Massenproteste in Spanien und Griechenland, rebellierende Jugendliche in Großbritannien – auf dem ganzen Kontinent geht es rund. Nur der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) befindet sich im Tiefschlaf. Von Arno Klönne
Nicht nur in Nordafrika und in Israel wird sozial rebelliert, auch in europäischen Ländern wächst der Protest derjenigen an, denen kapitalistische Politik eine menschenwürdige Existenzweise verweigert oder entzieht. Und die europäische Gewerkschaftsbewegung? Sie bewegt sich nicht, viele ihrer professionellen Funktionäre setzen immer noch auf Partnerschaft mit dem Spitzenmanagement. Sechzig Millionen Mitglieder aus verschiedenen Ländern repräsentiert der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) als Dachverband. Als »die Stimme der europäischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer« weist er sich selbst aus. Aber diese Stimme ist schwach und in den aktuellen, sich verschärfenden sozialen Konflikten zumeist gar nicht zu hören.
EGB sinnlos?
Es ist nicht so, als seien die üblichen Aktivitäten des EGB sinnlos: die Bemühungen, ein europaweites Arbeitsrecht zu entwickeln oder europäische Strukturen bei den Betriebsräten multinationaler Unternehmen zu schaffen. Auch initiiert der EGB gelegentlich länderübergreifende Demonstrationen für ein »soziales Europa«. In die gegenwärtige Auseinandersetzung um die künftigen Kräfteverhältnisse der sozialen Klassen in Europa jedoch greifen solche Formen der politischen Teilnahme nicht ein. Der EGB hat sich ausgerichtet auf den »sozialen Dialog«, auf das sozialpartnerschaftliche Aushandeln im Raum der Verbände und Institutionen. Wo sich öffentliche Empörung äußert, massenhaft und zugespitzt, fällt er höchstens durch Abwesenheit auf.
Gewerkschaften in Europa
Zweifellos steht jeder Versuch, die Interessen national organisierter Gewerkschaften auf der europäischen Ebene zusammenzuführen und in eine »Bewegung« umzusetzen, vor großen Schwierigkeiten. Die multinationalen Konzerne und Banken haben es da leichter, sie müssen aufs jeweilige »Vaterland« keine Gedanken verschwenden. Das Kapital hat einen Mobilitätsvorteil gegenüber der lohnabhängigen Arbeit. Gewerkschaften haben in Europa sehr unterschiedliche nationale Traditionen und Formen, das Arbeitsrecht ist überwiegend national ausgestaltet, die Europäische Union ist schon von ihrer Entstehungsgeschichte her ein Instrument politischer Interessen der Kapitalseite – nicht eine Einrichtung zum Wohle der lohnabhängig Beschäftigten. Die Konkurrenz um nationale »Standorte« ist für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine bittere Realität.
Konflikt mit Kapitalinteressen
Aber exakt das ist die wichtigste Aufgabe der Gewerkschaften: Konkurrenzdenken und -handeln auf der Seite der Lohnarbeit abzubauen und zu überwinden – in den einzelnen Branchen, in den Ländern und zwischen den Nationen. In der Geschichte der Arbeiterbewegung finden sich Beispiele dafür, dass dies gelingen kann, wenn konkrete Ziele sichtbar werden. Der 1. Mai wurde international zum Kampftag der Arbeiterschaft mit der gemeinsamen Forderung: Acht Stunden schuften pro Tag – mehr nicht.
Sozialer Protest auch in europäischen Ländern, und hier nicht nur in Spanien, ist derzeit vor allem die Sache junger Menschen, denen die herrschende Ökonomie und Politik die Zukunft verdirbt. Ganze Teile der jungen Generation werden abgehängt von der Aussicht auf eine anständig entlohnte Arbeit. Dass gute Ausbildung vor einem solchen Schicksal bewahre, stellt sich als Märchen heraus. Fällig wäre also eine gesamteuropäische Kampagne der Gewerkschaften gegen Jugendarbeitslosigkeit, für eine gesetzlich verbürgte Kürzung der Regelarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich (um Arbeit »umzuverteilen«) und für einen Ausbau der öffentlichen Dienste. Und dabei wäre klarzustellen: So etwas geht nur im Konflikt mit Kapitalinteressen, nur bei Umverteilung in den Vermögensverhältnissen. Der »soziale Dialog« hilft da nicht weiter.
Kämpfe unterstützen und ihrem Beispiel folgen
Bei den Gewerkschaften in Europa melden sich jetzt einzelne zu Wort, die in diese Richtung zielen. Das DGB-Internetmagazin Gegenblende, sonst eher akademischen Erörterungen zugeneigt, bringt einen Beitrag des norwegischen Gewerkschaftsaktivisten Asbjorn Wahl, in dem es heißt: »Europaweit herrschen anti-soziale Politiken vor, einschließlich scharfer Angriffe auf Gewerkschaften, Löhne, Alterssicherung und wohlfahrtstaatliche Leistungen. Während somit Arbeitgeber und Regierungen vollständig mit den konsensorientierten Politiken der Nachkriegszeit brechen, klammern sich viele Gewerkschaften immer noch an die Illusion einer funktionierenden Sozialpartnerschaft, in der sich vernünftige Arbeitgeber durch Argumente überzeugen lassen würden (…) Wir werden angegriffen und es ist höchste Zeit, dagegen zu halten (…) Wir müssen die unterstützen, die kämpfen, und ihrem Beispiel folgen.« Wahl, Funktionär der Internationalen Transportarbeitergewerkschaft und Initiator der »Kampagne für den Wohlfahrtstaat« in Norwegen, plädiert für »Gewerkschaften als unabhängige politische Akteure« und eine »europaweite gewerkschaftliche Koordination«, um jenseits des Parteienbetriebs »progressive soziale Bündnisse« zu entwickeln.
»Kampagne für den Wohlfahrtsstaat«
Norwegen als Beispiel: Dort wirkt seit Ende der 1990er Jahre mit Erfolg und unter Beteiligung von Gewerkschaften die erwähnte »Kampagne für den Wohlfahrtsstaat«, unabhängig von Parteien, aber mit deutlichem Effekt auf die Politik, auch auf die Wahlen und das Parlament. Sie setzt den Gegenpol zu jenem »Rechtspopulismus«, der soziale Probleme in nationale oder ethnische Ressentiments verdreht. Auch das ist ein gesamteuropäischer Konflikt. In den Staaten Europas macht sich ein durchgängiger Trend stark: systematisches Abdrängen eines wachsenden Teils der Bevölkerung in dauerhafte Armut, Wegschieben der Arbeitnehmerorganisationen ins gesellschaftspolitische Abseits, Ablenken sozialer Unzufriedenheit in nationalistische und rassistische Politikkanäle.
EGB droht ein böses Erwachen
Den Gewerkschaften in Europa, wenn sie sich weiter schläfrig verhalten, steht ein böses Erwachen bevor. Noch haben sie die Chance, sich aufzuraffen und sich einzumischen, präsent zu werden in der Auseinandersetzung um das künftige soziale Profil der europäischen Gesellschaften. Den strategischen Zentralen der Konzerne und Banken kann man Schläfrigkeit nicht nachsagen. Den demagogischen »Rettern Europas« von rechts auch nicht. Und die bequemen Zeiten der »Sozialpartnerschaft« werden nicht wiederkehren. Gemütlich wird es auch in Europa in Zukunft nicht zugehen. Vielleicht sollten Vorstand und Sekretariat des EGB mal einen Betriebsausflug machen – von Brüssel nach England oder nach Spanien. Demnächst kommen aller Wahrscheinlichkeit nach noch andere Länder dafür in Betracht.
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