Dorit Rabinyans Roman »Wir sehen uns am Meer« hat nicht nur in Israel erhitzte Debatten ausgelöst. Doch die Liebesgeschichte zwischen einer Israeli und einem Palästinenser ist weit weniger progressiv als unser Rezensent Phil Butland gehofft hatte
Mein Freund, Saeed Amireh ist in Ni‘lin im Westjordanland aufgewachsen. Ni‘lin liegt höchstens dreißig Kilometer vom Mittelmeer entfernt. Abends steigen die Bewohner des Dorfs oft auf einen Hügel, von dem aus sie das Meer sehen und sogar riechen können. Aber erst, als Saeed als Referent nach Schweden eingeladen wurde, kam er zum ersten Mal mit Meerwasser in Kontakt. Wegen Israels strenger Grenzkontrollen darf er nicht da ins Meer, wo seine Vorfahren schwimmen gegangen sind.
Diese Liebe ist politisch
Chilmi, ebenfalls Palästinenser und der Held in Dorit Rabinyans Roman, geht es ähnlich. Ein paar Mal kam er in Ägypten ans Rote Meer, aber das war alles. Als seine neue Freundin Liat ihn besser kennenlernt, ist sie immer wieder erstaunt – sowohl von Banalitäten wie der, dass er nicht schwimmen kann, als auch von seinen Beschreibungen der Repression, die alle Palästinenserinnen und Palästinenser tagtäglich erleben müssen.
»Wir sehen uns am Meer« erzählt die Entwicklung der Liebesbeziehung von Liat und Chilmi, die sich in New York kennenlernen. In Israel hat Rabinyans Roman eine große Kontroverse ausgelöst, weil Liat Israelin ist und Chilmi Palästinenser. Solange sie in den USA seind, ist ihre »verbotene« Liebe irgendwie möglich. Aber es ist klar, dass sie irgendwann in ihre Heimat zurückkehren müssen.
Das israelische Bildungsministerium hat das Buch für den Schulunterricht verboten, mit der Begründung, dass es »Mischehen und Assimilation fördert«. Bildungsminister Naftali Bennett unterstützte das Verbot weil er meinte, dass das Buch »israelische Soldaten als sadistische Kriegsverbrecher« verunglimpft.
Laut einem Bericht in der Israelischen Zeitung »Ha‘aretz« werden »intime Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden und besonders die Möglichkeit, sie durch Heirat und Gründung einer Familie zu institutionalisieren – auch wenn es sich in der Geschichte nicht verwirklicht – von großen Teilen der Gesellschaft als Bedrohung für eine eigene Identität wahrgenommen«. Kurz gesagt, die Mehrheit der Israelis lehnt Liebesbeziehungen mit Palästinenserinnen und Palästinensern kategorisch ab.
Nicht nur die Kunst wird in Israel unterdrückt. Im Jahr 2014 versuchten Hunderte Demonstrierende, die Hochzeit zwischen dem Palästinenser Mahmoud Mansour und der Israeli Moral Malka zu stören – das Brautpaar musste sich vom Sicherheitsdienst zum Altar führen lassen. Um überhaupt heiraten zu dürfen, musste Malka zum Islam konvertieren, da die Ehe zwischen Menschen muslimischen und jüdischen Glaubens in Israel nicht möglich ist – die Zivilehe, die auf dem Standesamt geschlossen wird, existiert dort nicht.
Die literarische Kritik kommt zu kurz
»Wir sehen uns am Meer« bietet tatsächlich die Möglichkeit, etwas von den Schwierigkeiten einer Beziehung zwischen Menschen, die einander nicht kennenlernen dürfen, zu erfahren. Allerdings wird alles nur aus Liats Sicht erzählt. Das ist Rabinyans gutes Recht als Autorin – viele hervorragende Romane werden ausschließlich in der ersten Person erzählt. Das Problem ist, dass Liat so oberflächlich und selbstbesessen dargestellt wird, dass ihre Meinung mich nicht besonders interessiert.
