Ist der Marxismus im 21. Jahrhundert noch aktuell? Wir meinen: Ja! Doch der Marxismus muss beständig weiterentwickelt werden. John Molyneux beschäftigt sich mit drei neuen Herausforderungen für Marxistinnen und Marxisten
Der Marxismus bleibt die unüberschreitbare Philosophie unserer Zeit. Er ist nicht überlebt, weil die Zeitumstände, die ihn hervorgebracht haben, noch nicht überlebt sind.
Jean-Paul Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, 1967
Marx hat das Fundament der Wissenschaft gelegt, die die Sozialisten nach allen Richtungen weiterentwickeln müssen, wenn sie nicht hinter dem Leben zurückbleiben wollen.
Lenin, Unser Programm, 1899
Mein ganzes politisches Leben lang haben Akademiker und Akademikerinnen, Politiker und Experten, darunter verschiedene Linke und Radikale, das Ende oder den Tod des Marxismus verkündet oder die Notwendigkeit, über ihn »hinauszugehen«. Sie haben auf unterschiedlichste Weise behauptet, dass der Kapitalismus seine fundamentalen Widersprüche gelöst hätte, dass Klassen im Verschwinden begriffen seien, dass das Proletariat absterbe (André Gorz), dass der Zusammenbruch des Stalinismus das Ende des Sozialismus bedeute, dass der Kapitalismus sich spontan in etwas Anderes entwickele (Postkapitalismus?), dass alle »großen Erzählungen« der Geschichte aufgegeben werden sollten (Lyotard und Postmodernismus) oder das »Ende der Geschichte« proklamiert (Fukuyama). Und so weiter und so fort.
Hat der Marxismus eine Zukunft?
Ich lehne all das ab und stimme der Aussage von Sartre am Anfang dieses Artikels zu. So lange, wie es Klassengegensätze und Ausbeutung, Entfremdung, Unterdrückung und Krisen gibt – und diese nehmen zu, statt nachzulassen – wird es Widerstand geben, und die, die Widerstand leisten, werden zum Marxismus als Leitfaden für ihre Kämpfe zurückkehren. Das liegt daran, dass der Marxismus keine ernsthafte Konkurrenz hat, wenn es um eine schlüssige Kritik des Systems geht, eine Strategie, es zu bezwingen und eine Vision einer freien, egalitären Zukunft. Deswegen bin ich mir sicher, dass der Marxismus eine Zukunft hat.
Allerdings halte ich mich ebenso an die Aussage von Lenin. Marx legte das Fundament, aber der Marxismus muss Schritt halten und weiterentwickelt werden. Natürlich haben Marxisten das nach Marx getan und es gibt ein Vermächtnis, auf dem aufgebaut werden kann – die Arbeit von Engels, Plekhanov, Lenin, Luxemburg, Bukharin, Trotzki, Connolly, Lukács, Gramsci, Cliff, Harman und zahlreichen weniger bekannten Personen – aber der Kapitalismus hört nie auf, sich zu verändern: Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne ständig die Produktionsmittel zu revolutionieren und mit ihnen die Produktionsverhältnisse und mit diesen die gesellschaftlichen Verhältnisse im Ganzen. Also werden ständig neue Herausforderungen aufgeworfen. Ich werde mich mit dreien beschäftigen:
- Die veränderte und sich verändernde Zusammensetzung des Proletariats
- Die arbeitende Klasse und Identitätspolitik – der Kampf gegen Unterdrückung
- Die Herausforderung des Klimawandels und des Anthropozäns.
Bevor ich direkt in die Diskussion einsteige, sind einige Einschränkungen vonnöten. Niemand von uns weiß oder kann wissen, welche Probleme und Herausforderungen die Zukunft für uns bereithält. Ich habe mich daher auf Fragen beschränkt, die in Ansätzen bereits in und von der Gegenwart gestellt werden, aber für die mehr Bearbeitung nötig ist. Meine Liste hat nicht den Anspruch, allumfassend oder eingrenzend zu sein, sie soll lediglich Fragen aufwerfen, zu denen ich etwas Bestimmtes zu sagen habe, ohne irgendeine Art von endgültiger Antwort parat zu haben: Das ist der Punkt – sie werden als intellektuelle Herausforderung aufgeworfen, die weitere Bearbeitung von, so hoffe ich, vielen Händen erfordert.
