Der Name marx21 ist Programm: Wir halten den Marxismus nicht für eine Theorie aus der Mottenkiste. Im Gegenteil: Marxistische Theorie hilft uns, die moderne kapitalistische Welt des 21. Jahrhunderts zu verstehen und zum Besseren zu verändern. In einer neuen Serie wollen wir die Grundlagen des Marxismus darstellen. Wir beginnen mit der marxschen Auffassung von Geschichte.
Die am weitesten verbreitete Geschichtsauffassung ist zugleich auch die kindischste: Geschichte wird als Ergebnis des Handelns großer Männer (in Ausnahmefällen auch großer Frauen) betrachtet, von Königen und Politikern, Generälen und Geistlichen, Künstlern und Filmstars. Eine derartige Geschichtsauffassung kann bis in die Antike oder auch zu den Chronisten des Mittelalters zurückverfolgt werden, die über die Taten der Monarchen und der Adligen, ihre Feste, Kriege und Ehebrüche berichteten.
Im Fernsehen und in den Schlagzeilen der Regenbogenpresse wird uns mit modernster Technik immer noch diese Auffassung aufgetischt. Es hat aber immer Menschen gegeben, die sich mit dieser oberflächlichen Geschichtsauffassung nicht zufrieden gaben und die hinter dem Ablauf der Geschehnisse eine grundlegendere Gesetzmäßigkeit am Werk zu sehen glaubten.
Im Mittelalter führte die ideologische Vorherrschaft der Kirche dazu, dass diese Gesetzmäßigkeit in religiöse Begriffe gefasst wurde. Im Handeln von Männern und Frauen sah man das Werk göttlicher Vorsehung. Während die Menschen ihre eigenen Wünsche und Interessen verfolgten, verwirklichten sie unbewusst den göttlichen Plan für das Universum. Mit seiner Vorstellung von Geschichte als Prozess, durch den der absolute Geist zur Selbsterkenntnis kommt, war Hegel der letzte große christliche Philosoph. Die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts führte zu einer weltlichen Auffassung von Geschichte, in der Gott keine Rolle mehr spielte. Trotzdem sah die Aufklärung in der Geschichte ein Muster, nämlich den »Fortschritt des menschlichen Geistes«. Geschichte war die Erzählung von der wachsenden Macht der Vernunft, ihres ständigen Kampfs mit dem Aberglauben und ihres schrittweisen, aber unvermeidlichen Sieges. Diese Auffassung war zugleich idealistisch, weil sie Ideen für den Motor geschichtlichen Wandels hielt, und optimistisch, weil sie dem Glauben anhing, die Gesellschaft schreite im Zuge der zunehmenden Aufklärung der Menschen stetig voran.
Das Geschichtsbild der Aufklärung erschien im 18. und 19. Jahrhundert weitgehend plausibel, da zumindest die westliche Welt ungebrochenen materiellen und wissenschaftlichen Fortschritt erlebte. Heute überzeugt das nicht mehr: Im 20. Jahrhundert häuften sich die Katastrophen – es gab zwei zerstörerische Weltkriege, den Horror der nationalsozialistischen Konzentrationslager und den Schrecken der Zwangsarbeitslager des stalinistischen Russlands sowie das obszöne Nebeneinander von westlicher Überflussgesellschaft und massenhaftem Hungertod in der »Dritten Welt«. Der technische Fortschritt hat sich derart beschleunigt, dass unsere Kontrolle über die Natur gerade in den vergangenen Jahrzehnten gewaltige Sprünge gemacht hat. Doch das Ergebnis dieses Fortschritts kann genauso gut die Vernichtung der Menschheit, sogar der Erde selbst sein, sei es durch zerstörerischen Raubbau an der Natur oder technisch perfekte Massenvernichtungswaffen.
