Die Gleichstellung von Frauen ist als Thema im Mainstream angekommen. Rhonda Koch erklärt, warum sich Aktivistinnen und Aktivisten auch theoretisch mit der Frauenunterdrückung beschäftigen sollten und räumt mit dem Vorurteil auf, dass die Frage für den Marxismus eine Nebensache sei
Rhonda Koch ist Redakteurin von theorie21.
Frauen haben heute mehr Möglichkeiten, ihr Leben selbst zu bestimmen als je zuvor. Es gibt den rechtlichen Anspruch auf gleichen Lohn, Gesetze gegen sexuelle Belästigung und eine spezielle Förderung in Bereichen, in den Frauen nach wie vor unterrepräsentiert oder benachteiligt sind. Frauen können heute Rechtsanwältin, Chefärztin oder Kanzlerin werden…
Nun ja. Es wird zwar die frohe Botschaft verkündet, dass Frauen alle Möglichkeiten offen stehen. Doch hindern strukturelle Formen der Diskriminierung sie daran, diese Möglichkeiten wahrzunehmen. Trotz aller Fortschritte: Noch immer arbeitet die Mehrheit der Frauen für weniger Lohn, noch immer bekommen Frauen deutlich weniger Rente, noch immer werden Frauen sexuell belästigt und als Sexobjekte wahrgenommen, noch immer müssen Frauen in Frauenhäuser fliehen und noch immer stellt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie einen Drahtseilakt dar.
Aber vieles, das noch vor ein, zwei Generationen unvorstellbar war, ist heute selbstverständlich. Ich denke da an die steigende Zahl von Studentinnen, die Gleichstellung in der Ehe und die körperliche Selbstbestimmung zum Beispiel durch Verhütungsmittel.
Das stimmt, aber hauptsächlich sind es immer noch Frauen, die für Familie, Kinder und Angehörige sorgen. Die Reproduktionsarbeit lastet zentnerschwer auf ihren Schultern. Dass sich manche verstaubte Stereotypen verändert haben, ist gut. Aber die neuen Frauenbilder sind leider nicht besser. Eine Frau heute soll Super-Mutter, Super-Karrieristin und Super-sexy-Partnerin auf einmal sein. Dieses Rollenbild erzeugt die Illusion von Chancengleichheit und setzt Frauen unter Druck: Wer sich anstrengt, kann alles erreichen. Außerdem schafft das neue Bild allein nicht die realen Zwänge ab, sich für einen traditionellen Frauenberuf zu entscheiden, und es verändert auch nicht die Situation von Frauen in prekären Arbeitsverhältnissen.
In der neuen Ausgabe von theorie21 wird es auch einen Artikel zur veränderten Situation von Frauen heute geben. Was sind eure Befunde?
Natürlich hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert. Im Durchschnitt sind heute fast genauso viele Frauen ins Arbeitsleben eingebunden wie Männer. Die Erwerbstätigkeitsquote von Frauen liegt in Deutschland bei 67 Prozent. Doch wenn wir genauer hinsehen, gibt es eine klare geschlechterspezifische Aufteilung zwischen Teil- und Vollzeit. Frauen arbeiten viel häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Die Folge sind ein höheres Armutsrisiko und eine schlechtere Absicherung. Ungleichheiten im Erwerbsverlauf treten bei der Berufswahl, beim Berufseinstieg, während der Berufstätigkeit und beim Übergang von der Erwerbs- in die Nacherwerbsphase auf.
Was sind das für Ungleichheiten?
Erschreckend bleibt der Einkommensunterschied. Noch immer liegt die Lohndifferenz in Deutschland bei 22 Prozent. Aber bereits vor dem Eintritt ins Arbeitsleben wirken strukturelle Diskriminierungsmechanismen. Frauen müssen häufiger als Männer ihr Studium wegen ihrer sozialen oder familiären Situation abbrechen. Die traditionellen Rollenbilder befördern zudem eine geschlechtsspezifische Ausbildungs- und Berufswahl. Deshalb werden Frauen nicht nur dazu gedrängt, schlecht bezahlte Berufe im Sozialbereich zu wählen, sondern schließen oft von vornherein die Möglichkeit aus, in einer klassischen Männerdomäne zu arbeiten. Im Arbeitsleben stoßen sie früher oder später an die »gläserne Decke«, oder müssen für den beruflichen Aufstieg mehr leisten als Männer. Durchsetzungskraft, Führungsstärke und die Fähigkeit, mit großem Druck umgehen zu können, sind Eigenschaften, die für den beruflichen Aufstieg wichtig, aber männlich konnotiert sind. Eine Frau muss deshalb nicht nur die üblichen Hürden überwinden, sondern sich zudem gegen vorherrschende Rollenbilder durchsetzen. Es wird immer noch erwartet, dass Frauen und Männer unterschiedlichen Lebensentwürfen folgen. Frauen erfahren Diskriminierungen, sobald sie vom Standardentwurf einer guten, sozialen Frau und Mutter abweichen.
