Am 15. Dezember haben sich Hunderttausende am Generalstreik in Belgien beteiligt und das Land größtenteils lahmgelegt. In den Wochen zuvor hatten die Gewerkschaften bereits mehrere Aktionen und Streiks organisiert. Was ist die Bedeutung dieses Kampfes und wohin geht er? Ramon Lambregts und Mark Kilian waren in Antwerpen dabei.
Im öffentlichen Dienst und Nahverkehr, dem Güterverkehr, an den Flughäfen und vielen anderen Orten wurde die Arbeit ganz niedergelegt. Auch im Einzelhandel und der Industrie, in Krankenhäusern und Schulen streikten große Teile der Belegschaft. Die Zugangsstraßen zum Antwerpener Hafen wurden wie bereits am 12. November mit Streikposten blockiert. Ziel der Aktionen ist es, die von der neuen Regierung von Charles Michel geplante Einführung der Rente mit 67 und andere soziale Kürzungen zu stoppen.
Um halb Zehn kommen wir beim Aktionszentrum »De Roma« in Antwerpen an. Etwas später fährt ein vom Bündnis „Hart boven Hard“ (Herz über Härte) organisierter Fahrradzug los, der Streikposten in der Innenstadt besucht. Die 1500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hielten dem Nieselregen einen halben Tag lang Stand. Sie ordneten sich selbst zum großen Teil der „gesellschaftlichen Mitte“ zu, reichten den Streikenden in der Industrie und im öffentlichen Dienst aber im großen Stil die Hand.
Die Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer halten bei einem Streikposten des Gemeindepersonals an einem Bürogebäude der Stadtverwaltung. Wouter, ein Sprecher des Bündnisses „Hart boven Hard“, freut sich über den breiten Protest. Er verliest ein Zehn-Punkte-Programm, das zu Investitionen in Gesundheit, Bildung, Bibliotheken und Sport aufruft: „Schattenpremierminister Bart De Wever, Antwerpener Bürgermeister der flämisch-nationalistischen N-VA, sagt, es gebe keine Alternative. Aber es gibt sie!“ Eine Sprecherin der Gewerkschaft ACOD betont, dass mehr als nur die Kaufkraft auf dem Spiel steht: „Viele Menschen würden an den Rand der Gesellschaft gedrängt.“
»Der ganze Gesellschaftsentwurf ist falsch«
Beim Theater „Toneelhuis“ folgte ein Plädoyer für eine Entschleunigung des Alltags, Zeit für persönliche Entwicklung und Tätigkeiten, die keinen direkten wirtschaftlichen Nutzen haben, wie Kunst und Kultur. Außerdem lobte die Gewerkschaftssprecherin die kulturelle Vielfalt in der Stadt und kritisierte den massiven Druck, unter dem Migranten leben: „Schluss mit der negativen Energie, Schluss mit der Aufteilung in ‚wir‘ und ‚sie‘ und auf zu einem tatsächlichen Zusammenleben. Nicht nur die Kürzungen, sondern der gesamte Gesellschaftsentwurf, der den Kürzungen zugrunde liegt, ist falsch!“
Drei Gewerkschaftsverbände, christlich, sozialistisch und liberal, arbeiten vorübergehend zusammen. In ihrem gemeinsamen Flugblatt fordern sie den Erhalt der Rente mit 65 und die Anpassung der Löhne an die Inflation in diesem Jahr. Die Gewerkschaften führen einen Kampf, der in vielen Ländern, Deutschland inbegriffen, schon verloren ist.
Vergiftete Stimmung
Von den linken Parteien ist nur die radikale Linkspartei PVDA präsent. Ihre Mitglieder tragen Warnwesten der sozialistischen Gewerkschaft ABVV. Parteimaterialien sind verboten, die Gewerkschaften haben das Alleinrecht, Interventionsmaterial zu verteilen. Die sprechen vor allem wirtschaftliche Forderungen an, lassen jedoch politische Fragen wie Rassismus unberührt. Dass dieser gerade in Flandern stark verbreitet ist, zeigt das in den Gewerkschaftsflugblättern dokumentierte Abstimmungsverhalten. Denn 2010 haben 42 Prozent der flämischen Gewerkschaftsmitglieder die flämisch-nationalistische N-VA oder die rechtsradikale Vlaams Belang gewählt.