Es überrascht nicht, wenn viele Leute angesichts dieser Widersprüche jegliche Gesetzmäßigkeit der Geschichte in Abrede stellen. Für sie ist Geschichte ein sinnloses Chaos schrecklicher Ereignisse – »eine Abfolge von Notständen«, wie es der liberale britische Historiker Herbert Fisher einmal formulierte. »Die Geschichte ist ein Albtraum, aus dem ich zu erwachen versuche«, schrieb James Joyce und sprach damit vielen aus der Seele. Es war in diesem schrecklichen Jahrhundert verlockend, jeden Versuch, die Welt zu verändern, aufzugeben und in persönlichen Beziehungen oder Erfolgen Zuflucht zu suchen – Talent und wirtschaftliches Potenzial vorausgesetzt.
Die Geschichtstheorie von Karl Marx ist ein Angriff sowohl auf den oberflächlichen Optimismus der Aufklärung als auch auf die modernere Auffassung von Geschichte als reinem Chaos. Für Marx hat die Geschichte eine Gesetzmäßigkeit, doch diese besteht nicht im »Fortschreiten des menschlichen Geistes«.
Marx’ Ausgangspunkt ist nicht das Denken, sondern »die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigene Aktion erzeugten«.
Marx geht vom Handeln aus, nicht vom Denken
Schon in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 hat Marx die Menschen zuerst als Produzenten definiert. Ihre Produktion habe zwei Aspekte: einen materiellen und einen gesellschaftlichen. Erstens wirken die Menschen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse auf die Natur ein und gestalten sie dabei um. Zweitens ist Produktion ein gesellschaftlicher Prozess, in dem Menschen zur Herstellung der benötigten Güter zusammenarbeiten. Dabei treten die Beteiligten immer in gesellschaftliche Beziehungen miteinander, bei denen es vor allem um die Kontrolle des Produktionsprozesses und die Verteilung der Produkte geht.
Marx sprach in Bezug auf den ersten Aspekt von Produktivkräften, und in Bezug auf den zweiten von Produktionsverhältnissen.
Die Beschaffenheit der Produktivkräfte in einer bestimmten Gesellschaft hängt vom »Arbeitsprozess« ab, wie Marx es nennt, durch den die Menschen auf die Natur einwirken und sie umgestalten. Er schreibt: »Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert.«
Beginnen wir mit einem groben Umriss, wie die Menschen ihre Bedürfnisse zu befriedigen begannen. Die ersten Menschen lebten von der Jagd – dazu brauchten sie ihre eigene Kraft und Geschicklichkeit sowie Waffen, scharfkantige Stöcke oder Steine, die sie vorfanden, oder Speere und Äxte, die sie herstellten. Dann begannen die Menschen, den Boden zu bearbeiten und Nahrung anzupflanzen – wieder benötigten sie ihre eigene Kraft und Fähigkeiten und noch bessere Werkzeuge. Und in neuerer Zeit gibt es die fabrikmäßige Produktion – für die wiederum die Natur die Rohstoffe zur Verfügung stellt und die Menschen ihre Arbeitskraft. Dabei verwenden wir immer ausgefeiltere Werkzeuge wie Maschinen und Computer.
In diesen Beispielen können wir drei Bestandteile ausmachen. Erstens gibt es die »Natur«, die Tiere, die gejagt werden, den Samen, der ausgesät wird, den Boden, auf dem er wächst, die Rohstoffe, die in den Fabriken verarbeitet werden. Zweitens gibt es die menschliche Arbeit. Und drittens gibt es Werkzeuge, ob nun Jagdspeere, Pflüge oder Computer.
Marx ordnete diese Bestandteile in zwei Kategorien. Der Arbeitsprozess, sagt er, besteht aus zwei Grundelementen, der menschlichen Arbeitskraft und den Produktionsmitteln. Die Produktionsmittel teilt er wiederum in zwei Bestandteile auf: den Boden und die Rohstoffe, die zu neuen Produkten verarbeitet werden – diese nennt er »Arbeitsgegenstände« – und die Werkzeuge, die wir benutzen – diese nennt er »Arbeitsmittel«.
