In der diesjährigen Tarifrunde im öffentlichen Dienst kam es bereits nach der zweiten Warnstreikwelle zu einem Ergebnis am Verhandlungstisch. Welche potenzielle Sprengkraft diese Tarifrunden jedoch haben, zeigt Jürgen Ehlers‘ Blick in die Vergangenheit
Wie politische Erdbeben wirkten die Tarifrunden im öffentlichen Dienst in den Jahre 1974 und 1992. In beiden Fällen ging es den Regierungen darum, über den öffentlichen Dienst insgesamt die Löhne zu drücken. Die Kraftprobe endete jeweils mit einer Niederlage der Regierung. Im Jahr 1974 führte dies letztendlich zum Sturz eines sozialdemokratischen Kanzlers, der konservative kam 1992 mit einem blauen Auge davon.
Der Name Willy Brandt steht für die erfolgreichen Jahre der SPD. Die Bildung einer sozial-liberalen Koalition im Jahr 1969 hatte immense Erwartungen an die Reformpolitik der Regierung geweckt. Zu Beginn der 1970er Jahre hatte die SPD über eine Million Mitglieder. Bei der Bundestagswahl 1972 lag die Wahlbeteiligung bei 90 Prozent, die SPD erzielte 45,8 Prozent der Stimmen. Ein Vierteljahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkriegs hofften ihre Anhänger, die Partei würde ihr altes Versprechen, den Kapitalismus gerechter zu machen, endlich einlösen können.
Willy Brandt verweigert Umverteilung
Nicht einmal zwei Jahre später wurden die hochgesteckten Erwartungen jedoch bereits deutlich gedämpft. Mitte der 1970er Jahre ging der Nachkriegsboom endgültig zu Ende. Damit war eine Finanzierung von Reformen nur noch durch eine Umverteilung von oben nach unten möglich. Dazu aber war die SPD nicht bereit.
In den Jahren davor hatte eine selbstbewusste Arbeiterklasse die steigenden Gewinne der Unternehmen für sich genutzt, um bis zu zweistellige Lohnzuwächse durchzusetzen. Oft hatten die Beschäftigten Arbeitskämpfe auch gegen den Willen der Gewerkschaftsführung geführt. Die Tarifrunde für den öffentlichen Dienst im Jahr 1974 fand in einem Spannungsfeld zwischen Selbstbewusstsein und Reformeuphorie auf der einen und dem Versuch der SPD, gegenzusteuern, statt. Denn es zeichnete sich bereits ab, dass das Wirtschaftswachstum deutlich niedriger ausfallen würde als im Jahr zuvor.
Mit Mühe kontrolliert
Die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) – heute die größte Fachgruppe in ver.di – forderte 15 Prozent mehr Lohn und zusätzliches Urlaubsgeld. Besonders wichtig war dabei der Sockelbetrag von 185 DM für alle Beschäftigten.
Es hatte die Gewerkschaftsführung einige Mühe gekostet, die Forderung auf diese Höhe zu begrenzen. Eine starke Minderheit an der Basis nahm sich ein Beispiel an den Forderungen der unkontrollierten, spontanen Streikbewegung von angelernten Industriearbeitern aus dem Jahr 1973. Sie forderten zwanzig Prozent. Der zusätzliche Sockelbetrag war das Zugeständnis der Gewerkschaftsführung an die unteren und mittleren Einkommensgruppen.
Spontane Streiks
Ein niedriger Tarifabschluss im vorherigen Jahr und hohe Teuerungsraten hatten zu Reallohnverlusten geführt. Unzufriedenheit breitete sich aus. Die harten Verhandlungen zwischen den Tarifparteien wurden von einer breiten Warnstreikwelle begleitet. Trotz straffer Organisation konnte die ÖTV-Führung nicht verhindern, dass es bei diesem Warmlaufen bereits zu spontanen Arbeitsniederlegungen kam.
Als der Konflikt sich zuspitzte, setzte die Gewerkschaft einen drohenden Kontrollverlust gezielt ein, um die Regierung unter Druck zu setzen. Die öffentlichen Arbeitgeber erhöhten ihr Angebot auf 9,5 Prozent. Damit blieben sie knapp innerhalb der von Bundeskanzler Brandt vorgegebenen Grenze einer einstelligen Einkommenserhöhung. Angesichts der schlechten Konjunkturprognosen wollte die Regierung mit dieser Vorgabe eine Art Lohnleitlinie durchsetzen, um den öffentlichen Haushalt zu entlasten und die Profite der Unternehmen zu sichern. Eine Provokation für die Mitglieder und die Führung der ÖTV, denn damit wären weitere Verhandlungen sinnlos geworden.
