Seit Tagen nutzen Nazis den tödlichen Messerangriff auf einen 35-jährigen, um in Chemnitz zu mobilisieren. Wir sprachen mit Gabi Engelhardt von Aufstehen gegen Rassismus in Chemnitz über ihre Eindrücke, die rechte Szene in Chemnitz und Strategien gegen die Nazis in Sachsen
marx21: Mehrere Tausend Nazis sind am Montag durch Chemnitz marschiert. Wie geht es dir?
Gabi Engelhardt: Was sich in den letzten Tagen in Chemnitz ereignet hat, ist ein absoluter Schock. Die Bilder von gewaltbereiten Nazihorden, die vermeintliche »Ausländer« und Linke jagen und tatsächlich auch verletzt haben, sind unerträglich.
Warst du am Montag auf der Anti-Nazi-Kundgebung in Chemnitz?
Ja, natürlich! Uns ist es gelungen, 1.500 Menschen zu mobilisieren. Und das trotz der Pogromstimmung und der Warnungen vor rechter Gewalt. Das ist ein wichtiger Anfang. Aber wir waren den Rechten zahlenmäßig unterlegen.
Wie viele Rechte waren auf der Straße?
Am Sonntag waren das mehrere Hundert. Am Montag deutlich mehr. Die Nazis sprechen teilweise von 10.000 Menschen. Das ist sicherlich übertrieben. Aber mehrere Tausend waren das auf jeden Fall.
Was waren deine Eindrücke?
Das war schon heftig. Gestern konnten die Nazis teilweise tun und lassen, was sie wollen. Sie zeigten den Hitlergruß, griffen Gegendemonstration und Presse an, während die Menge skandierte: »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!«.
Wer hat zu den Aufmärschen aufgerufen?
Zuerst hatte die AfD – ohne zu wissen, was nach dem Stadtfest tatsächlich passiert war – für Sonntagnachmittag zu einer »Demo gegen Gewalt«, wie sie sie nannten, aufgerufen. Gleichzeitig hatten auch die rechten CFC Ultras von »Kaotic Chemnitz« ihr Umfeld auf die Straße gerufen. Den Aufmarsch am Montag hat »Pro Chemnitz« angemeldet.
Wer ist dem Aufruf gefolgt?
Die gesamte rechte Szene in Sachsen hat mobilisiert. Überregionale Kader wie Tony Gentsch von der rechtsextremen Partei Der Dritte Weg, auch der Nazi Tommy Frenck, Michel Fischer (Die Rechte), David Köckert (Ex-Thügida, heute Republikaner) und Rechtsrockveranstalter Patrick Schröder waren in der Masse zu erkennen.
Waren das also alles Nazis auf der Straße?
Nein, sicherlich nicht. Aber der organisierende Kern besteht aus Nazi-Kadern. Sie versuchen, aus den tragischen Ereignissen politisch zu gewinnen und ihre Organisationen zu stärken. Das gelingt ihnen auch teilweise.
Die Rechten nutzen den tödlichen Messerangriff auf einen 35-jährigen, um in Chemnitz zu mobilisieren. Was ist eigentlich genau passiert?
Nach dem Ende des Stadtfestes hatte es am Sonntagmorgen eine Auseinandersetzung zwischen mehreren Personen gegeben, bei der es zu zwei Verletzen und einem Todesfall kam. Das ist schrecklich und ich möchte den Angehörigen meine Anteilnahme aussprechen und den Verletzten eine schnelle Genesung wünschen.
Was ist bisher über den Tathergang bekannt?
Grund und Hergang des Streits sind noch Gegenstand der Ermittlungen der Polizei. Allerdings wurde jedoch sofort von der AfD und auf rechten Seiten im Internet unterstellt, dass das Opfer eine Frau vor Belästigung schützen wollte. Dies hat sich bis jetzt nicht bestätigt und die Polizei hat auch deutlich gemacht, dass es sich nicht um sexuelle Belästigung handelte.
Wie reagierte die AfD in Chemnitz?
Trotz des Dementis der Polizei stellte die AfD die Tat in Zusammenhang mit Flüchtlingen und sexuellen Übergriffen gegen Frauen und hielt spontan eine Kundgebung ab. Die Partei behauptet, dass sich Frauen »nicht mehr allein auf die Straße trauen« könnten und dass die »arabische Kultur« nicht »zu uns gehöre« …
Was sagt ihr dagegen?