Gibt es noch ein Proletariat?
Die Frage der Zusammensetzung des Proletariats ist heute offensichtlich von enormer Bedeutung, besonders deswegen, weil sie sich in den letzten Jahrzehnten so dramatisch verändert hat. In einer Fußnote auf der ersten Seite des Kommunistischen Manifests beschreibt Engels das Proletariat als »die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt«. Diese Definition benötigte immer eine gewisse Einschränkung und Erweiterung. Zum Beispiel, um diejenigen auszuschließen, die scheinbar vom Verkauf ihrer Arbeit leben, aber in Wirklichkeit angestellte Geschäftsführerinnen oder Geschäftsführer sind und über dem Wert ihrer eigenen Arbeit bezahlt werden, damit sie die Arbeit anderer kontrollieren. Auf der anderen Seite müssen diejenigen Familienmitglieder zur Arbeiterklasse gezählt werden, die von dem Einkommen eines Lohnabhängigen abhängig sind, sowie Arbeitslose, die Teil der industrielle Reservearmee sind.
Aber mit diesen Ergänzungen glaube ich, dass Engels Definition heute noch Bestand hat, vorausgesetzt, wir ordnen sie in der marxistischen Theorie von Ausbeutung und Klassenkampf ein. Es ist die Ausbeutung (die Schöpfung von Mehrwert), die die Feindschaft zwischen Proletariat und Bourgeoisie schürt und die Lohnabhängigen zu einer eigenständigen Klasse formiert. Während die Arbeiterklasse zur Zeit der Niederschrift des Manifests im Jahr 1848 nur in Nordwesteuropa (und in Anfängen in Amerika) existierte und etwa 20 Millionen zählte, sind es heute ungefähr 1,5 Milliarden Arbeiterinnen und Arbeiter auf jedem Kontinent und in fast jedem Land auf der Welt.
Aber auch in den alten »fortgeschrittenen« Industrienationen wie England, Frankreich oder den USA bildet die Arbeiterklasse nach wie vor eine bedeutende Mehrheit der Erwerbs- und Gesamtbevölkerung. Trotzdem ist die Frage, die ich hier anreißen möchte und von der ich glaube, dass sie der Nachforschung von Marxistinnen und Marxisten bedarf, nicht die zahlenmäßige Größe des Proletariats, sondern ihr Charakter und ihre Struktur als militante Streitkraft und potenzielles revolutionäres Subjekt.
Die Unterscheidung ist wichtig. Im viktorianischen England war die größte Gruppe von beschäftigten Lohnabhängigen die der Hausangestellten, aber als es zum Kampf kam, zum Beispiel während des Generalstreiks von 1842, waren es Bergarbeiter, Weberinnen, Spinner, Töpferinnen, Mühlenarbeiter und Fabrikarbeiterinnen, die vorangingen und die Richtung bestimmten; zwischen 1888 und ’89 waren es die »Streichholzmädchen«, die Docker und die Beschäftigen in der Gasindustrie. Zwischen den Jahren 1917 und 1921, der größten, revolutionärsten Welle des proletarischen Kampfes in der Geschichte, waren es die Metallarbeiter, die, von Petrograd bis Berlin, von Turin bis Sheffield »die Vorhut« bildeten, zusammen mit den Bergarbeitern, Hafen- und Bahnarbeitern.
Marxismus und Klasse heute
Wo stehen wir also heute? Eine Sache steht außer Zweifel: In den entwickelten Industrieländern sind heute andere Teile der Klasse »die Vorhut«. In England zum Beispiel sind die Bergarbeiter, Hafenarbeiter oder die Automobilarbeiter nicht mehr der fortschrittlichste Teil der Arbeiterklasse, aus dem einfachen Grund, dass dieser Teil der Klasse kaum noch existiert. Schauen wir, welche Gruppe von Lohnabhängigen in den letzten Jahren an vorderster Front stand.