Diese Werkzeuge, sagt Marx, sind das entscheidende Element im Arbeitsprozess. Das, was die menschliche Arbeit zustande bringen kann, hängt von den Werkzeugen ab, die ihr zur Verfügung stehen. Die Organisation des Arbeitsprozesses, zum Beispiel die Arbeitsteilung, ist an sich noch nicht konstituierend für das Wesen der zu untersuchenden Gesellschaft. Zwischen einer Brandrodungslandwirtschaft »primitiver« Gesellschaften und einer modernen Fließbandproduktion liegen Welten. Den Unterschied macht vor allem die wissenschaftliche und technische Entwicklung. Sie erlaubt uns heute, viel volkommenere Arbeitsmittel zu benutzen.
Damit sind materielle Bedingungen für den Arbeitsprozess vorgegeben – unabhängig davon, welche sozialen Beziehungen die am Arbeitsprozess Beteiligten untereinander eingehen. Um beispielsweise ein Auto zu produzieren, müssen wir über die technischen Fähigkeiten und die wissenschaftlichen Kenntnisse verfügen, die notwendig sind, um einen Verbrennungsmotor zu konstruieren; wir müssen Metall bearbeiten, um die Karosserie zu bauen, Gummi zapfen und in Reifen verwandeln, Benzin herstellen, das das Auto mit Energie versorgt.
Diese Fähigkeiten sind historische Errungenschaften, die die wachsende Macht der Menschen über die Natur zeigen. Sie werden in einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft genauso wie im Kapitalismus gebraucht. Der Arbeitsprozess spiegelt also immer die Entwicklung der Technik in einer Gesellschaft wider, welche von unserem theoretischen Wissen und unseren praktischen Fertigkeiten abhängt. Verbesserungen im Arbeitsprozess erlauben es uns, die gleiche Menge von Bedarfsgegenständen mit einer geringeren Menge Arbeit zu produzieren. Deshalb reduzieren technische Verbesserungen für die Menschheit potenziell die Last der materiellen Produktion. Zugleich machen sie uns weniger abhängig von unserer natürlichen Umwelt. Sie vergrößern unsere Kontrolle über die Natur.
Heute hängen Knappheit oder Überfluss nicht mehr davon ab, ob der Sommer gut oder schlecht war. Marx glaubte, dass diese Entwicklung der Produktivkräfte kumulativ sei.
Anders gesagt, die technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften einer Gesellschaft bilden die Grundlage, auf der nachfolgende Gesellschaften aufbauen können. Marx argumentiert, dass dies ein Prozess ist, der sich durch die ganze menschliche Geschichte fortsetzt, von der neolithischen Revolution, in der die Menschen erstmals begannen, Land zu bebauen, zu ernten und Haustiere zu halten, bis zur industriellen Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Entwicklung der Produktivkräfte ist eine notwendige Bedingung für jede Verbesserung unseres Lebens. Auch in einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft wird der Arbeitsprozess die »ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens« sein.
Doch kann die Entwicklung der Produktivkräfte allein den historischen Wandel und die geschichtliche Entwicklung nicht erklären. Die Erweiterung unserer wissenschaftlichen Kenntnisse und unserer praktischen Fertigkeiten findet nicht isoliert statt von der Art und Weise, wie wir den Gebrauch der Produktivkräfte organisieren, von den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen.
Um zu begreifen, was Marx mit Produktionsverhältnissen gemeint hat, müssen wir verstehen, dass die Produktion in doppelter Hinsicht gesellschaftlich ist.
Zum einen ist Arbeit notwendigerweise eine gesellschaftliche Tätigkeit, weil sie von der Zusammenarbeit mehrerer Individuen abhängt, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollen. So gesehen sind die Beziehungen zwischen den Individuen durch die materiellen Beschränkungen, auf eine bestimmte Art zu produzieren, vorgegeben. Die Verteilung der Aufgaben auf die Produzenten hängt von der Art des gegebenen Arbeitsprozesses und den Fertigkeiten der Individuen ab.