Woran liegt das?
Gesellschaftliche Produktion und Reproduktion bedingen sich gegenseitig. Reproduktion ist elementarer Bestandteil der Produktion. Das bedeutet im Kapitalismus, dass die Ware Arbeitskraft durch Geburt, Erziehung, Pflege und Versorgung ständig neu geschaffen und erhalten werden muss. Die herrschende Klasse ist auf die kontinuierliche Ersetzung und Erneuerung der Arbeitskräfte angewiesen. Staat und Kapital verfolgen das Ziel, die Reproduktion möglichst kostengünstig zu sichern. Die Reproduktionsarbeit in die Familie zu verlagern, ist für sie eine billige Lösung – Kosten und Aufwand tragen die einzelnen und nicht die Gesellschaft. Das müsste nicht so sein. Es ist genug Reichtum vorhanden, um zum Beispiel Kinderbetreuung oder die Pflege von Angehörigen wesentlich umfangreicher gesellschaftlich zu organisieren und zu bezahlen als es momentan der Fall ist. Doch dem stehen die Interessen des Kapitals entgegen – die Unternehmer lassen die Frauen lieber unbezahlt arbeiten, als ihre Profite für öffentliche Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Es dient also der Kapitalverwertung, traditionelle Rollenbilder beizubehalten. Nicht ohne Grund findet man die klassischen »Frauenberufe« nach wie vor in der schlecht bezahlten Reproduktionsarbeit: Kinderbetreuung, Gesundheitssektor, Altenpflege. So werden Frauen entweder an den Herd gebunden oder arbeiten zusätzlich zur Hausarbeit in Niedriglohnsektoren oder mit Teilzeitverträgen. Damit ist dann nicht nur für die Reproduktion gesorgt, sondern es gibt auch billige Arbeitskräfte zur direkten Aneignung von Mehrwert.
Du argumentierst aus marxistischer Perspektive. Aber einige Linke beziehen sich auch auf Marx und erklären immer noch, dass Frauenunterdrückung ein »Nebenwiderspruch« sei und daher die Forderungen nach Gleichberechtigung ins Leere zielen.
Die Vorstellung vom »Nebenwiderspruch« ist wirklich Quatsch und hat rein gar nichts mit der marxistischen Tradition zu tun, wie ich sie verstehe. Marx ging davon aus, dass die ökonomische Ausbeutung die Ursache für verschiedene Formen von Unterdrückung ist. Gleichzeitig trägt die Unterdrückung dazu bei, das ausbeuterische System aufrechtzuerhalten. Frauenunterdrückung gab es auch schon vor dem Kapitalismus. Sie ist jedoch zur notwendigen Voraussetzung für das Funktionieren kapitalistischer Gesellschaften geworden. Dieses Thema versuchen wir in der neuen Ausgabe von theorie21 genauer zu beleuchten. Dabei beziehen wir uns auf klassische Texte von Marx und Engels selbst, von August Bebel, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin. Aber wir beziehen auch neuere Ansätze von Theoretikerinnen wie Lise Vogel, Silvia Federici, Frigga Haug oder Gabriele Winker mit ein. Diese Traditionen werden wir darstellen, kritisieren und hoffentlich weiterentwickeln.
In der letzten Zeit gewinnt die Frauenbewegung wieder an Dynamik. Warum gerade jetzt?
Heute muss Frauenunterdrückung auch im Kontext des Neoliberalismus und insbesondere der Politik zur Bewältigung der Wirtschaftskrise betrachten werden. Überall werden Staaten kaputt gespart. Das trifft sowohl Länder wie Spanien oder Griechenland, die im Rahmen der Austeritätspolitik zur Verarmung der eigenen Bevölkerung gezwungen werden, als auch Deutschland, das von der Krise profitieren konnte. Mit Hilfe der Schreckgespenster Finanz-, Banken- und Schuldenkrise haben die Regierungen drastische Sparmaßnahmen durchgesetzt. Insbesondere im reproduktiven Bereich wurde und wird gespart: Die Reduzierung von Staatsausgaben führt zu Lohnsenkungen, Privatisierung und ausbeuterischer Migrationspolitik. Von all diesen Maßnahmen sind insbesondere die Frauen betroffen. Zum Beispiel arbeiten im Pflegebereich 80 Prozent Frauen. Betrachten wir die Proteste der letzten Jahre etwas genauer, erkennen wir einen markanten Anstieg von Arbeitskämpfen in typischen Frauenberufen. Egal ob in den Sozial- und Erziehungsdiensten, im Einzelhandel oder im Gesundheits- und Pflegesektor, überall sind mehrheitlich Frauen beschäftigt. Eine Sparpolitik, wie wir sie erleben, trifft uns alle, begonnen wird jedoch beim Reproduktionssektor und damit bei den Frauen.
Frauen treten also in Arbeitskämpfen stärker hervor. Und wenn sie eine bessere Entlohnung erreicht haben: Ist dann auch Schluss mit der Diskriminierung?