Die AfD instrumentalisiert, gemeinsam der gesamten rechten Szene, die tragischen Ereignisse für ihre hetzerische Politik. Dabei haben die AfD und die rechte Szene selbst massiv Gerüchte gestreut…
… sie behaupten, die Geflüchteten wären besonders frauenfeindlich.
Sexismus und Gewalt sind keine Importware. Geflüchtete sind gegenüber Frauen nicht mehr oder weniger übergriffig als Einheimische. Sexuelle Gewalt gegenüber Frauen ist in Deutschland allgemein ein großes und sicherlich kein neues Problem: Regelmäßig werden auf Großereignissen wie Festivals, dem Münchner Oktoberfest oder im Karneval Frauen sexuell belästigt oder gar vergewaltigt. Die AfD schürt mit ihren Aussagen nur den antimuslimischen Rassismus insbesondere gegen Geflüchtete. Mit Anteilnahme für die Opfer hat das nichts zu tun.
Welche Rolle spielt die Chemnitzer AfD bei den Aufmärschen?
Die AfD bereitet den Boden dafür, dass sich die Nazis trauen, offen durch die Stadt zu marodieren. Seit mehreren Jahren hetzt auch in Chemnitz die AfD gegen Muslime und Geflüchtete. Aber nicht nur die Chemnitzer AfD ist das Problem. Die gesamte Partei ist mittlerweile zum Sammelbecken von Faschisten und Nationalisten geworden. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier twitterte nach der Eskalation am Sonntag: »Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Straße und schützen sich selber. … Heute ist es Bürgerpflicht, die todbringende »Messermigration« zu stoppen!«. Die Politik der AfD wirkt wie ein Brandbeschleuniger.
Die AfD behauptet, ihre Kundgebung sei friedlich verlaufen. Erst als die »Ultras« kamen, eskalierte die Gewalt. Stimmt das?
Ja. Aber die AfD spielt mit gezinkten Karten. In Chemnitz gibt es eine gut vernetzte rechte Szene. Und auch Mitglieder und Funktionäre der AfD gehören dazu. Auch wenn die Beteiligten an der vorangegangenen AfD-Kundgebung keine direkte Gewalt ausübten, bereiteten sie mit ihren hasserfüllten Parolen den Boden für die Ultras sowie für die Nazis, die in den letzten Tagen auf der Straße waren und während und nach ihrem Aufmarsch Menschen attackierten.
Warum ist die rechte Szene in Chemnitz so präsent?
Leider ist das kein Chemnitzer Problem. In ganz Sachsen ist die radikale Rechte in Aufbruchstimmung. Wir sollten nicht vergessen, dass die neofaschistische »Alternative für Deutschland« (AfD) in Sachsen mit 27 Prozent der Stimmen nicht nur zur stärksten Partei im Land aufgestiegen ist. Die Partei konnte auch drei Direktmandate ergattern und in einigen Gemeinden fast jede zweite Stimme gewinnen. Seit der Landtagswahl vor drei Jahren hat sich der Anteil der AfD-Stimmen fast verdreifacht. Dass Sachsen zur Hochburg der AfD geworden ist, hängt auch mit der gewachsenen Stärke der extremen Rechten hier zusammen.
Kannst du uns Beispiele nennen?
In Sachsen versteckte sich der NSU, hier war das Epizentrum der Pegida-Aufmärsche, und auch die NPD konnte sich mehr als ein Jahrzehnt lang in Sachsen über Umfrage- und Wahlergebnisse freuen, die deutlich über fünf Prozent lagen. Im Jahr 2004 zog sie sogar mit einem Rekordergebnis von 9,2 Prozent der Stimmen in den Landtag ein.
Wie sieht es mit Straftaten von Neonazis aus?
In keinem anderen Bundesland verüben Neonazis mehr Straftaten. Eine große Anfrage der LINKEN im sächsischen Parlament ergab: Von 2011 bis Mitte 2016 wurden sachsenweit 10.269 Delikte von Rechtsextremen begangen. Auf dem Höhepunkt der »Flüchtlingskrise« 2015 waren es rein rechnerisch sogar 6,6 pro Tag. Über die rassistischen Ausschreitungen in Freital, Heidenau, Chemnitz-Einsiedel, Bautzen oder Clausnitz wurde bundesweit in den Medien berichtet. Doch der alltägliche rechte Terror, der hinter diesen Zahlen steckt, findet wenig Beachtung.