Aber es gibt noch eine zweite gesellschaftliche Seite der Produktion, in der die Produktionsmittel – die Werkzeuge und die Rohstoffe –das entscheidende Element sind. Marx schreibt: »Welches immer die gesellschaftlichen Formen der Produktion, Arbeiter und Produktionsmittel bleiben stets ihre Faktoren (…). Damit überhaupt produziert werde, müssen sie sich verbinden. Die besondere Art und Weise, worin diese Verbindung bewerkstelligt wird, unterscheidet die verschiedenen ökonomischen Epochen der Gesellschaftsstruktur.« Marx betont, dass wir die Produktion und deshalb auch die Gesellschaft, in der sie stattfinde, nicht verstehen können, wenn wir nicht untersuchen, wer die Produktionsmittel kontrolliert. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens kann, nachdem die primitivsten Formen der Landwirtschaft überwunden sind, kein Arbeitsprozess mehr ohne Produktionsmittel stattfinden. Selbst die Brandrodungslandwirtschaft ist von einem relativ freien Zugang zu Boden abhängig.
Zweitens liefert die Verteilung der Produktionsmittel den Schlüssel zur Teilung der Gesellschaft in Klassen. Denn es gibt keine dem Arbeitsprozess innewohnende Notwendigkeit, wonach die Produzenten, also diejenigen, die die tatsächliche Arbeit leisten, auch über die Produktionsmittel, die Werkzeuge und Rohstoffe, mit denen sie arbeiten, verfügen müssen. Klassen entstehen, wenn die »unmittelbaren Produzenten« von den Produktionsmitteln getrennt werden, die in das Monopol einer Minderheit übergehen. Die Trennung findet erst statt, wenn die Produktivkräfte ein gewisses Niveau erreicht haben.
Bei der Betrachtung des Arbeitstags in der Klassengesellschaft unterscheidet Marx zwei Bestandteile. Im ersten verrichtet der unmittelbare Produzent notwendige Arbeit.
Mit anderen Worten, die Arbeiterin, der Arbeiter produziert die notwendigen Lebensmittel, um sich selbst und die Angehörigen am Leben zu erhalten. (Im Kapitalismus produziert der Arbeiter nicht seine tatsächlichen Existenzmittel, jedoch ihren Gegenwert in Form anderer Güter, für die er mit Geld bezahlt wird. Die grundlegende Beziehung ist aber dieselbe.)
Während des zweiten Teils des Arbeitstags verrichtet der Produzent Mehrarbeit. Das Produkt dieser Stunden eignet sich nicht die Person an, die die tatsächliche Arbeit geleistet hat, sondern der Besitzer der Produktionsmittel. Das geschieht im Austausch dafür, dass dem Arbeiter das Privileg eingeräumt wird, diese Produktionsmittel zu benutzen, damit er die Arbeit verrichten kann, ohne deren Produkte sie oder er zugrunde gehen würde.
Marx schreibt dazu: »Überall, wo ein Teil der Gesellschaft das Monopol der Produktionsmittel besitzt, muss der Arbeiter, frei oder unfrei, der zu seiner Selbsterhaltung notwendigen Arbeitszeit überschüssige Arbeitszeit zusetzen, um die Lebensmittel für den Eigner der Produktionsmittel zu produzieren, sei dieser Eigentümer nun atheniensischer Aristokrat, etruskischer Theokrat, römischer Bürger, normännischer Baron, amerikanischer Sklavenhalter, walachischer Bojar, moderner Landlord oder Kapitalist.« Deshalb beruht die Klassengesellschaft auf Ausbeutung, also auf Aneignung der Mehrarbeit durch eine Minderheit, die über die Produktionsmittel verfügt. In den frühen Phasen der menschlichen Entwicklung, im »Urkommunismus«, wie Marx es nennt, in dem die Produktionsmittel im Besitz der Gemeinschaft waren, gab es allerdings nur wenig oder keine Mehrarbeit.
Nahezu der ganze Arbeitstag war mit notwendiger Arbeit ausgefüllt, um die Grundbedürfnisse der Gesellschaft zu decken. Dank der Fortschritte in den Produktionstechniken wurden die Menschen allmählich in die Lage versetzt, mehr zu produzieren als notwendig ist, um sie bloß am Leben zu erhalten. Dieses Mehrprodukt war jedoch viel zu klein, um den Lebensstandard von allen deutlich zu verbessern. Stattdessen eignete eine Minderheit es sich an, die aus verschiedenen Gründen, wie größere Tüchtigkeit oder politische Macht, die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel erlangte. So entstanden Klassen.