In den USA waren die größten und militantesten Streiks dieses Jahres die gewaltigen Streiks der Lehrerinnen und Lehrer. Andere auffällige Streiks waren die von McDonald’s Arbeiterinnen gegen sexuelle Belästigung und die Streiks von Gefangenen gegen unbezahlte Arbeit. In Indien trat 2016 eine geschätzte Anzahl von 160 bis 180 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst in einen 24-stündigen Generalstreik gegen Privatisierung und die Wirtschaftspolitik der Regierung. Er wurde als der größte Streik der Geschichte bejubelt.
In Spanien streikten am Internationalen Frauentag 6 Millionen gegen Geschlechterungleichheit und -diskriminierung. All das ist immer noch weit davon entfernt, wie der industrielle Kampf 1889, 1913, 1919 oder 1972 aussah. Natürlich kann entgegengesetzt werden, dass der Beweis, den ich hier angebracht habe, schlicht impressionistisch ist. Das ist wahr, aber das ist auch genau der Punkt, den ich verständlich machen möchte. Wir brauchen eine marxistische Analyse dafür, wer das moderne Proletariat ist, wo es sich befindet und welche seine Hauptbereiche hinsichtlich potenzieller Macht und Militanz sind.
Diese Analyse muss zugleich global und national sein. Wir brauchen die internationale Gesamtschau, aber das spezifisch nationale Element darf auch nicht fehlen. Sozialistinnen und Sozialisten operieren zum Großteil noch auf nationalem Gebiet. Dass Bergarbeiter nicht mehr ein bedeutender Faktor im Klassenkampf in England oder Irland sind, gilt nicht automatisch für Südafrika oder China. Es gab eine lange theoretische Debatte innerhalb des Marxismus, ob Büroangestellte Proletarier sind oder dem Kleinbürgertum bzw. der Mittelklasse angehören. Das muss gelöst werden. In der Praxis solidarisieren sich fast alle Sozialisten und bewussten Gewerkschafterinnen mit Dozenten und Juniorprofessoren, aber die Ansicht, dass solche Leute der Mittelklasse angehören, bleibt bestehen und schädigt der Einheit der Arbeiterklasse und dem Verständnis seiner potenziellen Macht. Sogar unter denjenigen, die die Zugehörigkeit eines Lehrers oder einer Dozentin zur Arbeiterklasse »in der Theorie« akzeptieren, überlebt das überholte kulturelle Stereotyp häufig und mit ihm die Auffassung, dass ihre Rolle im Kampf zweitrangig sei.
Der Charakter der Klasse
Es gibt drei wichtige Gesichtspunkte, die für das »Erkunden« und »Mapping« des Territoriums der zeitgenössischen Arbeiterklasse genauer analysiert werden müssen. Der erste ist der neu entwickelte globale Charakter der Klasse. Sozialistinnen und Sozialisten haben die internationale Arbeiterklasse seit dem Kommunistischen Manifest beschworen, aber der Wandel der letzten paar Jahrzehnte in dieser Hinsicht ist qualitativ.
In den zwanzig Jahren von 1993 bis 2013 ist die Anzahl von Lohnabhängigen um 589.814.000 (erstaunliche 60 Prozent der Zahlen von 1993) angewachsen. Durchschnittlich 29 Millionen Menschen schließen sich jährlich der lohnabhängigen Arbeiterschaft an. Darüber hinaus ist das Wachstum der Lohnarbeit auf die Entwicklungsländer konzentriert. In den entwickelten Industriestaaten stieg die Anzahl der Lohnabhängigen allmählich von 345 Millionen (1993) auf 410 Millionen (2013). In Entwicklungsländern war das Wachstum explosiv, von 640 Millionen (1993) auf 1.165 Millionen (2013). Die lohnabhängige Arbeiterschaft der Entwicklungsländer ist heute größer als die weltweite lohnabhängige Arbeiterschaft vor zwanzig Jahren! 2013 gab es ungefähr 445 Millionen Lohnabhängige in Ostasien, d.h. mehr als in allen entwickelten Industriestaaten zusammen.
