Bis ins späte Mittelalter war die islamische Welt dem Westen in der Entwicklung voraus. Die Bewegung der Aufklärung und mit ihr die moderne Gesellschaft entstand aber im bis dahin rückständigen christlichen Europa. Der Historiker Neil Davidson untersucht die Gründe dafür.
In den derzeitigen Auseinandersetzungen über den Islam wird zunehmend über einen Aspekt diskutiert: Zwar sind viele Autoren bereit, die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften des Islams anzuerkennen, doch immer betonen sie einschränkend, dass die islamische Zivilisation keine der Aufklärung entsprechende Entwicklung durchlief. »Der Islam musste sich niemals einer langen Phase der kritischen Überprüfung der Gültigkeit seiner geistigen Vision unterziehen, wie der Westen im 18. Jahrhundert«, schreibt der Geschichtswissenschaftler Louis Dupré. »Die islamische Kultur hat natürlich eigene Krisen erlebt (…) sie war jedoch niemals gezwungen, ihre traditionelle Weltanschauung in Frage zu stellen.«
Dieselbe Auffassung ist auch von Menschen ursprünglich muslimischer Herkunft vertreten worden, die später ihre religiösen Ansichten aufgegeben haben. So erklärte Salman Rushdie, der Islam brauche »weniger eine Reformation (…) als eine Aufklärung«. Muslimische Theoretiker, die dem Mainstream zuzuordnen sind, vertreten in der Regel eine der folgenden Positionen: Die erste Position geht davon aus, dass der Islam nicht der Aufklärung bedurfte, weil seine Lehre nicht in denselben Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft geriet wie die Lehre des Christentums. Wie der ägyptische Wissenschaftler Abdulaziz Othman Altwaijri schrieb: »Die westliche Aufklärung war bedingungsloser Gegner der Religion und ist es auch noch heute. Dagegen verbindet die islamische Aufklärung Glaube und Wissenschaft, Religion und Vernunft und setzt sie in ein angemessenes Gleichgewicht.« Nun ist der Islam zweifellos von Wundern weniger abhängig als das Christentum, aber letztendlich stellt die Aufklärung alle Religionen in Frage – sei es das Christentum, den Islam, Judaismus, Hinduismus oder Buddhismus – da sie der religiösen Offenbarung die Vernunft entgegenstellt.
Die zweite Position ist, dass die Aufklärung für den Westen zwar einen Fortschritt darstellte, sie jedoch zum Instrument der Unterdrückung der muslimischen Welt wurde. A. Hussain fragt: »Warum sollten wir die Aufklärung begrüßen, da doch unser Volk Opfer dieser Entwicklung geworden ist?« Es ist wahr, dass sowohl die islamische Welt als auch die Muslime im Westen unter Imperialismus und Rassismus gelitten haben und leiden. Das liegt jedoch nicht an der Aufklärung an sich, sondern vielmehr daran, dass die Ideale der Aufklärung nicht in sozialistischen Gesellschaften verwirklicht worden sind, und wie sie für die Bedürfnisse der Ausdehnung des Kapitalismus eingespannt wurden. Bei einer wiederauflebenden Bewegung der Arbeiterklasse und der Unterdrückten können diese Ideen gegen die Kriegstreiber und Islamfeinde gewendet werden, die sie sich zu Unrecht auf die Fahnen schreiben. Die Geschichte der islamischen Welt zeigt, dass sie sich sehr früh mit vielen Themen auseinander gesetzt hat, die später mit der Aufklärung assoziiert wurden. Die Frage ist also, warum die Aufklärung im Westen vorherrschend wurde und nicht in der islamischen Welt – oder in anderen Gegenden der Welt wie China, die ursprünglich wesentlich weiter entwickelt waren als der Westen. Die Grundlage des Vergleichs für die Kritik des Islams ist die Aufklärung, die sich in Europa und Nordamerika in der Zeit von Mitte des 17. bis Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte. Allerdings wird der Diskussionsrahmen in Bezug auf den Islam verändert. Niemand spricht von einer »christlichen Aufklärung«. Soweit der Aufklärung irgendeine Besonderheit zugesprochen wird, dann in Bezug auf einzelne Nationen. Warum aber ist im Westen die Territorialfrage die Grundlage für die Diskussion der Aufklärung, im Osten aber die Religion? Gibt es eine christliche Aufklärung?
