Bei der Explosion einer Autobombe in der afghanischen Hauptstadt Kabul sind dutzende Menschen getötet und Hunderte verletzt worden. Auch die deutsche Botschaft ist schwer beschädigt worden. Innenminister de Maizière hat nun eine Sammelabschiebung nach Afghanistan gestoppt. Doch trotz der katastrophalen Sicherheitslage wollen er und die Bundesregierung weiter an dem Plan festhalten, mehr als 12.000 Geflüchtete zurück nach Afghanistan zu schicken. Wir sprachen mit der afghanischen Aktivistin Malalai Joya über die aktuelle Situation in Afghanistan
Die deutsche Regierung geht davon aus, dass Afghanistan »ein sicheres Land« sei. Als Konsequenz daraus haben Geflüchtete kaum eine Chance, dass ihnen Asyl gewährt wird. Ist Afghanistan wirklich sicher?
Leider ist die Sicherheitslage überall in Afghanistan miserabel und sie wird von Jahr zu Jahr schlechter. Der jüngste Anschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul ist nur die Spitze des Eisberges. Die Bevölkerung lebt in ständiger Angst. Die Taliban, der »Islamische Staat« (IS), dschihadistische Warlords in der Regierung und die ausländischen Besatzer machen Afghanistan zu einem unsicheren Ort. Allein in Kabul sterben jeden Monat viele Menschen durch Raketenangriffe oder Selbstmordattentate. Man weiß nicht, ob man abends lebend zurückkehren wird, wenn man morgens die Wohnung verlässt. Wenn das die Lage in der Hauptstadt ist, kann man sich die Situation in den isolierten Provinzen leicht vorstellen. In der Provinz Farah ist nur eine Stadt unter der Kontrolle der Regierung, den Rest kontrollieren die Taliban. Alle Mädchenschulen wurden geschlossen. Häufig töten die Taliban Menschen, die für die Regierung arbeiten. Alle Straßen nach Farah stehen unter ihrer Beobachtung und, wenn sie jemanden von der afghanischen Armee oder der Polizei entdecken, wird er vor Ort hingerichtet. In anderen Provinzen Afghanistans ist die Lage ähnlich. Die Ermordung von Menschen durch Drohnen und Flugzeuge der USA beziehungsweise der Nato, die unterdrückerische Herrschaft der Warlords, kriminelle Milizen, die Drogenmafia, über drei Million Drogensüchtige, Armut und Arbeitslosigkeit – das alles macht Afghanistan zu einem extrem unsicheren Land. Leider muss man sagen, dass Afghanistan vor 2001 unter der Herrschaft der Taliban viel sicherer war, als es heute ist.
Was sind die Ziele der westlichen Besatzungskräfte in Afghanistan?
Zuerst will ich darauf hinweisen, dass ausländische Soldaten Werkzeuge in den Händen ihrer Regierungen sind, die sie für ihre eigenen Interessen ausnutzen. Eigentlich sind diese Soldaten Opfer der kriegstreibenden Politik ihrer Regierungen. Der sogenannte »Krieg gegen den Terror« ist die größte Lüge des Jahrhunderts. In Afghanistan erleben wir, dass die USA und die Nato direkt und indirekt die gefährlichsten Terroristen unterstützen und bewaffnen. Der Terrorismus ist immer noch eine strategische Waffe in den Händen des Weißen Hauses mit dem Ziel, Asien zu destabilisieren und den wirtschaftlichen und militärischen Fortschritt von Russland, China und anderen Rivalen zu blockieren. Das ist das Hauptziel der USA in unserem Land. Deshalb haben sie riesige Stützpunkte aufgebaut und ihre größten Waffen in unserem Land stationiert. Der Test der MOAB, der sprengkräftigsten Fliegerbombe der US-Streitkräfte, vor einigen Tagen beweist, dass die USA in unserem Land sind, um ihre Hegemonie über die Region zu sichern.
Wie hat sich Afghanistan durch die militärische Intervention des Westens verändert?
