Die Taliban haben die afghanische Hauptstadt Kabul eingenommen und nach 20 Jahren die Kontrolle über das Land am Hindukusch zurückgewonnen. Eine Linksammlung zu den Hintergründen von Simo Dorn
Anfang des Jahres 2010 bereisten die LINKE-Bundestagsabgeordneten Christine Buchholz und Jan van Aken Afghanistan. Dort haben sie mit Opfern des deutschen Luftangriffs in Kundus gesprochen, bei dem im September 2009 über 140 Menschen getötet oder verletzt worden sind. marx21 dokumentiert ihren Reisebericht: »Mehr Soldaten, mehr Probleme«.
Abschiebungen nach Afghanistan waren und sind menschenverachtend
Sieben Jahre später wurden bei der Explosion einer Autobombe in der afghanischen Hauptstadt Kabul dutzende Menschen getötet und Hunderte verletzt. Auch die deutsche Botschaft wurde schwer beschädigt. Innenminister de Maizière hatte daraufhin eine Sammelabschiebung nach Afghanistan gestoppt. Doch trotz der katastrophalen Sicherheitslage wollten er und die Bundesregierung weiter an dem Plan festhalten, mehr als 12.000 geflüchtete Menschen zurück nach Afghanistan zu schicken. Wir sprachen mit der afghanischen Aktivistin Malalai Joya über die damalige Situation in Afghanistan: »Afghanistan ist nicht sicher. Schluss mit allen Abschiebungen!«.
Malalai Joya war 2010 mit 32 Jahren die derzeit jüngste Parlamentarierin Afghanistans. In ihrem Buch »Ich erhebe meine Stimme« erzählt sie sowohl ihre persönliche als auch die Geschichte ihres Landes. Eine Rezension und Einordnung der Geschichte eines geschundenen Landes.
Trotz der Gewalt in den vergangenen 20 Jahren in Afghanistan schiebt die Bundesrepublik regelmäßig angeblich kriminelle Asylbewerber dorthin ab. Doch mit der Sorge um Sicherheit hat das Vorgehen nichts zu tun, meint Christine Buchholz in Abschiebungen nach Afghanistan: Eine perfide Taktik.
69 Menschen zeigten sinnbildlich ein perfides System
Die Thematik von Abschiebungen und Sammelabschiebungen ist damals wie heute aktuell. So beschreibt die hörenswerte, vier-teilige Produktion des Deutschlandfunk – Das Feature: Seehofers 69 die Perfidität von Abschiebungen als Mittel der Abschreckung und was die Menschen in dem vom Krieg gezeichneten Land erwartet. Es war ein Abschiebeflug wie jeder andere, bis Horst Seehofer scherzte: »Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden.« Drei Jahre später finden die Produzent:innen Armin Ghassim und Annette Kammerer einige der 69 Afghanen wieder: Im Chaos von Kabul, gestrandet in Moria und zurück in der bayrischen Idylle.
Während sich Armin Laschet, gemäß der CDU-Parteilinie, selbst nach Abzug der deutschen Truppen für weitere Abschiebungen ausspricht und Olaf Scholz und Franziska Giffey ihm, gegen die Mehrheit der SPD zustimmt, setzt Horst Seehofer sie am 11. August vorläufig aus. Aktuell gibt es keine Abschiebungen mehr aus Deutschland nach Afghanistan. Dies ist als Erfolg von zivilgesellschaftlichem Engagement und den progressiven Kräften zu sehen, die gegen Abschiebungen auf die Straße gingen und es wieder tun werden. Lobbierte der Innenminister noch eine Woche zuvor namentlich zusammen mit österreichischen Amtskolleg:innen bei der EU-Kommission dafür Abschiebungen nach Afghanistan sicherzustellen. Die österreichische Bundesregierung ist jedoch seither von jeglicher Kritik unbeeindruckt und hält bis dato weiter an der menschenverachtenden Praxis fest.
»Unsere Freiheit wird am Hindukusch verteidigt«
Dass nach der Kontrollübernahme des Landes durch die Taliban »wahrscheinlich noch mehr Afghanen motiviert [seien] ihre Heimat zu verlassen« und dass deshalb an Abschiebungen zur Abschreckung festgehalten werden solle, ist nicht länger nötig, da die Taliban dafür sorgen wollen, dass die Menschen im Land bleiben und gar nicht erst die Flucht nach Westen antreten, so medico international. So erhalte »Unsere Freiheit wird am Hindukusch verteidigt« einen zynischen Beigeschmack.