Viel Tinte (oder das zeitgenössische Äquivalent) ist über das Verbot von Rabinyans Buch vergossen worden – und das ist richtig so. Der Umgang des israelischen Staats mit diesem Kunstwerk ist beschämend und ein weiteres Symptom der Krankheit dieser Gesellschaft. Viel weniger Beachtung fand aber die Frage nach dem künstlerischen Wert des Romans. Alle sollten »Wir sehen uns am Meer« lesen dürfen – auch in israelischen Schulen. Aber wie ist das Leseerlebnis?
Meiner Meinung nach ist das Buch auf der künstlerischen Ebene leider äußerst schwach. Das liegt an Rabinyans Stil und der Art, wie sie ihre unsympathische Protagonistin beschreibt. Diese künstlerische Schwäche hat aber politische Wurzeln. Doch dazu später mehr, nach der literarischen Kritik.
Eine unsympathische Protagonistin
Es ist zwar tatsächlich ein Fortschritt, einen israelischen Roman lesen zu können, in dem Palästinenser überhaupt vorkommen. Aber wäre es denn so viel verlangt, wenn das letzte Wort nicht immer von einer Israeli aus der Mittelschicht stammen würde? Nie spricht Chilmi selbst zu den Leserinnen und Lesern, wir sehen ihn nur durch Liats Augen und ihre Wahrnehmung wirkt oft sehr verzerrt. Es gibt endlose Szenen, in denen Chilmi das Zimmer verlassen muss, während Liat mit ihren Eltern in Israel telefoniert. Jedesmal eine Krise von weltbewegendem Ausmaß. Über Chilmis Bemühen, Kontakt mit seiner Familie in Ramallah zu halten, erfahren wir wenig – und wenn, dann nur, insoweit das Liats Leben betrifft. Es fällt Liat (und vielleicht auch Rabinyan) nicht ein, dem Rassismus ihrer Eltern etwas entgegenzusetzen, statt Chilmi immer wieder rauszuschicken.
Eigentlich zeigt Liat selten Interesse daran, was Chilmi tut oder denkt. Sie findet es schön, einen Freund zu haben – aber es wird nicht deutlich, ob sie ihn als Person besonders mag. Bei all ihrem Ärger über ihre eigenen Alltagsprobleme zeigt Liat wenig Verständnis oder Mitleid für Chilmi, und noch weniger für seinen Bruder, der zu Besuch kommt und vom Leben in Palästina berichten will.
In den USA können die beiden ihre oberflächliche Beziehung aufrechterhalten, aber Liat hat nur ein Studierendenvisum und muss nach Israel zurück. Im Laufe des Buchs macht sie sich auch keinerlei Gedanken, ob sie ihr Visum verlängern lassen und mit Chilmi in New York bleiben könnte. Es handelt sich hier also nicht um eine Tragödie, in der die Protagonisten ihrem Schicksal nicht entkommen können.
Zufälligerweise besucht Chilmi seine Familie in Ramallah genau zu der Zeit, als Liat nach Tel Aviv zurückkehrt. Das führt zu einer großen Wende in der Handlung: Werden die Liebenden sich in ihren Heimatländern wiedersehen?
Schwer nachvollziehbar
In der Realität wäre das kein Problem. Mit ihrem israelischen Pass könnte Liat problemlos in die C-Gebiete (sechzig Prozent des Westjordanlands) reisen und Chilmi dort treffen. Aber auf diese Möglichkeit kommt niemand. Stattdessen muss Chilmi viel riskieren und versuchen, die Grenzkontrollen zu überwinden, um seine Geliebte in Tel Aviv zu besuchen. Ist Liat die Beziehung tatsächlich so gleichgültig? Wenn nicht, bleibt es völlig unklar, warum Chilmi hier die Initiative ergreifen muss. Selbst wenn Liat Chilmi in Ramallah im A-Gebiet besuchte, würde sie nur gegen israelische Gesetze verstoßen, und die israelischen Behörden wären viel nachsichtiger mit ihr als mit einem illegalen Araber in Tel Aviv. Aber natürlich muss sich Chilmi in Gefahr begeben.