Massenstreik und Hetzkampagne
Im Februar 1974 gab es eine Urabstimmung über den ersten großen Streik im öffentlichen Dienst seit dem Jahr 1958, 91 Prozent stimmten dafür. Es folgte ein bürokratisch organisierter Massenstreik, an dem sich 200.000 Mitglieder beteiligten. Bereits nach drei Streiktagen knickten die Arbeitgeber ein. Sie stimmten einer Erhöhung der Einkommen um elf Prozent zu.
Die Warnstreiks und der Streik selbst wurden von einer massiven Hetzkampagne begleitet. Bis heute gilt Heinz Kluncker, der damalige ÖTV-Vorsitzende, als Hauptverantwortlicher für den Sturz von Willy Brandt. Klaus Harpprecht, Brandts ehemaliger Redenschreiber, schrieb 1999 im »Manager-Magazin«: »Kluncker wollte die Kapitulation. Und er bekam sie. (…) das war der Anfang vom Ende der Kanzlerschaft Brandts. Den dicken Kluncker kümmerte das nicht.«
ÖTV-Mitglieder waren SPD-Wähler
Dabei wird geflissentlich übersehen, dass die große Mehrheit der ÖTV-Mitglieder in den mittleren und niedrigen Einkommensstufen damals Wählerinnen und Wähler und sogar Mitglieder der SPD waren. Sie waren es, die mit ihren Arbeitsniederlegungen als Müllwerker, Postzusteller und Fahrer im öffentlichen Nahverkehr einen Erfolg erstreikt hatten.
Kluncker wollte keine Zuspitzung der Auseinandersetzung, denn die ÖTV-Führung wusste um die streikerfahrenen und selbstbewussten Basisstrukturen in ihrer eigenen Mitgliedschaft. Sie hatte mit Sorge die spontanen, unkontrollierten Streiks vor allem in der Metallindustrie beobachtet, die erst wenige Jahre zurücklagen. Brandt wollte mit dem Tarifabschluss im öffentlichen Dienst Lohnleitlinien durchsetzen. Doch er war nicht darauf vorbereitet, hart dafür zu kämpfen. Das wurde ihm zum Verhängnis.
Aus Willy Brandts Niederlage lernen
Diesen Fehler wollte Bundeskanzler Helmut Kohl in den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst 1992 nicht wiederholen. Er hatte die Niederlage Brandts genau studiert und kündigte mit den Worten »Ich bin nicht Willy Brandt« ein hartes Vorgehen an. Die damalige Regierung aus CDU und FDP sah sich mit wachsender Kritik der Arbeitgeber konfrontiert. Diese forderten arbeitsmarktpolitische Reformen, um die Tariflöhne unter Druck setzen zu können. Kohl konnte diese Forderungen nicht erfüllen, denn eine offene Konfrontation mit allen Gewerkschaften hätte er zu diesem Zeitpunkt politisch nicht überlebt. Für eine große Lösung, wie sie später der sozialdemokratische Kanzler Schröder mit der Agenda 2010 durchsetzte, fühlte er sich nicht stark genug. Deshalb suchte er nach einer kleineren Lösung.
Mit der Tarifrunde im öffentlichen Dienst wollte er die Lohnkosten drücken und damit eine »tarifpolitische Wende« einläuten. Die Verhandlungsführerin der Arbeitgeber – die SPD-Ministerpräsidentin in Schleswig-Holstein, Heide Simonis – und die ÖTV-Führung hatten sich bereits auf einen Schlichterspruch geeinigt, der eine Einkommenserhöhung von 5,4 Prozent vorsah. Diesen lehnte der Kanzler jedoch ab. Die ÖTV nahm die Herausforderung an. Sie sah ihren Status als Verhandlungspartner auf Augenhöhe in Frage gestellt und mobilisierte ihre Mitglieder. Kohl sollte gezwungen werden, den Schlichterspruch zu akzeptieren.
Niedergang der Gewerkschaftsbewegung
Mit dem dreitägigen Streik 1974 hatte die ÖTV-Führung mit minimalem Aufwand eine maximale Wirkung erzielen können. Im Jahr 1992 war klar, dass es wesentlich schwieriger sein würde, einen Erfolg zu erzielen. Der Gegner war entschlossener und in den 1980er Jahren hatte die Gewerkschaftsbewegung einen Niedergang erlebt. Die selbstbewussten und gut organisierten Basisstrukturen der 1970er Jahre gab es nicht mehr.