Warum ist die radikale Rechte in Sachsen so stark?
Ein Grund ist sicherlich die Politik der sächsischen CDU-Regierung. Sie hat in der Vergangenheit die Nazigefahr kleingeredet und behauptet, es gäbe in Sachsen kein Problem mit Rassismus und Nazis. Gleichzeitig ist die sächsische CDU einer der rechtesten Landesverbände und steht in ihrer Politik eher der CSU nahe. Mit seiner Hetze gegen Muslime und dem Schüren von Vorurteilen gegen Geflüchtete hat der ehemalige Ministerpräsident Stanislaw Tillich der AfD und den Nazis den »braunen« Teppich ausgerollt. Unter Sachsens CDU-Regierung konnte die radikale Rechte massiv aufbauen.
Wer sind die Drahtzieher der rechten Szene in Chemnitz?
Der gestrige Aufmarsch wurde von »Pro Chemnitz« organisiert. Aber auch rechte Parteien und andere rechte Netzwerke wie die NPD, die IB und Heimat und Tradition haben den Aufruf geteilt. Und die AfD hat in gewohnt zweideutiger Weise dazu aufgerufen. Offiziell wird so getan, als distanziere man sich von den Nazis. Aber einige AfD-»Größen« rufen dann doch zum »Protest« auf.
Wer ist »Pro Chemnitz«?
Pro Chemnitz wurde 2009 durch den Ex-Republikaner-Stadtrat Martin Kohlmann gegründet. Die Bezeichnung »Bürgerbewegung« soll den rassistischen und völkischen Aktivitäten der Partei einen bürgerlichen Anstrich geben. Auch wenn die Pro-Parteien teilweise Konservative in ihren Reihen haben, wie bspw. in Chemnitz, wo Ex-CDU-Mitglied Reinhold Breede Mitbegründer war, geben dort Nazis-Kader die Marschrichtung vor.
Woran machst du das fest?
Es gibt in allen »Pro-Bewegungen« große inhaltliche und personelle Überscheidungen zu harten Nazi-Szene. Die »Pro-Bürgerbewegung« ging Mitte der 1990er-Jahre aus der gescheiterten Nazi-Sammelbewegung Deutsche Liga für Volk und Heimat (DLVH) hervor. Ein großer Teil der Mitglieder und der überwiegende Teil der Funktionäre waren in der Vergangenheit bei der NPD, der DVU sowie den Republikanern aktiv.
Wie ist das in Chemnitz?
»Pro Chemnitz« ist seit der Wahl 2014 mit drei Mitgliedern im Chemnitzer Stadtrat vertreten, die dort eine eigene Fraktion bilden. Der Fraktionsvorsitzende Martin Kohlmann hat sowohl gute Verbindungen zur NPD in Sachsen als auch zu Kameradschaften, der Hooligan-Szene und der rechten Musikszene. Martin Kohlmann ist seit Jahrzehnten in der Naziszene aktiv. 1999 kandidierte er für die Republikaner in Chemnitz und zog in den Stadtrat ein. Anfang 2004 organisierte er ein Konzert mit dem rechtsextremen Musiker Frank Rennicke in Chemnitz. Er arbeitet als Rechtsanwalt und zu seinen Mandanten zählt unter anderem der ehemalige Vorsitzende der NPD Günter Deckert.
Was macht Pro Chemnitz?
Wie alle Nazistrukturen hat auch »Pro Chemnitz« in den letzten Jahren verstärkt gegen Flüchtlinge und »den Islam« gehetzt. Sie organisierten Kundgebungen, auf denen regelmäßig Martin Kohlmann spricht. Zusätzlich zu diesen Veranstaltungen werden auf der Facebookseite von Pro Chemnitz fast täglich rassistische Posts veröffentlicht. »Pro Chemnitz« unterstützt außerdem – wie die AfD in Chemnitz – die Dresdner Anti-Islambewegung Pegida.
Hat die SPD-Bürgermeisterin die rechte Gefahr unterschätzt?
Sowohl die Oberbürgermeisterin als auch die Leitung des Stadtfestes und die Polizei haben die Mobilisierungskraft der Nazis unterschätzt. Aber ich denke, wir haben alle nicht damit gerechnet, dass so schnell so viele Nazis und Rassisten durch Chemnitz ziehen werden. Das hat viele erschreckt, aber gleichzeitig auch empört.