Es wird behauptet, dass die Aufklärung wie zuvor Renaissance und Reformation aus der gemeinhin als »jüdisch-christlich« bezeichneten Tradition hervorgegangen sei. Mit anderen Worten: Das Christentum sei intellektuell so aufgeschlossen und tolerant gewesen, dass es das Aufkommen kritischer Gedanken zuließ. Deshalb konnte die Religion nach und nach verdrängt werden, und es kam zu einer Trennung von Kirche und Staat. Indirekt wird damit natürlich gesagt, dass der Islam nicht in der Lage gewesen sei, dieselbe Entwicklung zuzulassen. Das Schicksal von Giordano Bruno (der auf dem Scheiterhaufen der Heiligen Inquisition verbrannt wurde) oder Galileo Galilei (dem das gleiche Schicksal drohte), weil sie es gewagt hatten, die Dogmen der katholischen Kirche in Frage zu stellen, lässt einige Zweifel an der Behauptung aufkommen, das Christentum sei eigentlich offen für wissenschaftliche Rationalität.
An dieser Stelle verlagert sich das Argument in der Regel vom Christentum im Allgemeinen auf die Rolle des Protestantismus im Besonderen, oder noch enger gefasst: des Calvinismus. Das überzeugt allerdings genauso wenig. So unterschiedliche Autoren wie Antonio Gramsci oder Hugh Trevor-Roper haben dargelegt, dass protestantische Ideen in vieler Hinsicht ein Rückzug waren von der komplexen intellektuellen Gedankenwelt des spätmittelalterlichen Katholizismus, wie sie zum Beispiel Erasmus von Rotterdam vertrat. Das Genf des 16. Jahrhunderts und das Edinburgh des 17. Jahrhunderts waren sicherlich keine Orte, an denen rationale Betrachtungen gefördert wurden. Die intellektuell-fortschrittliche Rolle des Protestantismus liegt darin, dass einzelne Strömungen dieses Glaubens die Kirchengemeinden zum persönlichen Studium der Bibel ermutigten, um zur Wahrheit zu gelangen, statt diese von der Obrigkeit zu erwarten – ein Ansatz, der auf andere Bereiche des Lebens übertragen werden konnte. Aber die religiösen Unterweisungen an sich zielten nicht in diese Richtung. Die Rechtfertigung der Welt mit Hilfe des Glaubens ist eine außerordentlich mächtige Lehre, aber keine rationale, da sie sich auf die Behauptung stützt, die Wege Gottes seien für den Menschen unergründlich. Später wurde Edinburgh tatsächlich zum Mittelpunkt der vielleicht großartigsten nationalen Aufklärung. Doch dazu musste es zunächst die »theokratischen Fantasien« der Kirche von Schottland abschütteln. Das galt auch für ganz Europa und Nordamerika.
Egal, welchem besonderen religiösen Glauben einzelne Vordenker der Aufklärung anhingen und wie verschlüsselt ihre Argumente auch waren, die Bewegung als Ganze stand mit der jüdisch-christlichen Tradition auf Kriegsfuß. Sie repräsentierte nicht die Beständigkeit der westlichen Kultur, sondern einen tiefen Bruch mit ihr. Die Aufklärung vergötterte nicht die westlichen Werte. Vielmehr lehnte sie die vorher herrschenden Werte ab.