Friedrich Engels stellte das wie folgt dar: »Alle bisherigen geschichtlichen Gegensätze von ausbeutenden und ausgebeuteten, herrschenden und unterdrückten Klassen finden ihre Erklärung in derselben verhältnismäßig unentwickelten Produktivität menschlicher Arbeit. Solange die wirklich arbeitende Bevölkerung von ihrer notwendigen Arbeit so sehr in Anspruch genommen wird, dass ihr keine Zeit zur Besorgung der gemeinsamen Geschäfte der Gesellschaft – Arbeitsleitung, Staatsgeschäfte, Rechtsangelegenheiten, Kunst, Wissenschaft, etc. – übrigbleibt, solange musste stets eine besondere Klasse bestehn, die, von der wirklichen Arbeit befreit, diese Angelegenheit besorgte; wobei sie denn nie verfehlte, den arbeitenden Massen zu ihrem eignen Vorteil mehr und mehr Arbeitslast aufzubürden.«
Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen
Verfügungsgewalt (genauer: faktischer Besitz) über die Produktionsmittel ist nicht notwendigerweise dasselbe wie rechtliches Eigentum. In dieser Frage befand sich Marx an der Seite der materialistischen bürgerlichen Philosophen wie Thomas Hobbes, »die die Macht als die Grundlage des Rechts betrachteten. (…) Wird die Macht als die Basis des Rechts angenommen, wie es Hobbes etc. tun, so sind Recht, Gesetz pp. nur Symptom, Ausdruck anderer Verhältnisse, auf denen die Staatsmacht beruht.«
Die Unterscheidung zwischen Produktionsverhältnissen und den rechtlichen Eigentumsformen ist sehr wichtig. Einige Menschen glauben, dass der Kapitalismus an die Existenz einzelner Kapitalisten gebunden ist, die die Produktionsmittel besitzen und kontrollieren. Nach ihrem Dafürhalten zeigt deshalb der Aufstieg der modernen Kapitalgesellschaften, in denen Spitzenmanager als Angestellte der Firma mit bestenfalls einigen Aktien im Eigenbesitz die Geschäfte führen, dass wir nicht länger im Kapitalismus leben. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.
Die Klassengesellschaft wird durch den faktischen Besitz der Produktionsmittel durch eine Minderheit bestimmt, nicht durch die rechtlichen Formen, in die diese Machtverhältnisse gekleidet sind.
Die Produktionsverhältnisse einer Klassengesellschaft sind »nicht die von Individuum zu Individuum, sondern die von Arbeiter zu Kapitalist, von Pächter zu Grundbesitzer etc.« Für Marx waren diese auf Ausbeutung beruhenden Klassenverhältnisse der Schlüssel zum Verständnis der Gesellschaft: »Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis. (…) Es ist jedesmal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten – ein Verhältnis, dessen jedesmalige Form stets naturgemäß einer bestimmten Entwicklungsstufe der Art und Weise der Arbeit und daher ihrer gesellschaftlichen Produktivkraft entspricht –, worin wir das innerste Geheimnis (…) der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion (…) finden.«
Aus diesen Gedanken folgen die berühmten ersten Sätze des Kommunistischen Manifests: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen (…). Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltung des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.«
Heute ist dieser Gedanke bis zu einem gewissen Grad anerkannt, selbst von bürgerlichen Historikern. Deshalb ist es schwer zu begreifen, wie revolutionär er 1848 war. Vor dieser Zeit wurde Geschichte überwiegend über (und für) die Menschen an der Spitze der Gesellschaft geschrieben, oder es wurde der edle Vormarsch der Vernunft nachgezeichnet.
Jetzt hatte Marx die entscheidende Rolle der arbeitenden Massen in allen großen geschichtlichen Umwälzungen zutage gefördert. Diejenigen, die heute Geschichte »von unten« schreiben, machen dies im Schatten von Marx’ Aussage, dass die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. ■
Foto: stijn
Schlagwörter: Geschichte, Klassengesellschaft, Klassenkampf, Marx, theorie21