Die Intervention hat Afghanistan keineswegs positiv verändert. Stattdessen hat sie das Land noch tiefer ins Elend und die Tragödie gerissen. Der Westen und die USA brachten die islamisch-fundamentalistischen Kriminellen zurück an die Macht. Sie sind für die totale Vernichtung unseres Landes verantwortlich, deren Auswirkungen heute immer noch zu spüren sind. Wir sind unter der US-amerikanischen Besatzung weder unabhängig noch frei. Von Demokratie und Frauenrechten unter der Herrschaft von frauenfeindlichen, fundamentalistischen Verrätern ganz zu schweigen. Das Gerede über diese Werte in unserem Land ist blanker Hohn gegenüber unserem gequälten Volk. Die USA begehen bis zum heutigen Tag Kriegsverbrechen an der Bevölkerung. Morde, Bombardierung, Folter, gesetzeswidrige und unbegrenzte Inhaftierungen und die Verwendung von gesundheitsschädlichen Chemikalien in Waffen sind nur einige Beispiele. Die Besatzer der USA und der Nato genießen vollständige Straffreiheit für ihre Verbrechen dank einer bilateralen Sicherheitsvereinbarung, die von der verräterischen afghanischen Regierung und der kriminellen Regierung der USA unterzeichnet wurde. Jetzt, nach dem Abwurf der MOAB, hat unser Volk Angst davor, dass Afghanistan zum Testboden des Wettrüstens zwischen den Supermächten wird.
Heute gehören die Raten von Gewalt gegen Frauen und die der Müttersterblichkeit in Afghanistan zu den höchsten der Welt. Jedes Jahr steigen die Zahlen weiter. In Gebieten, die unter der Kontrolle von frauenfeindlichen Kräften wie Taliban, IS und fundamentalistischen Warlords stehen, sind die Frauen so unterdrückt wie zu Zeiten der Taliban. Kriminelle und mächtige Warlords, die sich an Verbrechen gegen Frauen beteiligt haben, genießen völlige Straffreiheit. Das führt dazu, dass viele Frauen keine andere Lösung für ihr Leiden sehen, als Selbstmord zu begehen. Die Besatzung hat unsere Probleme nur vergrößert. Wie ich in der Vergangenheit gesagt habe und noch einmal wiederhole, kommen Demokratie, Frieden, Gerechtigkeit und Menschenrechte niemals durch einen militärischen Einmarsch. Solange unser Land von den USA und der Nato besetzt wird, wird unser Volk nicht in Sicherheit und Stabilität leben können.
Am 22. April griffen die Taliban einen Militärstützpunkt in Mazar-i-Sharif an. 140 afghanische Soldaten wurden getötet und 130 verletzt. Warum sind die Taliban immer noch stark?
Heute bekommen die Taliban Waffen von Iran, Russland, Pakistan und anderen Ländern, da auch sie ihre Interessen in der Region durchsetzen wollen. Die USA beobachten die Situation und bewegen sich nur dort, wo ihre Interessen bedroht werden. Das kann kein Krieg gegen die Taliban oder den Terrorismus sein. Die USA sind eine Supermacht, die sich mit noch nie gesehenen militärischen Fähigkeiten rühmt, aber sie sind unfähig, eine Gruppe von ungebildeten, schwachen Kämpfern niederzuschlagen! Die afghanische Armee und die Polizei sind von Analphabetentum, Drogenproblemen und Korruption durchtränkt. Hohe Offiziere sind in Korruption auf höchster Ebene verwickelt und interessieren sich überhaupt nicht für die armen Soldaten, die ihr Leben an der Front aufs Spiel setzen. Hochrangige Beamte werden sogar beschuldigt, in Angriffe auf diese unschuldigen Soldaten verwickelt zu sein. Die Opfer dieses Kriegs sind Zivilisten und die Soldaten, die der Armee beigetreten sind, um das Überleben ihrer Familien zu sichern.
Es gibt auch Berichte über Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten, Politikerinnen und Politiker. Unter welchen Bedingungen ist politische Arbeit möglich?
