Wie entstand die heutige Weltordnung? Das Buch »Wer baute das siebentorige Theben – Wie Menschen ihre Geschichte machen« des britischen Marxisten Chris Harman liefert eine beeindruckende und zugängliche Darstellung der Geschichte der Welt: Von den urkommunistischen Gesellschaften und der neolithischen Revolution bis heute. Wir haben den ersten Band für euch gelesen. Von Sebastian Zehetmair
Wie sind die ersten Staaten entstanden? Warum sind einst mächtige Reiche untergegangen? Und wie entwickelte sich der Kapitalismus? In dem Buch von Chris Harman werden diese – und darüber hinaus viele andere – Fragen behandelt.
Eines der zehn besten Bücher über Geschichte
Die englische Originalausgabe dieses Werks erschien bereits 1999 und wurde von der britischen Tageszeitung »The Independent« in die Liste der »Zehn besten Geschichtsbücher« aufgenommen. Die deutsche Übersetzung wurde in drei Bänden veröffentlicht, die zusammen über zehntausend Jahre Menschheitsgeschichte behandeln. Der hier zu besprechende erste Band beginnt mit der Entstehung der ersten Zivilisationen und endet mit den Anfängen der neu entstehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung im 17. Jahrhundert.
Bei Harman bilden die gesellschaftlich organisierte Arbeit und ihre geschichtliche Entwicklung den roten Faden der Weltgeschichte. Indem Menschen neue Methoden der Produktion entwickeln, verändern sie auch ihre sozialen Beziehungen untereinander. Im Verlauf dieses Prozesses entwickeln sich verschiedene Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, mit denen jeweils verschiedenartige politische Organisationsformen, Staaten, Ideologien und Religionen korrespondieren.
Geschichte der ersten Klassengesellschaften
Harmans Darstellung beginnt mit den nomadischen Urgesellschaften, die auf einer egalitären und staatenlosen Form des Urkommunismus beruhten. Er zeigt – in Anlehnung an Friedrich Engels und etliche neuere frühhistorische und anthropologische Studien –, dass die Entstehung von Privateigentum, Klassen und Staaten (ebenso wie die Unterdrückung der Frau) eine Folge der Entwicklung neuer Produktionsmethoden war, die neue Quellen des Reichtums erschlossen und komplexere Formen der Arbeitsteilung mit sich brachte
Die ersten Klassengesellschaften entstanden im Gebiet des »Fruchtbaren Halbmonds« zwischen der Südtürkei, Mesopotamien und Persien sowie im Industal (im heutigen Pakistan) und China, als die Entwicklung des Ackerbaus den menschlichen Gesellschaften ermöglichte, einen stabilen Überschuss zu produzieren: »Die neuen Methoden erforderten, dass einige Leute freigestellt wurden von der unmittelbaren Last der Feldarbeit, um die Tätigkeit der Gruppe abzustimmen und dafür zu sorgen, dass ein Teil des Überschusses nicht sofort verbraucht, sondern in einem Lagerhaus für die Zukunft gespeichert wurde.«
Klassenspaltung und Herrschaft
Diese Klassenspaltung bedeutete zunächst für die gesamte Gesellschaft einen Fortschritt, obwohl die neu entstehenden herrschenden Klassen von der Arbeit der übrigen Menschen lebten: Erst das machte die Entstehung von Wissenschaft und Kunst möglich. Mit der Spaltung der menschlichen Gesellschaften in Klassen entstand der Klassenkampf. Harman schildert, wie lange vor der Entstehung des Kapitalismus in China, Mesopotamien und Indien der Kampf zwischen den Bauern und ihren Ausbeutern tobte, und verweist dabei auch auf den ersten dokumentierten Streik der Menschheitsgeschichte, der vor knapp 3200 Jahren von den Bauhandwerkern an den ägyptischen Pyramiden geführt wurde.
Die Klassenspaltung machte die Herausbildung hierarchisch organisierter Apparate notwendig, mit denen die ausbeutenden Klassen ihre Interessen gegenüber der restlichen Gesellschaft verteidigten. Die Absicherung der Klassenherrschaft erfolgte teils durch direkte Gewalt, teils durch die ideologische Legitimation der bestehenden Verhältnisse mithilfe bestimmter Formen der organisierten Religion, der Philosophie und des Rechts. Damit entstanden die ersten Staaten. Harman schreibt: »Gab es erst einmal solche Staatsstrukturen und Ideologien, trugen sie zur Aufrechterhaltung der Verfügungsgewalt einer bestimmten Gruppe über das Mehrprodukt bei, selbst wenn diese längst nicht mehr ihren Zweck erfüllte, die Produktion weiterzuentwickeln.«
Klassenkampf und Geschichte
Der Klassenkampf ist bei Harman immer auch ein Kampf zwischen verschiedenen Ideen. Verschiedene Klassen entwickelten unterschiedliche Vorstellungen von der Welt, die in Gegensatz zueinander gerieten. Auch die Religion war ein Schlachtfeld, auf dem der Klassenkampf ausgetragen wurde, wie Harman anhand von etlichen Beispielen aus der Geschichte der Weltreligionen zeigt. Die Weltgeschichte bildete bereits im frühen Altertum eine Einheit, in der zwischen den verschiedenen Zivilisationen ein permanenter Austausch von Gütern, Produktionstechniken und wissenschaftlichen, philosophischen oder religiösen Ideen stattfand, die sich mit ihrer Verbreitung entwickelten und veränderten. Zu diesem Prozess gehörte seit jeher auch schon die Migration größerer Menschengruppen. Deshalb ist die Idee von abgeschlossenen historischen »Kulturkreisen«, die neuerdings in der politischen Debatte wieder populär wird, abwegig. Harman stellt die Geschichte der Menschheit als einen zusammenhängenden globalen Prozess dar, der allerdings oft ungleichzeitig vonstattenging und in verschiedenen Teilen der Welt einen unterschiedlichen Verlauf nahm.