Die größte Arbeiterklasse der Welt ist natürlich die chinesische, gefolgt von der indischen, der US-amerikanischen, der indonesischen und der brasilianischen. Heute haben selbst Länder, die so verarmt sind wie Pakistan und Bangladesch, eine größere lohnabhängige Arbeiterschaft als England oder Frankreich. Zwischen dem 8. und 9. Januar 2019 traten in Indien zwischen 150 und 200 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter in einen Streik, von dem behauptet wurde, dass er der größte Streik der Geschichte war. Die Idee, dass eine Weltanschauung, die ihr Hauptaugenmerk auf die urbane Arbeiterklasse legt, in irgendeiner Weise eurozentrisch sei, ist komplett überholt. Die wachsende Internationalisierung der Arbeiterklasse gilt nicht nur staatsübergreifend, sondern auch staatsintern. Kim Moody weist in seinem Buch »On New Terrain« auf die »wachsende Diversität« der amerikanischen Arbeiterklasse hin. Schwarze, Asiaten und Lateinamerikaner machten 2010 über einen Drittel der US-amerikanischen Bevölkerung aus, verglichen mit 20 Prozent im Jahr 1980.
Diese kulturellen und ethnischen Gruppen machen mittlerweile einen großen und wachsenden Anteil der Arbeiterklasse aus. Schwarze, Lateinamerikaner und Asiaten, einschließlich der Immigranten, machten 1980 ungefähr 15 bis 16 Prozent der Beschäftigen in der Produktion, im Transportwesen sowie im Dienstleistungssektor aus. Mittlerweile sind es an die 40 Prozent in jeder dieser breitgefächerten Beschäftigungsgruppen. Diese Gruppen sind also in viel höherem Maße über verschiedene Berufsgruppen verteilt als in der Vergangenheit.
Die wachsende Diversität gilt heutzutage, in größerem oder kleinerem Ausmaß, für die Zusammensetzung der Arbeiterklasse zahlreicher Länder – sogar Taiwan hat mittlerweile 700.000 migrantische Beschäftige. Die jeweiligen Details und ihre Konsequenzen müssen analysiert werden. Neben dieser Diversität gibt es eine wachsende Feminisierung der Arbeiterklasse. Frauen machen mittlerweile bis zu 40 Prozent der Lohnabhängigen weltweit aus. In vielen Ländern – und nicht immer in den Ländern, die wir vielleicht erwarten würden – ist der Prozentsatz viel höher. Es ist einfach, diese Zahlen zu erhalten und sie aufzulisten, aber was wirklich zählt, ist, sie in eine Analyse des Klassenkampfes einzubetten – in ihren wirtschaftlichen, ideologischen und politischen Dimensionen. Eins ist klar: Das alte Bild »des Proletariers« als weißer, männlicher Industriearbeiter, das so tief in unserem kollektiven Bewusstsein verankert ist, muss begraben werden.
Die Arbeiterklasse, Unterdrückung und Identitätspolitik
Ich glaube, es muss noch viel zu der Frage der Beziehung zwischen der Arbeiterklasse und dem, was häufig als »Identitätspolitik« bezeichnet wird, gearbeitet werden. Seitdem Lenins »Was tun?« geschrieben hat, wussten Revolutionärinnen und Revolutionäre, dass sie »Beschützer der Menschen« sein sollten, die gegen alle Formen von Unterdrückung kämpfen. Darüber hinaus müssen sie daran arbeiten, die Arbeiterklasse in diesem Sinne zum Zweck ihres eigenen politischen Bewusstseins zu schulen. Das Bewusstsein der Arbeiterklasse kann kein wirkliches politisches Bewusstsein sein, bevor die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht geschult worden sind, ausnahmslos auf alle Formen von Tyrannei, Unterdrückung, Gewalt und Missbrauch zu reagieren, unabhängig davon, welche Klasse betroffen ist.