Während westliche Regierungen über Demokratie in Afghanistan reden, verfügt unser Volk nicht einmal über den elementarsten Bestandteil der Demokratie, die Redefreiheit. Diejenigen tapferen Journalistinnen und Journalisten, die es gewagt haben, die Wahrheit zu senden, wurden entführt, bekamen Morddrohungen, wurden verletzt oder getötet, mussten das Land verlassen oder wurden gezwungen, die Wahrheit zu verschweigen. Politikerinnen und Politiker sind in der gleichen Situation. Das Klima der Angst und der Brutalität machen die Arbeit all derjenigen sehr schwer, die die Wahrheit sagen. Ich zum Beispiel bin dazu gezwungen, im Untergrund zu leben, und kann nicht in der Öffentlichkeit erscheinen.
Die Bundesregierung hat vor, mehr als 12.000 Afghaninnen und Afghanen aus Deutschland nach Afghanistan abzuschieben. Was steht den Abgeschobenen nach ihrer Rückkehr bevor?
Ich verurteile die Zwangsabschiebung von Geflüchteten. Die Mehrheit unserer Leute haben ihre Länder wegen der Sicherheitslage und der Finanzkrise verlassen. Der Westen, einschließlich Deutschland, ist für die elende Lage in Afghanistan, Irak und Syrien verantwortlich. Die Vereinbarung mit dem unterdrückerischen Regime in der Türkei ist entsetzlich. Alle wissen, dass das Regime den IS in Syrien und Irak unterstützt und die kurdischen fortschrittlichen Kräfte unterdrückt, die die einzige Gegenmacht gegen den IS in der Region sind. Wenn man einem solchen Regime Milliarden von Euro gibt, unterstützt man indirekt den IS. Und wenn man das Schicksal der Flüchtlinge in die Hände eines solchen Regimes legt, schenkt man dem IS eine gute Gelegenheit, Jugendliche für terroristische Gruppen zu rekrutieren.
Mehr als 6000 afghanische Hindus und Sikhs leben in Deutschland. Viele von ihnen haben die deutsche Staatsbürgerschaft, aber etwa ein Drittel ist jetzt von Abschiebung bedroht. Dürfen Hindus und Sikhs ungehindert ihre Religion in Afghanistan praktizieren?
Während mehr als drei Jahrzehnten Krieg in Afghanistan wurden fast alle anderen Ethnien und Religionsgemeinschaften von den Fundamentalisten unterdrückt. Aber keine von ihnen erfuhr mehr Diskriminierung und Verfolgung als die Hindus und Sikhs. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt, sie durften ihre religiösen Rituale nicht praktizieren, und sie wurden bedroht und getötet. Man kann sagen, dass das Leben für die Hindus und Sikhs wirklich unerträglich ist – daher sind nur noch etwa 250 Familien von über 250.000 übrig, die anderen mussten das Land verlassen.
Die Bundesregierung wird weiterhin ihre Politik der Sammelabschiebungen nach Afghanistan verfolgen. Dieses Jahr sind Bundestagswahlen und die Rechten werden die Frage der Flüchtlingspolitik, der Abschiebungen und der inneren Sicherheit besetzen. Was erwartest du von den Linken?
Wir brauchen die internationale Solidarität aller gerechtigkeitsliebenden, friedensliebenden und fortschrittlichen Bewegungen, Personen, Parteien und Aktivisten der Welt, die ihre Stimmen gegen Besatzung und Krieg erheben. Was die Abschiebung von Geflüchteten angeht, bitten wir euch, eure Stimmen gegen die Beteiligung eurer Regierung am Krieg in Afghanistan und gegen die Unterstützung eines korrupten und mafiösen Marionettenregimes zu erheben. Westliche Länder, einschließlich Deutschland, sind für die gegenwärtige verzweifelte Lage und die Fluchtwelle in Afghanistan verantwortlich. Wenn die Regierung gegenüber dem afghanischen Volk ehrlich ist, muss sie fortschrittliche Kräfte und Aktivistinnen unterstützen und nicht kriminelle Terroristen, egal in wessem Namen sie handeln. Wenn afghanische Beamte, die Menschenrechte verletzt und Korruption begangen haben, in euer Land als offizielle Gäste eingeladen werden, erhebt eure Stimmen, organisiert Proteste und entlarvt sie vor der deutschen Öffentlichkeit.
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