Es gibt viel Kritik an der Polizei in Chemnitz. Sie sei überfordert gewesen und hätte die Nazis gewähren gelassen. Um die rechte Gefahr zu stoppen, fordern Medienvertreter, Politikerinnen und Politiker, dass Justiz und Polizei schärfer durchgreifen. Ist das eine Lösung?
Nein. Der Staatsapparat ist völlig ungeeignet, Rassismus und Naziterror zu bekämpfen. Vielmehr ist er Teil des Problems. Wir in Sachsen können leider ein Lied davon singen. Die NSU-Morde haben gezeigt, dass der Staat nicht nur auf dem rechten Auge blind ist – oder zumindest sehr schlecht sieht –, sondern dass staatliche Organe wie der Verfassungsschutz die rechten Strukturen auch aktiv unterstützen. Der Skandal um das Vorgehen der Polizei gegen einen ZDF-Reporter in Dresden ist erst eine Woche her…
Und du meinst: Das ist nur die Spitze des Eisberges?
Richtig! Die sächsische Polizei steckt tief im braunen Sumpf fest. Ich kann Dutzende Fälle in Sachsen auflisten, die zeigen: Der Staatsapparat ist kein verlässlicher Bündnispartner im Kampf gegen Rassismus und Nazis.
Zum Beispiel?
Wir erleben das Tag für Tag. Aber für viele wurde das offensichtlich während der Polizeieinsätze und dem Agieren der Staatsanwaltschaft gegen Aktive im Bündnis »Dresden Nazifrei« von 2010-2013. Höhepunkt der Repression war die massive Handy-Überwachung der Anti-Nazi-Proteste in Dresden 2011. Dabei landeten 138.000 Datensätze auf dem Polizeirechner. Damals blockierten Tausende erfolgreich den bis dato größten Naziaufmarsch Europas. Nach der erfolgreichen Blockade stürmten maskierte Polizisten in Kampfmontur das Pressezentrum des Bündnisses. Die Staatsanwaltschaft leitete 351 Verfahren gegen Blockierer ein.
Was muss jetzt in Chemnitz passieren, damit der rechte Mob gestoppt wird?
Die demokratischen Kräfte und Parteien in Chemnitz, angefangen bei LINKEN, Grünen, SPD bis hin zu den Gewerkschaften, muslimischen, jüdischen und christlichen Gemeinden, die migrantischen Organisationen und andere zivilgesellschaftlichen Initiativen sind jetzt gefordert. Wir brauchen ein breites Bündnis, um dem Hass und der rassistischen Hetze gemeinsam entgegenzutreten.
Kann das gelingen?
Na klar! Als zum Beispiel das sogenannte Rechte Plenum in Chemnitz sich zum Ziel gesetzt hatte, einen ganzen Stadtteil zur »national befreiten Zone« zu machen, gab es so starken Widerstand, dass sich das Rechte Plenum wieder zurückziehen musste. Wir müssen diese gute Tradition der antifaschistischen Gegenaktionen, die wir in Chemnitz seit 1990 pflegen, wiederbeleben und dürfen den Rassisten und rechten Hetzern nicht die Straße überlassen.
Warum?
Die Nazis müssen bei jedem öffentlichen Auftritt merken, dass große Teile der Bevölkerung nicht nur ihre Inhalte ablehnen, sondern auch bereit sind, sich ihnen aktiv in den Weg zu stellen. Wenn die Rechten nicht marschieren können, entmutigt man vor allem ihr Umfeld, das durch machtvolle Aufmärsche und Kundgebungen beeindruckt werden soll. Gestern waren wir leider zu wenige, um den Aufmarsch zu stoppen.
Was plant ihr jetzt?
Am Wochenende wird es weitere Aktionen in Chemnitz geben. Die Nazis wollen wieder marschieren, aber wir werden da sein. Aufstehen gegen Rassismus wird nicht aufhören, gegen die Rassisten und Nazis auf die Straße zu gehen.
Das Gespräch führte Yaak Pabst
Foto: de.havilland145
Schlagwörter: AfD, Alternative für Deutschland, Antifaschismus, Aufstehen gegen Rassismus, Chemnitz, Inland, Nazis, Sachsen