Ist diese politische Kritik relevant? Können wir den Roman nicht einfach als eine spannende Romeo-und-Julia-Geschichte lesen? Ich glaube, dass es auf einer Ebene unmöglich wäre, eine Geschichte von Romeo und Julia im heutigen Israel und Palästina zu erzählen. Denn die Montagues und Capulets in Shakespeares Drama sind »zwei Häuser, beide an Anseh‘n gleich«, also haben Romeo und Julia gleich viel zu verlieren. Eine Beziehung zwischen einem Palästinenser und einer Israelin auf gleicher Augenhöhe wäre aber unmöglich, ohne das Land zu verlassen oder Israels Grundgesetze in Frage zu stellen. Und das will Rabinyan explizit nicht. In einem Interview beschrieb sie ihre Leser und Leserinnen so: »Indem sie meinen Roman kaufen, bekräftigen sie ihr Vertrauen und ihren Glauben an den Liberalismus Israels, an Israels Wahl- und Redefreiheit.« Wer Israel auch nur halbwegs kennt, weiß, dass dieser Liberalismus und diese Freiheit für Bestsellerautorinnen und ihre Leserinnen und Leser gelten mag, aber nicht für die durchschnittlichen Palästinenserinnen und Palästinenser.
Das heißt nicht, dass es unmöglich wäre, einen guten Roman über eine interkulturelle Liebesbeziehung in Israel/Palästina zu schreiben. Sayed Kashuas »Der tanzende Araber« ist ein meisterhaftes Beispiel, wie das gelingen kann. Aber, wie ich in meiner Besprechung der Verfilmung des Buchs, »Mein Herz tanzt«, geschrieben habe: Von der israelischen Besatzung sind alle Protagonisten des Films betroffen – aber nicht alle in gleichem Maße. Ohne diese einfache Wahrheit anzuerkennen, ist es schwierig Liats triviale Probleme ernst zu nehmen.
Letztendlich ist die Haltung ignorant
Ob Rabinyan Liat absichtlich so unsympathisch dargestellt hat, bleibt für mich unklar. Aber Liats Haltung ist ganz typisch für sozial und liberal eingestellte Israelis wie die Autorin. Sie schrecken vor dem Rassismus in der israelischen Gesellschaft zurück, sehen aber die Palästinenser eher als ein Problem, das gelöst werden muss, statt als lebende und fühlende Menschen.
Aus einer solchen Perspektive sind keine ebenbürtigen Beziehungen möglich. Die Übersetzerin von »Wir sehen uns am Meer«, Ruth Achlama, äußerte sich gegenüber der »Jüdischen Allgemeinen« ganz ähnlich: »Dass die Protagonistin Liat ihr Land liebt, wird in vielen Beschreibungen deutlich. Sie möchte eine israelische Familie gründen. Eine Zukunft zum Beispiel in New York mit Chilmi kommt für sie überhaupt nicht infrage.«
Der Titel »Wir sehen uns am Meer« weist bereits darauf hin, dass Beziehungen zwischen Israelis und Palästinenserinnen und Palästinensern beinahe unmöglich sind – wie könnte das Liebespaar sich am Meer sehen, wenn Palästinensern der Zugang verboten ist? Aber in der von Sozialliberalen wie Rabiniyan bevorzugten Lösung – die »Zweistaatenlösung« mit der daraus folgenden Rassentrennung und ethnischen »Säuberung« – würde dieser Zustand nur festgeschrieben.
Die Unterdrückten in einem kolonialen Siedlerstaat werden niemals von »progressiven« Siedlern befreit werden – sie müssen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Denn selbst wenn man sie zu Wort kommen lässt – was in diesem Roman selten der Fall ist – werden sie bestenfalls als würdevolle Opfer bemitleidet. Die Palästinenserinnen und Palästinenser aber haben Besseres verdient als eine Nebenrolle in einem Israelischen Liebesdrama.
Das Buch: Dorit Rabinyan: Wir sehen uns am Meer, Kiepenheuer und Witsch, Köln 2016, 384 Seiten, 19,99 Euro
Foto: Markus Ortner
Schlagwörter: Bücher, Buchrezension, Gaza, Israel, Juden, Kultur, Palästina, Palästinenser, Roman, Westjordanland