Die Denker der Aufklärung nahmen auch eine deutlich vielschichtigere Haltung gegenüber dem Islam ein, als ihre heutigen Bewunderer uns glauben machen wollen. Jonathan Israel erinnert uns in seiner bedeutenden Geschichte der »radikalen« Aufklärung: »Einerseits wird der Islam positiv, sogar begeistert als eine gereinigte Offenbarungsreligion aufgenommen, ohne die vielen Makel von Judaismus und Christentum, und deshalb dem Deismus, der Gottesauffassung der Aufklärung, verwandt. Noch häufiger jedoch wird der Islam mit Feindseligkeit und Verachtung als primitive Religion betrachtet, die wie der Judaismus und das Christentum starke Züge von Aberglauben trägt und mindestens ebenso, wenn nicht noch stärker dazu neigt, Willkürherrschaft zu begünstigen.«
Im Allgemeinen hielt die Aufklärung den Islam nicht für besser oder schlechter als das Christentum. Vielleicht sollten wir deshalb die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der entscheidende Faktor sowohl für die Entstehung der Aufklärung im Westen, wie auch für ihre Nicht-Entstehung im Osten gar nicht die Religion ist, sondern die Art der Gesellschaften, in denen die jeweilige Religion Fuß fasste und zu deren Bestand diese Religion beitrug. Auf jeden Fall müssen wir der Behauptung entgegentreten, der Islam habe keine wissenschaftliche Rationalität gekannt. Schließlich waren es muslimische Gelehrte, die die philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse des griechischen und persischen Altertums übersetzten und bewahrten, die sonst verloren gegangen wären. Sie waren es, die dieses Wissen an ihresgleichen in Europa weitergaben. Letztere wurden auch von in Spanien und auf Sizilien lebenden muslimischen Gelehrten ausgebildet. Muslimische Errungenschaften in Bezug auf wissenschaftliche Ideen waren jedoch nicht nur archivarischer Natur. Der syrische Gelehrte und Arzt Ibn al-Nafis begriff als Erster den Herz-Lungen-Blutkreislauf. Dazu musste er die Vorstellung Avicennas, einem seiner Vorläufer, zurückweisen, der ebenfalls ein wichtiger Medizintheoretiker gewesen war und unter anderem herausgefunden hatte, dass Krankheiten durch Trinkwasser verbreitet werden können. Ibn al-Nafis starb in hohem Alter in seinem Bett (er soll etwa 80 Jahre alt geworden sein). Wir können sein Schicksal mit dem einer weiteren Person vergleichen, die die Theorie des Lungenkreislaufs vertrat: des Spaniers Miguel Serveto. Im Jahr 1553 wurde er von der protestantischen Obrigkeit Genfs verhaftet und der Gotteslästerung beschuldigt. Da er nicht bereit war zu widerrufen, wurde er auf Drängen Calvins wegen Ketzerei verbrannt.
Die islamische Welt brachte nicht nur wissenschaftliche Theorien hervor, ihre Philosophen setzten sich auch mit der gesellschaftlichen Funktion von Religion auseinander. Dem marxistischen Historiker Maxine Rodinson zufolge vertrat der persische Philosoph und Mediziner Rhazes die Auffassung, dass »Religion die Ursache für Krieg ist und der Philosophie und Wissenschaft feindlich gegenübersteht. Er glaubte an den wissenschaftlichen Fortschritt und hielt Plato, Aristoteles oder Hippokrates für überragender als die Heiligen Schriften.« In der Normandie beispielsweise hätte zu jener Zeit, im 10. Jahrhundert, kein Mensch solche Ansichten offen erörtern und erwarten können, am Leben zu bleiben. In einigen muslimischen Staaten hingegen wurden ähnliche Ideen sogar auf höchster Staatsebene vertreten. So stellte in Indien der Großmogul Akbar (1556-1605) »den Pfad der Vernunft« über das »Vertrauen in die Tradition« und stellte grundsätzliche Überlegungen über die Grundlage religiöser Identität und nichtkonfessioneller Herrschaft in Indien an. Seine Schlussfolgerungen wurden 1591/92 in Agra veröffentlich, kurz bevor Bruno Giordano in Rom auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Akbars Minister und Sprecher, Abu Fasl, beklagte in seinem Buch »A'in-i Akbari« in mehreren verbitterten Absätzen die Beschränkungen, die der religiöse Obskurantismus wissenschaftlichen Bemühungen auferlegte: »Seit undenklichen Zeiten sind wissenschaftliche Neugier beschnitten und kritischer Zweifel und Forschung als Anzeichen des Unglaubens angesehen worden. Was auch immer vom Vater, Verwandten und Lehrer weitergegeben wurde, wird als Niederschlag göttlicher Weisheit betrachtet, und einem Fragenden wird Gottlosigkeit oder Irrglaube vorgeworfen. Und obwohl einige der Intelligenten ihrer Generation den Unsinn dieses Verfahrens bei anderen zugeben, weichen sie selbst keinen Schritt in diese Richtung ab.«
Offensichtlich gehört es also nicht zum Wesen islamischer Gesellschaften, Muslime an der Entwicklung rationaler oder wissenschaftlicher Gedanken zu hindern. Und doch entwickelten sich diese Vorboten der Aufklärung, die zu einem früheren Zeitpunkt als im Westen aufkamen, niemals in eine ähnlich blühende Bewegung, die in der Lage gewesen wäre, ihren Beitrag zur Veränderung der Gesellschaft zu leisten. Ibn al-Nafis wurde zwar nicht von der Obrigkeit gestört, doch seine Ideen hatten keinen Einfluss auf die Heilkunde der islamischen Welt. Im Westen, wo ähnliche Ideen ursprünglich mit dem Tode bestraft wurden, wurden sie wieder entdeckt und innerhalb von 150 Jahren zum Bestandteil des medizinischen Allgemeinwissens. Wie ausgezeichnet auch Ideen sein mögen, sie können die Welt nicht verändern – es sei denn, sie finden eine Verkörperung in einer wirklichen gesellschaftlichen Kraft. Was war diese Kraft im Westen, und warum fehlte sie in islamischen und anderen Ländern?
