ralph Giordano, Siegfried Lenz und anderen, und sie bot den Scharfmachern in den Parlamenten die Stirn. Anders als den Regierungspolitikern, die mancherorts versuchten, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, ging es den Teilnehmenden nicht um das Image Deutschlands in der Welt.
Rechte Offensive zurückgedrängt
Die Lichterketten wurden zum Katalysator für eine weitere politische Radikalisierung und Verbreiterung der Bewegung gegen die Nazis. Allein in München protestierten 1994 über 4000 Menschen mit einer Menschenkette gegen die Schlussveranstaltung der Reps im Europawahlkampf. In Hannover konnte die Polizei nur mit Schlagstöcken, Wasserwerfern und berittenen Beamten verhindern, dass eine Wahlveranstaltung der Reps gestürmt wurde. Bei den Wahlen 1994 flogen die Reps bereits mit 3,9 Prozent aus dem Europaparlament. 1997 stellten sich – ebenfalls in München, der Geburtsstadt der Lichterketten – 15.000 bis 20.000 Menschen 4000 Neonazis in den Weg, durchbrachen die Polizeiblockaden und jagten die Nazis, »Wir sind die Mehrheit – uns gehört die Stadt« rufend, zurück zu ihren Bussen.
Die Gefahr von rechts verschwand in den 1990er-Jahren nicht völlig, aber Projekte wie die Republikaner wurden zurückgeworfen. Einige Nazis gingen in den Untergrund – die Zwickauer Terrorzelle des NSU entstand in dieser Zeit. Die Zahl rechter Gewalttaten stabilisierte sich auf einem hohen Niveau. Doch dafür verantwortlich waren damals wie heute die wiederkehrenden rassistischen Ablenkungsmanöver und Sündenbockkampagnen der Regierenden gegen Migrantinnen und Muslime. Die LINKE tut gut daran, nicht wie Lafontaine in deren Chor einzustimmen, sondern in der Tradition der antifaschistischen und antirassistischen Mobilisierung von unten weiterzumachen.
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