Das ist ein wichtiger Punkt. Arbeitskämpfe und Frauenbefreiung stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Es genügt nicht, die Reproduktionsarbeit zu vergesellschaften und die Angestellten fair zu entlohnen. Gleichzeit muss die Reproduktion unabhängig vom Geschlecht als gesamtgesellschaftliche Verantwortung verstanden werden. Erst dann sind wir in der Lage, positive und negative Zuschreibungen aufgrund des Geschlechts aufzuheben. Hier ist die sogenannte Care-Debatte, in der es um die gesellschaftliche Verteilung der Sorgearbeit geht, sehr hilfreich. Darin steckt ein Potenzial, genderpolitische Themen mit einer konkreten Systemkritik zu verbinden. Wir wollen im Theoriejournal die Care-Debatte aufgreifen und herausarbeiten, wie in dieser Auseinandersetzung die Geschlechterrollen in Frage gestellt werden können. Besonders interessant sind die Erfahrungen aus der Praxis des Arbeitskampfs des Pflegepersonals an der Berliner Charité, die für künftige Kämpfe sehr nützlich sein werden.
Erleben wir nicht auch außerhalb des Bereichs der Arbeit wieder eine Zunahme von Vorstößen, Frauen zu unterdrücken?
Die neoliberale Politik der Kürzungen im Sozialbereich und der Reprivatisierungen von Reproduktionsarbeit in die Familien muss natürlich ideologisch gestützt werden. Dabei wird die Familie als Fundament der Gesellschaft und damit auch traditionelle Rollenbilder wiederbelebt, um derartige Strategien zu rechtfertigen. Dieser »conservative rollback« (»konservatives Zurückschrauben«) war zum Beispiel in Spanien in Form der Forderung eines Verbots von Schwangerschaftsabbrüchen zu beobachten. Glücklicherweise konnte das Recht auf Abtreibung erfolgreich verteidigt werden. Insgesamt geht es hier um einen Angriff auf elementare Errungenschaften der Frauenbewegung, wie das Selbstbestimmungsrecht, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, aber auch um eine Zunahme an Sexismus. Die Medien helfen fleißig mit und zeichnen nach wie vor ein Bild des schwächeren Geschlechts. Auch in Deutschland tritt dieses konservative Gedankengut wieder vermehrt auf. Um nur ein besonders markantes Beispiel zu nennen: Die sogenannten Lebensschützerinnen und Lebensschützer mit ihrem unglaublich reaktionären Frauen- und Familienbild. Hier müssen wir Widerstand leisten.
Ihr habt euch in der Redaktion ein Jahr lang eingehend mit Fragen der Frauenbefreiung beschäftigt. Warum ist das Thema so wichtig?
Für mich stehen drei Punkte im Vordergrund: Erstens ist die Unterdrückung von Frauen einfach eine grundsätzliche Problematik, die uns alle angeht. Zweitens müssen wir beginnen, die Unterdrückung der Frau in unsere Gesellschaftsanalyse zu integrieren und sie nicht zu addieren. Dazu bietet die Theorie der sozialen Reproduktion, die wir im Journal besprechen, einen guten Ausgangspunkt. Und drittens: Wenn die Linke nicht im Hier und Jetzt gegen die Entrechtung, Ausbeutung und Diskriminierung von Frauen kämpft, dann wird sie den Kapitalismus niemals herausfordern können. Deshalb halte ich es mit Rosa Luxemburg, die sagte: »Keine Frauenbefreiung ohne Sozialismus«. Aber sie sagte eben auch: »Kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung«. Ein großer Teil der Lohnabhängigen sind Frauen. Etliche Streikbewegungen der letzten Jahre waren weiblich geprägt – so die Streiks der Kolleginnen und Kollegen der Gebäudereinigung, des Kitapersonals oder die Tarifbewegung im Einzelhandel. Gleichzeitig haben unter dem Stichwort Hashtag »#Aufschrei« Zehntausende Frauen belegt, dass trotz tiefgreifender Veränderungen wahre Gleichstellung noch immer in weiter Ferne liegt. Es tut sich also was in der Frauenbewegung – die Linke muss dort intervenieren. Ich hoffe, dass wir mit der neuen Ausgabe von theorie21 einen Beitrag dazu leisten.
Das Interview führte Christina Müller.
Was tun?
Frauenrechte verteidigen / Bundesweites Vernetzungstreffen zu Vorbereitung der Gegenaktionen zum »Marsch für das Leben« am 19. September
7. März 2015 / 14 bis 19 Uhr / Vierte Welt / Adalbertstr. 4 / 10999 Berlin
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theorie21 Frauenbefreiung erscheint im April 2015 / 6,50 Euro / Zu bestellen unter: info@marx21.de
Schlagwörter: Diskriminierung, Familie, Feminismus, Frauenbefreiung, Frauenbewegung, Frauenkampftag, Frauentag, Gleichstellung, Inland, Marxismus, Reproduktionsarbeit, Sexismus, theorie21