Das Wesen der islamischen Gesellschaft
Die islamische Gesellschaft erlebte in der Zeit zwischen dem Tod des Propheten 632 und dem Fall Konstantinopels 1453 enorme Umwälzungen. Einige grundlegende Muster blieben jedoch die ganze Zeit unverändert. Die islamische Welt stützte sich auf eine Reihe wohlhabender Städte, von Bagdad im heutigen Irak über Kairo im heutigen Ägypten bis nach Cordoba im heutigen Spanien. Diese städtischen Zentren waren durch ein Netz hoch entwickelter Wüsten- und Seehandelsstrecken miteinander verbunden, über die Karawanen und Schiffe Luxusgüter wie Gewürze und Manufakturerzeugnisse wie Keramiken transportierten. Der Reichtum und die Üppigkeit dieser Zivilisation standen in deutlichem Kontrast zum verarmten, rückständigen Europa.
Was aber war die Grundlage der dahinter stehenden Ökonomie – oder: Wie sah die »Produktionsweise« aus? Der Feudalismus, die Produktionsweise, die in Westeuropa und Japan vorherrschte, war in den Staaten der muslimischen Welt – mit der großen Ausnahme Persiens (des heutigen Irans) – und Teilen Indiens von geringer Bedeutung. Hier herrschte stattdessen vor, was einige Marxisten einschließlich des Verfassers dieses Textes eine tributgestützte Produktionsweise nennen. In Europa herrschten die feudalen Grundbesitzmonarchien über schwache, dezentralisierte Staaten. Die Staatsmacht lag beim lokalen Adel auf dem Land, und hier, unter seiner lokalen Gerichtsbarkeit, fand auch die Ausbeutung mittels Einziehung von Pachten und Frondiensten statt. Aber gerade wegen dieser zersplitterten Struktur konnte sich die kapitalistische Produktion zwischen diesen in verschiedene Gebiete aufgeteilten Staatsgewalten entwickeln. Die Städte waren hinsichtlich ihrer Größe und Macht sehr unterschiedlich, aber wenigstens einige waren frei von der Herrschaft des Adels oder des Königs und boten Räume, in denen sich neue Produktionsansätze entwickeln konnten.
