In einem neuen Buch berichten chinesische Arbeiterinnen und Arbeiter eindrücklich von ihren Lebensbedingungen und Arbeitskämpfen. Auch wer schon viele Streikberichte gelesen hat, kann hier noch überrascht werden. Von Sarah Nagel
»Ich war damals noch nicht lange in der Fabrik, also unbedarft, voller Energie und leicht zu begeistern. Alle sagten, es ist Streik, also machte ich mit.« Das erzählt eine 1990 geborene Arbeiterin, die mit sechzehn aus dem Dorf in eine der südchinesischen Industriestädte kam. Im Jahr 2007 beteiligte sie sich an einem Streik in ihrer Fabrik. Die Beschäftigten forderten unter anderem eine jährliche Anpassung des Mindestlohns, um die rasant steigenden Lebenshaltungskosten zu bewältigen.
Die Nachricht vom Ausstand kursierte per SMS unter den Arbeiterinnen und Arbeitern, die sich nach und nach anschlossen. Spätabends versuchten sie, spontan eine Autobahn zu blockieren. »Der Streik machte uns Spaß. Wenn sie uns die Straße nicht blockieren ließen, gingen wir halt wieder auf die Wiese und amüsierten uns. Die Manager schickten die Gruppenleiter los, damit sie ihre ArbeiterInnen suchten. Wenn sie uns entdeckten, liefen wir woanders hin. Die Gruppenleiter machten aber sowieso Dienst nach Vorschrift und taten so, als würden sie uns nicht erkennen«. Am Ende wurde der Lohn erhöht und die junge Arbeiterin sagt, sie würde sich nun besser auskennen und sei nicht mehr so leicht übers Ohr zu hauen: »Ich habe auch genug Selbstvertrauen, um die Initiative zu übernehmen, mit anderen zu sprechen, sie für den Streik zu organisieren oder wenigstens Vorschläge zu machen.«
Viele Personen, die hier zu Wort kommen, erzählen ähnliche Geschichten. Sie sind fast alle junge Wanderarbeiterinnen und -arbeiter, die unter schwierigsten Bedingungen Elektrogeräte montieren, Ladegeräte überprüfen oder Textilien verarbeiten. Aktivistinnen und Aktivisten, die selbst in verschiedenen Betrieben arbeiten, haben die Interviews 2010/11 in den Industriezonen Shenzhen und Dongguan geführt und das Buch in China im Selbstverlag herausgebracht. Damit wollen sie die Streikerfahrungen, die sonst häufig nur mündlich weitergegeben werden, dokumentieren und vor allem anderen Arbeiterinnen und Arbeitern zur Verfügung stellen. Die Berichte sind in Kämpfe gegen Fabrikschließungen, gegen Lohnkürzungen und für Lohnerhöhungen unterteilt, vorab werden sie durch einen kurzen Abriss der politökonomischen Entwicklung Chinas in den gesellschaftlichen Kontext eingeordnet.
Die Gewerkschaft fehlt
Im vergangenen Jahr ist die deutsche Übersetzung im Mandelbaum Verlag erschienen und bietet einen spannenden Einblick in Weltmarktfabriken, in denen Beschäftigte oft nicht nur arbeiten, sondern auch wohnen und essen. So erzählt etwa ein Elektronikarbeiter, wie sich in seinem Betrieb Protest gegen das ungenießbare Kantinenessen entzündete: »Der Reis wurde mit Dieselöl gekocht und schmeckte danach. Einmal war er nicht gar gekocht, und drei oder vier Kollegen aus der Provinz Shaanxi trugen den Topf rüber zum Büro des Direktors. Wir rannten alle hinterher. Im Büro angekommen, kippten die KollegInnen den Reis auf seinen Tisch. Sie beschimpften ihn und riefen, wenn das Essen schon ungenießbar ist, sollten sie es wenigsten gar kochen. Der Direktor kaufte allen eine Packung Fertignudeln.« Das hinderte die Beschäftigten allerdings nicht daran, sich weiter für bessere Bedingungen einzusetzen.
So wie hier werden viele Arbeitskämpfe durch eher zufällige Ereignisse ausgelöst, anhand derer sich die angestaute Wut über lange Arbeitszeiten, niedrige Löhne und schlechte Lebensbedingungen entlädt. Eine Akteurin kommt im Buch allerdings fast überhaupt nicht vor: die Gewerkschaft. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter fühlen sich von der staatlichen Einheitsgewerkschaft nicht vertreten. Stattdessen organisieren sie den Widerstand gegen ihre Ausbeutung selbst – und zeigen dabei eine Kreativität und Entschlossenheit, die auch Arbeitskämpfe anderswo inspirieren kann.
Das Buch: Hao Ren u. a. (Hrsg.): Streiks im Perlflussdelta. ArbeiterInnenwiderstand in Chinas Weltmarktfabriken, übersetzt und herausgegeben von Ralf Ruckus, Mandelbaum Verlag, Wien 2014, 186 Seiten, 16,90 Euro.
Foto: ILO in Asia and the Pacific
Schlagwörter: Arbeiterbewegung, Bücher, China, Streiks