Ebenso verärgert und verzweifelt äußert sich eine inoffizielle Gewerkschaft der deutschen Ortskräfte: »Afghanistan ist komplett von Taliban besetzt, was auch immer sie entscheiden wird Gesetz. Die deutsche Regierung sucht immer noch nach einer mikroskopischen Chance um einheimische Mitarbeiter:innen, die nicht in ein oder zwei Tagen abgeschlachtet werden, weiter zurückzulassen«.
Auch wenn viele nach einer erneute Intervention in Afghanistan rufen, um die Zivilbevölkerung zu schützen, so muss gesagt werden, dass der Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan ist überfällig. Er offenbart das Fiasko, das der imperialistische Krieg angerichtet hat, meint Christine Buchholz in Demokratie lässt sich nicht herbeibomben.
Der vergebene Wille zur Selbstverteidigung
Weitaus emanzipatorischer Widerstand gegen die Taliban formierte sich im letzten Monat durch bewaffnete afghanische Frauen im Norden und in der Mitte des Landes, wie der Guardian [englisch] berichtete. Sie gingen auf die Straße, um den Taliban zu trotzen und für ihre Rechte zu demonstrieren, während die Kämpfer landesweit große Fortschritte machten.
Eine Universitätsstudentin berichtet [englisch] von ängstlichen Gesichter von Frauen und hässlichen Gesichter von Männern, die Frauen hassen und dass sie alles verbrennen muss, was sie erreicht habe. Die Zukunft der feministischen Bewegung in Afghanistan ist ungewiss und dabei zu versiegen.
Der deutsche Abzug: eine Nacht-und-Nebel-Aktion
Am 15. August 2021, weniger als einen Monat nach Abzug der internationalen Truppen, darunter auch die deutschen Verbände, haben die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul eingenommen und nach 20 Jahren die Kontrolle über das Land am Hindukusch zurückgewonnen. Die abziehenden Truppen lassen eine enttäuschte Bevölkerung zurück, die befürchten muss, dass sie die in den letzten 20 Jahren langsam gewonnenen Freiheiten schon bald wieder verlieren wird. Welche Perspektiven das waren und welche bleiben, berichtete Silke Diettrich in radioeins – Ferngespräche des rbb. Nachdem die internationale Gemeinschaft die Taliban jahrzehntelang bekämpfte, habe sie verstanden, dass es Frieden in Afghanistan nur mit und nicht gegen die Islamisten gebe.
Praktische Solidarität ist das Wort der Stunde
Mit einer klareren Haltung endend: Um den Weg zu einem solchen Frieden zu ebnen waren die Militärs der NATO das falsche Mittel. Westlich-imperiales Denken und militärische Überheblichkeit haben den Taliban Unterstützer:innen zugespielt, die es mittel zivilem Engagement nie gegeben hätte. Der Drohnenkrieg der Bush- und Obama-Administration war ein Völkerrechtsverbrechen für das die USA nie zur Rechenschaft gezogen wurden und dessen Konsequenzen nun die Zivilbevölkerung tragen darf – erneut. Die von den USA und Deutschland ausgerüsteten afghanischen Streitkräfte haben sich den Taliban ergeben und somit sind es von nun an deutsche Waffen mit denen Zivilist:innen ermordet werden. Um jetzt Menschenleben zu retten muss die internationale Gemeinschaft und damit auch Deutschland den Menschen Asyl anbieten, die auf deutsche Anwesenheit in Afghanistan vertrauten, die nun im Stich gelassen werden und denen der Tod durch die Taliban droht. Die chaotischen Bilder und panischen Menschenmassen in Kabul vom 15. August werfen dunkle Schatten voraus, was noch kommen mag.
Es braucht eine sofortige Evakuierung aller Afghan:innen, die das Land verlassen wollen. Eine bedingungslose Aufnahme von Geflüchteten, so wie es auch zuvor der Fall hätte sein müssen, ist jetzt notwendiger denn je. Ihnen muss ohne Umstände Asyl gewährt werden. Sofort. Hierzu zählen auch Ortskräfte, die aufgrund ihrer Tätigkeiten für die Imperialisten jetzt in Gefahr stehen. Hoch die internationale Solidarität.
Bild: Wikimedia / Abdulbasir Ilgor (VOA)
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