Geschichte der Zivilisationen
Die einzelnen Zivilisationen durchliefen im Laufe ihrer Geschichte verschiedene Entwicklungsphasen, in denen jeweils unterschiedliche Produktionsweisen und damit auch unterschiedliche Formen der Klassenauseinandersetzungen vorherrschten. Anhänger wie Gegner der marxistischen Methode haben das Konzept der »Produktionsweise« gelegentlich als ein universales Schema missverstanden, nach dem jede Gesellschaft notwendigerweise dieselbe feste Abfolge von Entwicklungsstufen durchlaufen müsse. Die Folge dieser »Stufentheorie« war ein vermeintlich universales Modell der geschichtlichen Entwicklung, das die europäische Entwicklung zur Norm erklärte und den regional ungleichen Verlauf der Menschheitsgeschichte nicht zu erklären vermochte. Tatsächlich war, wie Harman mit vielen Beispielen belegt, Europa im Vergleich mit China, Kleinasien und Nordafrika über mehrere Jahrtausende hinweg eine ökonomisch stark rückständige Region.
Vielfalt unterschiedlicher Produktionsweisen
Harman zeigt die Vielfalt unterschiedlicher Produktionsweisen, die im Laufe der Menschheitsgeschichte entstanden und untergingen. Unterschiedliche geografische Bedingungen führten zu verschiedenartigen Formen der (lange Zeit vorrangig landwirtschaftlichen) Produktion, die jeweils eigentümliche Klassenstrukturen und verschiedenartige Formen des politischen und ideologischen Überbaus hervorbrachten. Erst der moderne Kapitalismus hat die globale Ökonomie in ein zusammenhängendes System verwandelt, dessen verschiedenen Teile einer einheitlichen ökonomischen Entwicklungslogik unterliegen.
Gemeinsam war all diesen verschiedenen vorkapitalistischen Produktionsweisen, dass sie im ökonomischen Sinne wesentlich weniger dynamisch waren als die heutige kapitalistische Produktionsweise. Es gab, wie Harman feststellt, zwar auch in den vorkapitalistischen Gesellschaften eine langfristig wirksame Tendenz zur Verbesserung der Produktionsmethoden, die die Strukturen des politischen Überbaus veränderte. Aber die herrschenden Klassen hatten in der Regel kein Interesse an der Förderung derartiger Entwicklungen. Harman verweist auf etliche Fälle, in denen die Entwicklung der Produktivkräfte in bestimmten Zivilisationen gehemmt oder sogar vollständig blockiert wurden, weil dies den Interessen der besitzenden Klassen an stabilen Ausbeutungsverhältnissen widersprach. Dies war beispielsweise im mittelalterlichen byzantinischen Reich der Fall. Erst mit der Entstehung des modernen Bürgertums entstand eine Klasse, die die permanente Revolutionierung der Produktionstechniken bewusst vorantrieb, die sich zur Legitimation ihrer Herrschaft deshalb nicht mehr auf die Tradition, sondern auf den Fortschritt berief.
Keine »Überlegenheit« Europas
Harman zerstört in seinem Buch systematisch den Mythos von einer langfristigen zivilisatorischen »Überlegenheit« Europas. Bis in die frühe Neuzeit gab es außerhalb Europas eine Reihe von Reichen, deren Herrscher deutlich wohlhabender als die nord- und mitteleuropäischen Feudalherren waren und die auch in technologisch-wissenschaftlicher Hinsicht wesentlich fortschrittlicher waren als die vergleichsweise rückständigen feudalen Gebilde in Nordwesteuropa.
Die letzten Kapitel des Buches behandeln die frühe Neuzeit (14. bis 17. Jahrhundert) und die Entstehung der ersten Formen des Kapitalismus, die es einer Handvoll europäischer Staaten ermöglichte, zu einer dominierenden Stellung im Weltsystem zu kommen. Harman wirft hier eine Frage auf, die unter marxistischen Historikern seit geraumer Zeit diskutiert wird: Warum entstand diese neue Produktionsweise ausgerechnet in einer Region, die über lange Zeit wirtschaftlich relativ rückständig gewesen war?