Trotzdem war die Streikbeteiligung im Jahr 1992 so hoch wie nie zuvor im öffentlichen Dienst.
Zwei Jahre nach der Wiedervereinigung hatte sich Kohls Versprechen, das alle von ihr profitieren würden, als plumpe Täuschung entpuppt. Während westdeutsche Unternehmen sich bereicherten, sollten die abhängig Beschäftigten in Ost und West dafür bezahlen. Die Wiedervereinigung sorgte im Westen für einen Wirtschaftsboom, weil der Absatzmarkt wuchs und reichlich Subventionen flossen. Im Osten stieg die Arbeitslosigkeit rasch an.
Streik entwickelt Dynamik
Zudem machte Kohl mit seiner Provokation zum wiederholten Mal deutlich, dass er Gewerkschaften nur als unvermeidliches Übel betrachtete.
Bereits in der ersten Streikwoche beteiligten sich fast eine halbe Million Beschäftigte. In der zweiten wurden es noch mehr. Der Arbeitskampf entwickelte eine Dynamik, die zeigte, dass die Basis bereit war, aus der Abwehr gegen Kohls Vorgehen zum Angriff überzugehen. Flughäfen wurden stillgelegt, Busse und Bahnen fielen aus, Straßenreinigung und Müllabfuhr wurden bestreikt, die Post nicht mehr ausgetragen und Kitas waren geschlossen. Mit jedem Streiktag stiegen die Erwartungen an das Ergebnis. »Wir streiken nicht für den Schlichterspruch, eine 6 vor dem Komma muss jetzt schon sein«, hieß es. Angesichts dieser selbstbewussten Töne signalisierte die Regierung dann doch Verhandlungsbereitschaft. Sie musste fürchten, dass es ihr an den Kragen ginge.
Desaster für Helmut Kohl
Kohls Angriff endete für ihn in einem politischen Desaster: Er musste den Schlichterspruch annehmen. Der Streikabbruch durch die ÖTV-Führung, die fürchtete, die Kontrolle über ihre Mitgliedschaft zu verlieren, rettete seine Kanzlerschaft. Im Gegensatz zu Brandt musste er keine parteiinternen Kritiker fürchten. In Erwartung eines sicheren Siegs hatten sich in der CDU alle um ihn geschart.
Ermutigt durch den Arbeitskampf im öffentlichen Dienst gab es auch in anderen Branchen Proteste und Streiks. Zum ersten Mal seit der Wahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler im Jahr 1982 verschob sich das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital wieder zu Gunsten der Beschäftigten.
Offener Konflikt in der Gewerkschaft
In der Gewerkschaft ÖTV kam es zu einem offenen Konflikt zwischen Führung und Basis. Ohne vorherige Diskussion und gegen den Willen der Mehrheit der Mitglieder hatte die Führung einen zwölftägigen Streik einfach abgebrochen. Die Urabstimmung über den Schlichterspruch wurde für die Führung zum Desaster. 56 Prozent stimmten dagegen, bei den Beschäftigten in den unteren Lohngruppen war die Ablehnung noch viel größer. Die Müllwerker in Ludwigshafen zum Beispiel stimmten zu 98 Prozent gegen das Ergebnis.
Von den rund 60.000 neuen Mitgliedern, die im Streikjahr 1992 gewonnen wurden, ging die Hälfte bereits im Folgejahr wieder verloren. Noch schmerzhafter war allerdings der Rückzug vieler Ehrenamtlicher, die im Streik aktiviert und politisiert worden waren, aus der Gewerkschaftsarbeit. Damit war der Versuch, die verlorenen Basisstrukturen wiederaufzubauen, zum Scheitern verurteilt.
Basisstrukturen aufbauen
Auch heute stehen wir vor einem mühsamen Aufbau von Basisstrukturen. Überall dort, wo es zu Interessenskonflikten mit Arbeitskämpfen kommt, bieten sich gute Entwicklungsmöglichkeiten. In Teilen der mittleren Führungsebene der Gewerkschaften gibt es ein Umdenken. Denn die Demokratisierung in Verbindung mit einer konfliktfreudigeren Interessenpolitik erhöht die Handlungsfähigkeit von Gewerkschaften – oder stellt sie überhaupt erst her. Das ist kein Ersatz für den Aufbau von Basisstrukturen, kann ihn aber unterstützen. Letztendlich kann man die Politik der Gewerkschaften nur durch eine breite und aktive Basis beeinflussen.
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Schlagwörter: Geschichte, Helmut Kohl, Massenstreik, Öffentlicher Dienst, SPD, Streik, Tarifrunde, Warnstreik, Willy Brandt