Phil Butland in Berlin und Kevin Ovenden in Athen denken über die Blockupy-Proteste in Frankfurt diese Woche nach und fragen, ob wir bei einem „Prager Moment“ sind, das eine neue Reihe antikapitalistischer und internationaler Mobilisierung eröffnen kann.
- Erst vor vier Tagen habe ich[1] voller Hoffnung über ein paar Hundert Menschen berichtet, die am Samstagnachmittag in Berlin für Griechenland demonstriert haben. Die gestrige Demonstration in Frankfurt fand mitten in der Woche zu einer Zeit, wo viele Menschen noch arbeiten mussten. Nichts desto trotz war sie – mit 20.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern – 50 Mal so groß. Vor der Demonstration waren sowohl der riesigen Römerplatz als auch ein kleinerer Nachbarplatz gerammelt voll mit Menschen, die Naomi Klein, Sahra Wagenknecht und anderen Rednerinnen und Rednern aus der antikapitalistischen Bewegung zugehört haben. Die Aufgabe wird sein, diese Energie und Größe in weitere Aktionen umwandeln zu können.
- Oft sind diejenigen, die vor Ort waren, die Letzten, die präzise Berichte geben können. Überall in der Stadt gab es Aktionen und da, wo ich war, haben wir weder Festnahmen noch mehr Gewalt gesehen als bei einer durchschnittlichen Demo. Wir haben jedoch zahllose Gerüchte gehört, erst über einzelne und dann über Massenverhaftungen. Darüber hinaus bin ich nicht in einer besseren Lage zu klären, was „wirklich passiert ist“, als die meisten Menschen, die nicht vor Ort waren. Ich kann aber versuchen, etwas von den Zusammenhängen zu erzählen.
- Wenn die Regierung jeden Wasserwerfer in Deutschland zu einer Demonstration schickt, sie mit Robocops überwacht, und willkürlich Tränengas verwendet (der Geruch war überall), darf man nicht überrascht sein, dass das Ganze eskaliert. Die wirkliche Gewalt ist die Gewalt des Staates, wie sie sich sowohl in Frankfurt gestern als auch in der mörderischen Armut in Griechenland und Spanien zeigt. Die wirkliche Gewalt sehen wir auch in den Kriegen in der Ukraine und der arabischen Welt. Die Schäden von gestern sind gering, zumindest im Vergleich zu den Schäden, die die Troika in Südeuropa verursacht, oder gar die Zerstörung, die letztes Jahr im Gazastreifen angerichtet wurde.
- Wie Raul Zelik auf seiner Facebook-Pinnwand schrieb: „Wer bei 25 Prozent Arbeitslosigkeit in Südeuropa, einer Million Zwangsräumungen in Spanien, 35 Prozent der griechischen Population ohne Zugang zum Gesundheitssystem usw. jetzt über die ‚Gewalt in Frankfurt‘ sprechen zu müssen meint, hat echt Einen an der Waffel.“ Die linke Zeitung Neues Deutschland hat ebenfalls aufgerufen, die Proteste gegen eine beginnende Hetzkampagne zu verteidigen, die sich in der konservativen Presse aufbaut.
- Was wir gerade erlebt haben, ist die Weise, wie sich die Krise in Südeuropa im Norden spürbar macht. Es ist ein wichtiger Moment. Es war eine europäische antikapitalistische Mobilisierung, aber auch eine überwiegend deutsche. Das ist es, worauf die Menschen in Athen, Madrid, Barcelona, Bilbao, Lissabon, Dublin und Rom gewartet haben. Frankfurt 2015 scheint Ähnlichkeit mit Prag 2000 zu haben, das den Anfang der letzten Vormarschphase der antikapitalistischen und internationalistischen Bewegung in Europa markierte. Prag führte zu den massiven Protesten gegen den Irakkrieg und zur 300.000-starken antikapitalistischen Demonstration in Genua.
- Dieser Zusammenhang verdeutlicht die Notwendigkeit einer solidarischen Diskussion über die Strategie der Bewegung. Im Blockupy-Bündnis kamen ganz unterschiedliche Gruppen im rahmen eines sehr begrenzten Aktionskonsens zusammen: 1. Alle Aktionsformen sind akzeptabel, auch diejenigen, die wir selber nicht verwenden würden. 2. Jede und jeder hat das Recht, sich gegen Übergriffe der Polizei zu verteidigen. 3. Unsere Seite eskaliert nicht. Gestern wurde bedauerlicherweise den dritten Konsenspunkt von einem Teil des Schwarzen Blocks ignoriert.
- Autos wurden angezündet, und nicht nur Polizeiautos. Bankfenster und Bushaltestellen wurden zerstört. Baustoffe wurden beschlagnahmt, um Barrikaden zu bauen. Ich habe kein Problem mit Barrikaden. Ich war jedoch Zeuge, als ein LKW-Fahrer bedroht wurde, so dass seine Ladung „gespendet“ werden konnte. So baut man eine Massenbewegung nicht auf, die sich bemüht, uns alle im Kampf gegen den Neoliberalismus zu organisieren – von Obdachlosen in Griechenland bis zu LKW-Fahrern in Deutschland.
- Eskalation ist manchmal notwendig, aber das bedeutet nicht, dass sie zwangsläufig die richtige Strategie ist. Die Strategie muss es ermöglichen, eine Bewegung zu entwickeln, die sowohl eine militante als auch eine Massenbewegung ist. Das bedeutet, Arbeiter und Arbeiterinnen, Migranten und Migrantinnen und die Bevölkerung aktiv einzubinden, die unter Kürzungspolitik, Rassismus und imperialistischen Kriegen leiden. Wir bemühen uns, eine militante Bewegung der Unterdrückten und Ausgebeuteten aufzubauen und nicht eine, die stellvertretend für sie handelt. Politik stellvertretend für die Menschen zu machen ist das sozialdemokratische Konzept, dass sich wieder und wieder als zum Scheitern verurteilt erwiesen hat.