Dieses Prinzip bleibt heute vollkommen gültig, aber es gab, so würde ich behaupten, auch eine Veränderung in der Umsetzung als Konsequenz der oben besprochenen veränderten Zusammensetzung der Arbeiterklasse. Auch das muss untersucht werden. Heute umfassen wegen der im ersten Teil erwähnten Veränderungen viele, wahrscheinlich die meisten, der wichtigen wirtschaftlichen Streiks Arbeitskräfte, die zu einem bedeutenden Anteil oder sogar in der Mehrheit weiblich sind. Die Streiks im Bildungs- oder im Gesundheitswesen, im Reinigungssektor oder im Einzelhandel sind alle Beispiele dafür. Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass diese Streiks in den meisten westlichen Staaten und insbesondere in England und den USA extrem multikulturell sind.
Der große internationale Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung von Homosexualität und (wenn auch in geringerem Ausmaß) von »Gender Fluidity« hat zur Folge, dass jeder große Streik eine bedeutende Anzahl von Menschen einschließen wird, die offen lesbisch, schwul, bi-, trans- oder intersexuell sind (LGBT+), auch auf Streikposten, in Streikkomitees, etc. Das hat somit zur Folge, dass der Kampf gegen Sexismus, Rassismus, Homophobie und Transphobie nicht nur ausschlaggebend für die Erweiterung des politischen Bewusstseins der Arbeiterklasse ist, sondern auch für deren grundsätzliche Einheit im ökonomischen Kampf, sogar innerhalb der meisten Arbeitsplätze und Industrien.
Wie dies mit sozialen und politischen Bewegungen zusammenhängt, die hauptsächlich Straßenproteste sind, ist komplex und benötigt Recherche. Die Wichtigkeit solcher »gesellschaftlicher Massenbewegungen« nimmt jedenfalls zu. Beispiele hierfür sind die Bewegungen in Irland gegen das Kopfsteuergesetz oder gegen die Wassergebühren, sowie die aktuelle Bewegung der französischen Gelbwesten, aber auch die ägyptische Revolution (in ihrer Anfangsphase) und die syrische Revolution, die Indignados in Spanien und die Occupy Bewegungen in den USA und Europa. Wichtig ist, dass Marxistinnen und Marxisten in jedem Land sich damit beschäftigen und erfassen sollten, wie diese tiefgreifenden sozialen Veränderungen den Klassenkampf und den Kampf gegen Unterdrückung beeinflussen. Die Verbindung zwischen diesen Formen des Kampfes, die, schaut man sich ihre Erfolge an, vermutlich weitergehen und zunehmen werden, und die sich verändernde Zusammensetzung der Arbeiterklasse ist offensichtlich.
Ein weiterer Effekt dieser Veränderungen besteht darin, dass das, was häufig als »Identitätspolitik« bezeichnet wird, zunimmt. Sie steht keinesfalls in einem notwendigen Gegensatz zu Klassenpolitik und ist auch kein Separatismus in der Form, wie er Ende der Sechziger und Siebziger vorherrschte. Separatismus war teilweise eine Reaktion auf den ungebrochenen Sexismus, der in den Sechzigern große Teile der Linken durchzog, besonders die US-amerikanische Linke. Doch heute hat sich die Linke gebessert, auch in Verbindung mit den oben beschriebenen Veränderungen. Ich denke, der Rückzug des Separatismus ist ein Ergebnis der Einsicht, dass der Kampf gegen Unterdrückung mittlerweile überwiegend eine interne Frage der Arbeiterklasse ist.
Separatismus war immer vorwiegend eine Perspektive der Mittelklasse, ein Mittel, um sich eine soziale/politische Perspektive innerhalb des Kapitalismus zu gestalten (selbst wenn dies ein Nationalstaat sein würde wie in einigen Varianten des afroamerikanischen Nationalismus und des frühen Zionismus), statt den Kapitalismus als solchen herauszufordern. Oder er war schlicht ein Karrieresprungbrett, besonders im Mediengeschäft und der akademischen Welt. Separatismus ist offenkundig fehl am Platz in einer Situation, in der es einen kollektiven Kampf gegen einen gemeinsamen Feind gibt, d.h. wenn es um das Gewinnen einer echten Schlacht geht.