Die Stärke rassistischer und flämisch-chauvinsischer Parteien vergiftet die politische Stimmung in Belgien schon lange und hat sich auch auf den Generalstreik ausgewirkt. Die Einschüchterung vieler Migrantinnen und Migranten ist offensichtlich: Obwohl Migranten den Streik oft unterstützen, nehmen sie in erheblich geringeren Maßen an den Aktivitäten teil.
Hunderttausende im Generalstreik
Trotz alledem war der Generalstreik vom 15. Dezember ein herausragender Erfolg. In ganz Belgien haben sich Hunderttausende an einen politischen Streik gegen die frisch formierte neoliberale Regierung beteiligt. Und sie konnten die politische Tagesordnung beherrschen. Am Abend mussten die Ministerin in den Medien erklären, wieso sie keine Reichensteuer einführe, um die Sparmaßnahmen überflüssig zu machen. Doch die Regierung wird versuchen, die Gewerkschaftsfront mittels Zugeständnissen zu spalten, beispielsweise indem sie wirtschaftliche Angebote an bestimmten Branchen oder Gewerkschaften macht. Oder sie kann die Nationalismus-Karte einsetzten, indem sie Wallonen gegen Flamen oder weiß gegen schwarz ausspielt. So könnten Teile der Gewerkschaftsbewegung abbröckeln.
Die Regierung ist fest entschlossen. Eine Einigung im Sinne der Streikenden scheint nur schwer erreichbar. Und wenn die Streikbewegung nachlässt, werden im Februar wahrscheinlich neue Kürzungsmaßnahmen angekündigt.
Der 15. Dezember war ein mächtiger Tag für die Arbeiterinnenschaft Belgiens.
In der nächsten Zeit sollten sich linke Organisationen und Gewerkschaften darum bemühen, die am meisten betroffenen Gruppen gewerkschaftlich zu organisieren: von Beschäftigten an den Universitäten hin zu den Reinigungskräften. Dabei ist die Einheit zwischen Mann und Frau, Belgiern und Migranten unerlässlich. Denn nur ein solider Streik kann nicht gebrochen werden. Deshalb sollten politische und wirtschaftliche Forderungen Hand in Hand gehen.
Der 15. Dezember war ein mächtiger Tag für die Arbeiterinnenschaft Belgiens. Der Generalstreik hätte jedoch mehr internationale Solidarität verdient. Alle Sozialistinnen und Sozialisten, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter können viel von der Einheit und Solidarität, die dieser Tag ausstrahlte, lernen. Und letztendlich kämpfen die belgischen Gewerkschafter für uns alle, denn ihr Ziel ist ein soziales Europa, das mit dem Europa der Banken und Konzerne unvereinbar ist.
Hintergrund: Rassismus und Separatismus in Flandern
Rassismus und flämischer Separatismus sind mit den Parteien Vlaams Belang und N-VA schon Jahrzehnte im politischen Mainstream vertreten. Der Vlaams Belang ist eine faschistische und separatistische Partei. Trotz tiefen Wurzeln im flämischen Nazismus konnte sie in den 1990er und 2000er Jahren erschreckende Wahlsiege erzielen. 2000 bekam sie 33 Prozent der Stimmen bei der Wahl für den Antwerpener Rat, 2004 folgten 24 Prozent bei der Wahl fürs flämische Parlament. Und das obwohl zahlreiche Parteikader wie die ehemaligen Vorsitzenden Philip Dewinter und Gerolf Annemans enttarnte Nazis sind, die bereits 1988 vor laufenden Kameras Wasserwerfern standhielten, um Blumen auf die Gräber flämischer SS-Offiziere zu legen. Seit 2004 hat jedoch die bürgerliche, neoliberal-nationalistische N-VA von Bart de Wever dem Belang bei Wahlen das Wasser in Flandern zu einem großen Teil abgegraben. Sie macht mit ihrem Aufstieg nationalistische Politik aber weiter salonfähig und ist seit Mai 2014 mit fast 32 Prozent der Stimmen größte Partei im flämischen Parlament.
Der Artikel erschien zuerst auf socialisme.nu und wurde von Freek Blauwhof ins Deutsche übersetzt.
Foto: Lieven SOETE
Schlagwörter: Generalstreik, Rassismus, Streik