- Dies ist kein moralischer Standpunkt. Direkt nachdem ich eine lebendige Demonstration von 20.000 Menschen verlassen hatte, bekam ich eine SMS von einer Freundin in Berlin, die die Nachrichten gerade gesehen hatte und wissen wollte, ob ich sicher sei. Die Medien konnten die Eskalation als Anlass ergreifen, um den Fokus zu verschieben und nur über Gewalt zu reden. Das machen sie natürlich immer und die Medien tragen die Verantwortung für ihre Propaganda selbst. Aber unser bestes Gegenwicht zu den Medien liegt in unserer Breite und in unserer Einheit.
- Wenn die Eskalation auf unserer Seite nur von einer Minderheit kommt, werden pro-kapitalistische Propagandisten es einfacher finden, uns gegeneinander auszuspielen. Wo auch immer möglich soll die Strategie offen innerhalb der Bewegung diskutiert werden, so dass die Bewegung als Ganze diese gemeinsamen Entscheidungen treffen kann.
- Menschen haben mich gefragt, ob dies das Werk von Provokateuren sei. Ich glaube nicht, dass wir die Schuld für Fehler unserer Seite ohne Beweise auf Provokateuren schieben sollten, auch wenn Erfahrungen der Vergangenheit, wie aus Genua 2001 und anderswo deutlich zeigen, dass der Staat durchaus in der Lage ist, diese einzusetzen. Zur Zeit haben wir keine Information darüber, und die Suche nach solchen Informationen ist für uns keine Priorität. Unser Schutz gegen staatliche Destabilisierung ist radikale demokratische Beteiligung aller Flügel der Bewegung und der Versuch, diese zu erweitern und mit massenhafter kollektiver und militanter Wirksamkeit zu handeln. Das bedeutet, Einheit und Konsens vor egoistischer Selbstdarstellung zu priorisieren.
- Die Rolle, die meine Partei die LINKE spielte, sowohl in der Mobilisierung für Blockupy als auch für unseren Erfolg am Protesttag selbst, war vorbildlich. Abgeordnete und einzelne Aktivistinnen und Aktivisten aus allen Flügeln der Partei waren überall. Unser Block auf der Demonstration war lebendig und stellte die Breite der Gesellschaft dar. Die Bewegung ist sehr viel größer als die LINKE, aber die LINKE hat eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Bewegung zu spielen – sowohl auf der Straße als auch in der strategischen Debatte.
- Die nächste große Straßenaktionen, die wir kennen, sind die traditionellen Gewerkschaftsdemonstrationen am 1. Mai (in Berlin haben wir auch die ebenso traditionelle antikapitalistische Demo am selben Abend). Für die Entwicklung der Theorie gibt es zwei wichtige Konferenzen in nächster Zeit. In der LINKEN Woche der Zukunft (http://www.die-linke.de/politik/aktionen/linke-woche-der-zukunft/) werden Sahra Wagenknecht, Raul Zelik und Aktivisten und Aktivistinnen aus anderen Ländern sich mit den Problemen und Herausforderungen vor uns auseinandersetzen. Ein paar Wochen später werden Stathis Kouvlakis, Bernd Riexinger und viel andere die Diskussion auf dem Marx Is Muss Konferenz (marxismuss.de) fortsetzen.
- Übrigens: SYRIZA hatte Recht und die KKE nicht in ihren Reaktionen auf die Jugendaufstände 2008 in Athen nach der Ermordung von Alexis Grigoropoulos durch Polizisten. Alexis Tsipras und seine Partei wurden sehr scharf kritisiert, weil sie an der Verunglimpfung aller anderen parlamentarischen Partei gegen die jungen Leute auf den Straßen und die antikapitalistischen Linke, die sie im Kampf begleitet haben, nicht teilgenommen haben. Alexis und SYRIZA hatten Recht. Wenn die radikale Linke – von Podemos über die LINKE bis zur Parti du Gauche in Frankreich – von Griechenland lernen will, dann dürfen sie die Frankfurter Proteste nicht verunglimpfen. Stehen wir mit den jungen Leuten zusammen, für die ein verlorenes Jahrzehnt nicht eine Flaute des BIP bedeutet, sondern ein verlorenes Drittel ihres bisherigen Lebens.
- Die gestrigen Demonstrationen haben es uns ermöglicht, vorwärts zu gehen und unsere Bewegung nach Vorne zu bringen. Kein Fußbreit dem finsteren Spiel von CDU und Troika. Die Vereinigung und Weiterentwicklung einer militanten Massenbewegung erfordert zweierlei Dinge: die Verantwortung unserer kapitalistischen Feinde für die Gewalt und Zerstörung, die sie – direkt oder indirekt – verursacht haben, zu betonen; aber eben auch, dass kollektive und demokratische Entscheidungen in unserer Bewegung, um wirksam zu sein, durch Frauen, Migranten und Migrantinnen, Alte, sehr Junge und … auch LKW-Fahrer getroffen werden müssen – und nicht herablassend für sie.
Phil Butland und Kevin Ovenden, 19. März 2015
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[1] Obwohl dieser Artikel gemeinsam geschrieben wurde, war nur Phil in Frankfurt auf der Blockupy-Demonstration und nur Kevin kann über die Reaktion in Athen direkt berichten. Zur besseren Lesbarkeit wird der ganzen Artikel in der ersten Person geschrieben.
Foto: UweHiksch
Schlagwörter: Antikapitalismus, Blockupy, Inland, Strategie, Widerstand