Es geht nicht nur um den Arbeitsplatz und ökonomische Kämpfe. Es galt beispielsweise für die Kampagne für die Abschaffung des Abtreibungsverbots in Irland, bei der allein schon der Gedanke, Männer hiervon auszuschließen (von der Referendumgsabstimmung, vom Werben oder Demonstrieren), von praktisch allen Beteiligten als Schuss ins Knie gesehen wurde. Das heißt nicht, dass Probleme mit der »Identitätspolitik« verschwunden sind. Sie kann auf eine eigennützige, spaltende und sektiererische Art benutzt werden und wird es teilweise.
Nichtsdestotrotz sind viele der Anliegen der »Identitätspolitik« im Kontext des Kampfs gegen Unterdrückung absolut gerechtfertigt, z. B. Geschlechter- und Ethnienparität bei Gremiumssitzungen und Redebeiträgen auf Kundgebungen, sofern sie zweckmäßig umgesetzt werden. Darüber hinaus ist der allgemeine Gebrauch von »neuen« Begriffen wie »Privileg« und »Intersektionalität« weitgehend in einem positiven Licht zu sehen. Für Marxistinnen und Marxisten ist die Hauptfrage hier nicht, die Schwächen in den meistens üblicherweise akademischen Theorien aufzuzeigen, die »hinter« dem Begriff stehen oder mit ihm assoziiert werden, sondern sich anzuschauen, was er eigentlich für die Menschen bedeutet, die ihn gebrauchen.
Bei den »Privilegtheorien« sind also nicht die Mängel in der Theorie von Peggy McIntoshs »White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack« der Hauptpunkt, sondern schlicht der Umstand, dass Menschen , wenn sie sich auf weiße oder männliche Privilegien beziehen, einen offensichtlichen Fakt benennen – dass es in manchen Situationen Vorteile bringt, weiß oder männlich oder beides zu sein, und dass die Empfänger dieser Vorteile sich dessen nicht vollständig bewusst sind.
Ähnlich verhält es sich mit »Intersektionalität«. Unabhänig von Kimberlé Williams Crenshaws Stärken oder Schwächen wird dieser Begriff genutzt, um für Solidarität zwischen den Unterdrückten gegen ökonomistischen Partikularismus und Separatismus zu argumentieren – Dinge, die Marxistinnen und Marxisten vollkommen befürworten sollten. Gleichzeitig müssen wir uns bewusst sein, dass die Kritik an Identitätspolitik leicht genutzt werden kann, um reaktionäre Schlüsse zu ziehen oder zu stärken.
Zum Abschluss dieses Teils bleibt festzuhalten, dass alle Tendenzen, die hier besprochen worden sind – die sich verändernde Zusammensetzung der Arbeiterklasse und der daraus resultierende Wandel für den Charakter des Kampfes gegen Unterdrückung – sich wahrscheinlich fortsetzen und weiterentwickeln werden. Es besteht die Gefahr, dass der Marxismus noch nicht mit dem Zahn der Zeit Schritt hält, um diese Entwicklungen abzuzeichnen und auf sie zu antworten.
Diese Gefahr wird umso problematischer, wenn Marxistinnen und Marxisten aufgrund von Bedenken, dass die Fundamente ihrer Tradition verteidigt werden müssten, auf eine konservative Art auf die Herausforderungen antworten, die eine sich verändernde Welt stellt. Aber, vorausgesetzt diese Reaktion wird abgewendet, befindet sich der Marxismus in einer sehr guten Ausgangslage, um aufzusteigen, weil der Marxismus dazu fähig ist, die Verbindungen zwischen verschiedenen sozialen, ökonomischen und politischen Phänomenen auf eine Art und Weise zu erfassen, wie es keine Wissenschaft oder alternative theoretische Perspektive leisten kann.