Geschichte des europäischen Feudalismus
Für Harman liegt der Schlüssel zur Antwort in den Besonderheiten des europäischen Feudalismus. Im chinesischen Reich wurde die Produktion und Ausbeutung vor allem durch einen zentralisierten und bürokratischen staatlichen Apparat organisiert, während das europäische Feudalsystem wesentlich stärker dezentralisiert war. Gerade weil die europäischen Feudalherren deutlich ärmer waren als die Herrscher des chinesischen und des Mogulreiches, entwickelten sie ein größeres Interesse an der Entwicklung der Landwirtschaft und des Handels – zumal die zahlreichen kleinen Fürstentümer in Europa über Jahrhunderte hinweg kostspielige Kriege untereinander führten, die den Geldbedarf der Herrscher erheblich steigerte.
Bereits während des Mittelalters wurden in Nordeuropa etliche neue Produktionstechniken in der Landwirtschaft eingeführt und große Landstriche urbar gemacht. Die landwirtschaftliche Produktion stieg im Laufe einiger Jahrhunderte deutlich. Anders als in China, Indien oder Byzanz existierte in Nordeuropa kein hochorganisierter Staatsapparat mit Tausenden von Beamten. Dieser Umstand wurde nun zum Vorteil. Denn der Unterhalt dieser Staatsbürokratie verbrauchte in den asiatischen Reichen einen wesentlich größeren Anteil der gesellschaftlichen Ressourcen als in den feudalen Kleinstaaten Nord- und Mitteleuropas und erwies sich schließlich als Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung.
Das Wachstum der Städte
Die höheren landwirtschaftlichen Überschüsse begünstigten ab dem 14. Jahrhundert in einigen Regionen Europas (vor allem in England, den Niederlanden und in Nordfrankreich) die Entwicklung des Handels und ein deutlich beschleunigtes Wachstum der Städte. Damit entstanden neue Marktbeziehungen und die ersten Ansätze der kapitalistischen Produktionsweise im 15. und 16. Jahrhundert. Aus den städtischen Kaufleuten und Handwerkern bildete sich eine neue Klasse der Bürger. Diese war in Europa schon in der frühen Neuzeit materiell relativ unabhängig von den alten herrschenden Klassen und begann, neuartige Ideen über die gesellschaftliche Ordnung zu entwickeln.
Ansätze zur Entstehung eines städtischen Bürgertums gab es zwar auch in China – und dort bereits etliche Jahrhunderte früher als in Europa. Aber dort blieben, wie Harman argumentiert, Kaufleute und Handwerker wesentlich stärker abhängig von den alten besitzenden Klassen und ihrem Staatsapparat: »Warum die Kaufleute und reicheren Handwerker sich in China nicht zu einer ausgewachsenen kapitalistischen Klasse formierten, hatte materielle Gründe, nicht ideologische. Sie waren abhängiger von den Beamten des Staatsapparates als es in Europa im 17. und 18.Jahrhundert der Fall war. Denn die Staatsbürokratie war unentbehrlich für die Verwaltung eines besonders wichtigen Produktionsmittels: des riesigen Kanalnetzes und der Bewässerungsanlagen.«
Der Vergleich zwischen der europäischen und der chinesischen Geschichte hilft dabei, die Voraussetzungen für die Entstehung des heutigen Kapitalismus klarer zu fassen. Die bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, mit denen sich diese Ordnung dann auch politisch durchsetzte, bilden einen wesentlichen Teil des zweiten Bandes, der noch zu besprechen ist.
Ein beeindruckender Überblick
Chris Harman hat sich bis zu seinem Tod im Jahr 2009 an etlichen wissenschaftlichen Debatten zu den verschiedensten Fragen der Geschichte und der marxistischen Theorie beteiligt. Viele dieser Auseinandersetzungen sind in dieses Buch eingeflossen, auch wenn sie nicht immer explizit dargestellt werden. Die Fußnoten und das Literaturverzeichnis liefern gute Ausgangspunkte um tiefer in diese Debatten einzutauchen. Dieses Buch bietet einen beeindruckenden Überblick über mehrere Jahrtausende von gesellschaftlicher Entwicklung und Klassenkämpfe. Es zeigt, was die marxistische Methode bei der Analyse der Geschichte in den letzten Jahrzehnten geleistet hat.
Das Buch
Chris Harman
Wer baute das siebentorige Theben? Wie Menschen ihre Geschichte machen
Laika Verlag
Hamburg 2016
1020 Seiten (drei Bände)
SONDERPREIS für alle drei Bände: 70 € statt 77 €
Die Bände sind auch einzeln erhältlich
Foto: Wikipedia
Schlagwörter: Buch, Chris Harman, Geschichte, Klassengesellschaft, Krieg, Rezension, Staat