Sich dem Klimawandel entgegenstellen
Die dritte große Frage, auf die der Marxismus in der unmittelbaren Zukunft eine Antwort finden muss, ist selbstverständlich der Klimawandel. Angesichts der Tatsache, dass an solche katastrophalen Klimaveränderungen zur Zeit seiner Begründung nicht zu denken war, hat der Marxismus diese neue Herausforderung angenommen. Der Ehrenplatz gebührt natürlich John Bellamy Foster für sein wegweisendes Werk »Marx’s Ecology« (Lies hier den Artikel »Marx als Ökologe«), das das lebhafte Interesse des historischen Materialismus an der Umwelt nachgewiesen hat, und für seine auf »Das Kapital« beruhende Theorie einer »metabolischen Kluft« zwischen Kapitalismus und Natur. Aber auch andere Marxistinnen und Marxisten haben, eine sozialistische Antwort auf diese existenzielle Krise für die Menschheit und die Spezies der Erde beigetragen. Dank der Arbeit von John Bellamy Foster, Paul Burkett, Andreas Malm, Ian Angus, Jonathan Neale, Kohei Saito, Martin Empson und anderen wurde deutlich bewiesen:
- dass der treibende Faktor für den Klimawandel und die allgemeine ökologische Krise der Kapitalismus ist, nicht die menschliche Natur oder gar »die Industriegesellschaft« als solche;
- dass die Menschheit bereits über das Wissen und die Technologie verfügt, um den Klimawandel aufzuhalten (durch einen umfassenden Wechsel hin zu erneuerbaren Energien, öffentlichen Verkehrsmitteln, nachhaltigem Bauen und einer fleischlosen Landwirtschaft, kombiniert mit groß angelegter Aufforstung);
- dass die Unfähigkeit, den Klimawandel anzugehen, nicht diesem oder jenem oberflächlichen Aspekt des Systems oder gar irgendeiner tiefsitzenden ideologischen Denkweise (einem »Glauben an Wachstum« oder »einer Sucht nach Konsum«) entspringt, sondern der grundlegenden Dynamik des Kapitalismus: Dem ihm innewohnenden Drang zur Kapitalakkumulation und Expansion, angetrieben durch seinen unerbittlichen Kampf um Profit.
Darüber hinaus haben diese Analysen einen starken Grundstein für Propaganda und Agitation von Sozialisten gelegt und sie wird es weiterhin tun. Sie weist auf die notwendige Kritik an der Idee hin, dass das Klimachaos durch die Umgestaltung des Verhaltens des Einzelnen oder durch alternative Modelle des Konsums gelöst werden kann. Die Titanic treibt weiterhin auf den Eisberg zu. Wir können sagen »Wir brauchen eine Revolution!«, und tatsächlich tun wir das und wir sollten es auch tun. Aber was, wenn die internationale Revolution trotz unserer größten Bemühungen in den nächsten 12 Jahren nicht erfolgt?
Wir befänden uns dann mitten im Szenario des katastrophalen Klimawandels. Was das bedeutet, muss klargestellt werden. Es bedeutet nicht, dass die Welt in 12 Jahren enden wird; es bedeutet nicht, dass die Menschheit ausgelöscht wird; es bedeutet nicht, dass uns allen das Wasser bis zu den Knien stehen wird; und es bedeutet (noch) nicht das, was Marx »den gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen« nannte. Es bedeutet die Intensivierung von extremen Wetterereignissen im bisher nie gekannten Ausmaß – mehr Düren, mehr Brände, mehr Stürme, mehr Überschwemmungen, mehr vernichtete Ernten und mehr Flüchtlinge. Es bedeutet daher die extreme Intensivierung von Klassenkämpfen. Im Angesicht der Katastrophe werden sich die Reichen nicht mit den Armen oder die Kapitalisten mit den Arbeitenden zusammentun – sie werden sich und ihre Kumparsen retten (im Sinne der Klasse, nicht im nationalen Sinne) und den Rest von uns verhungern, ertrinken oder durch die Straßen irren lassen. Und wie immer wird es Widerstand geben. Das ist die Herausforderung für den Marxismus. Wir Marxistinnen und Marxisten werden darüber nachdenken müssen, wie wir auf diesen neuen, und noch nie dagewesenen Zustand der Welt reagieren wollen.
Welchen Weg nach vorne werden wir in einer Welt formulieren, die sich im Griff des gewaltigen Klimawandels befindet? Die Frage berührt zwei Ebenen, die sich unterscheiden, aber natürlich miteinander verbunden sind. Die erste ist die Ebene der unmittelbaren Strategie und Taktik, der Forderungen, Parolen und Mobilisierung angesichts der durch den Klimawandel verursachten Katastrophen. Die zweite Ebene liegt im Aufzeichnen eines Wegs raus aus oder eines Umgangs mit einer Situation, in der gewaltige und womöglich, fortschreitende Klimaveränderungen bereits losgetreten wurden. Ich meine hiermit mehr als bloß die Forderung nach Sozialismus, ich meine den Versuch, greifbar zu machen, was der Sozialismus in dieser Situation bedeuten würde.
Wir sind gegenwärtig nicht dafür gewappnet, und das ist ein Aufruf zu individueller und kollektiver Arbeit. Natürlich bin ich nicht dazu in der Lage, hier meine eigene Fragen zu beantworten, aber ich möchte ein wenig mehr zu ihnen sagen. Wenn es darum geht, auf »Natur«-Katastrophen zu reagieren, denke ich, dass es vorab gerechtfertigt ist, zu sagen, dass die Linke in der Vergangenheit zwar im Allgemeinen nach dem Ereignis oft auf der Ebene der Propaganda reagiert hat, aber nicht viel im Sinne einer akuten Intervention unternommen hat, als sich die Katastrophe erst abzeichnete. »Katrina« in New Orleans wäre ein Beispiel dafür und es sieht so aus, als bestätigte sich dasselbe für die aktuellen Brände in Kalifornien. Aber was, wenn die Hurricanes und die Flächenbrände innerhalb kürzester Zeit wiederkehren und anhalten? Dann müssten wir sowohl mit unmittelbaren als auch strategischen Forderungen reagieren.
Gedanken darüber müssen sowohl eine globale als auch eine nationale Aufgabe sein. Wir werden gegenseitig von unseren internationalen Erfahrungen lernen müssen und zugleich verstehen, dass sich die Auswirkungen des Klimawandels – obwohl seinem Wesen nach ein transnationales Phänomen – von einem Ort zum anderen enorm unterscheiden werden, vom Sudan zu Bangladesch, vom Golf von Mexiko zu Australien.
Die Zukunft des Marxismus
Wenn wir uns die Welt heute aus theoretischer Perspektive und nach theoretischen Kategorien als Erbe der Vergangenheit anschauen und nicht als etwas, das entwickelt worden ist, um neue Verhältnisse und neue Formen von Kämpfen zu berücksichtigen, fallen die Schlüsse, die wir daraus ziehen, wohl höchst pessimistisch aus: Der Stand der Klassenkämpfe ist niedrig, die extreme Rechte befindet sich auf dem Vormarsch, die revolutionäre Linke ist sehr schwach und alles, was wir tun können, ist durchzuhalten, bis die Dinge sich verbessern.
Wie der italienische Marxist Antonio Gramsci, ein Zitat von Karl Marx aufgreifend, schreibt: »Ein zu lange geführter Widerstand in einem belagerten Lager ist an sich demoralisierend.« Außerdem haben wir nicht unbegrenzt, ja, nicht einmal besonders viel Zeit, bevor die Einsätze für den Kampf um ein Vielfaches höher werden. Wenn wir jedoch verstehen, dass die internationale Arbeiterklasse viel stärker als je zuvor ist und weiterhin neue Formen des Kampfs entwickelt und wir unseren Marxismus nicht nur dafür benutzen, um alte Wahrheiten zu verteidigen, sondern um den neuen Gefahren ins Auge zu sehen, allen voran den Herausforderungen des Anthropozäns, dann wird es klar, dass es riesige Möglichkeiten für Widerstand und Veränderung gibt und dass es sowohl jetzt, als auch in nächster Zeit, Möglichkeiten für Durchbrüche der Linken gibt. Die Zukunft des Marxismus ist es, diesen Herausforderungen gerecht zu werden.
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