Es ist versucht worden, die Aufklärung als reinen Ausdruck wissenschaftlicher Rationalität darzustellen, die zufälligerweise mit der Epoche des Übergangs vom Feudalismus und der bürgerlichen Revolution zusammenfiel. Sie muss jedoch als theoretische Begleitung dieser wirtschaftlichen und politischen Prozesse begriffen werden – wenn auch in sehr komplizierter und vermittelter Weise. Die Bedingungen für die kapitalistische Entwicklung und damit auch der Aufklärung existierten nicht in gleichem Maße in der muslimischen Welt. Im Osmanischen Reich, das ihren Mittelpunkt bildete, gab es kein Privateigentum an Land, keinen Lokaladel und deshalb wenig Raum für das Entstehen neuer Produktions- und Ausbeutungsansätze. Der Staat war der Hauptausbeuter und seine Beamten entfalteten bewusst Feindseligkeit gegenüber möglichen alternativen Machtquellen – daher ihre Vorurteile gegenüber dem Kleinhandel und ihre Abneigung gegenüber dem großen Handelskapital. Dementsprechend stammten Kaufleute eher aus außerhalb bestehenden »Nationen« – sie waren Juden, Griechen oder Armenier -, nicht aus der einheimischen arabischen oder türkischen Bevölkerung. Islamische Gesellschaften neigen nicht grundsätzlich zur Stagnation, aber sie sind das beste Beispiel dafür, wie herrschende Klassen sehr bewusst die Staatsmacht – den »Überbau« – einsetzen, um neue und sie bedrohende Klassen an ihrer Herausbildung zu hindern und auch ihre intellektuelle Entwicklung zu vereiteln. »Die Frage, warum es im Islam keine wissenschaftliche Revolution gab«, schreibt Pervez Hoobdhoy mit leichter Übertreibung, »bedeutet im Prinzip zu fragen, warum der Islam kein mächtiges Bürgertum schuf.«
Das Fehlen der Entwicklung einer neuen und entwickelteren wirtschaftlichen Klasse führte dazu, dass islamische Theoretiker keine realen Beispiele vor Augen hatten. Nehmen wir den tunesischen Geschichtsschreiber Ibn Chaldun (1332-1402), Verfasser des Kitab Al-Ilbar, des »Buchs der Beispiele«. In seinen gesellschaftstheoretischen Arbeiten beschrieb er einen fortgesetzten Kampf zwischen Zivilisationen, die sich einerseits auf Städte und Kaufleute (hadarah) stützen, und solchen, die andererseits auf Stämmen und heiligen Männern (badawah) basieren. Diese beiden Zivilisationsformen wechselten sich als vorherrschende Kräfte innerhalb der muslimischen Welt in endloser Folge ab. Dagegen konnten Adam Smith und seine Kollegen der Historikerschule der schottischen Aufklärung eine Theorie entwickeln, der zufolge Gesellschaften von einer »Daseinsweise« zu einer anderen fortschreiten können, da sie diese Bewegung in England gesehen hatten und sich dasselbe für Schottland wünschten. Ibn Chaldun konnte nur eine zyklische Wiederholung in der Geschichte der islamischen Gesellschaft erkennen und sah keinen Ausweg aus diesem ewigen Kreislauf. Mit seinen Arbeiten konnte er die Gesellschaft, die er theoretisch zu erfassen versuchte, nicht durchdringen.
Angesichts dieser Tatsache sind die islamische Lehre und die islamischen Organisationen schwer voneinander zu trennen. Im christlichen Europa waren Kirche und Staat bei der Verteidigung der bestehenden Ordnung Verbündete. In der islamischen Welt waren sie miteinander verschmolzen – es gab keine getrennte Organisation der Kirche. Es gab natürlich Unterschiede zwischen den verschiedenen islamischen Glaubensrichtungen – die Schiiten bevorzugten die Herrschaft durch charismatische Imame, Sunniten einen Konsens der Gläubigen – aber in keinem der Religionszweige gab es eine allumfassende kirchliche Organisation wie im Christentum. Stattdessen entwickelte sich eine föderale Struktur, die sich den jeweiligen Staaten anpasste. Deshalb ist es schwierig, das Recht des Staates vom Recht der Religion zu trennen. Der Glaube an die Prädestination (göttliche Vorherbestimmung) führte dazu, dass es als gottlos galt oder sogar ausgeschlossen war, auch nur zu versuchen, Ereignisse in der Zukunft vorherzusagen. Der Glaube an den Utilitarismus konzentrierte die intellektuelle Forschung oder die intellektuellen Anleihen auf das unmittelbar Nützliche. Als schließlich ab dem 16. Jahrhundert die Grenzen der islamischen Welt an die expandierenden europäischen Mächte stießen, war für die herrschende arabische Elite, die das Gefühl der eigenen Überlegenheit gewohnt war, die Vorstellung, sich der europäischen Methoden und Entdeckungen zu bedienen, ausgesprochen schmerzlich. Als die Bedrohung durch den Westen wuchs, wurde die Kontrolle über das, was gelehrt werden durfte, noch schärfer.
Teilreformen
Auch das Beispiel China stützt im Großen und Ganzen die These, dass der Schlüssel nicht in der Religion liegt, sondern in der Form der Ökonomie und der ihr »korrespondierenden Staatsform«. China war wie die islamischen Gesellschaften eine große Zivilisation und konnte auf wichtige wissenschaftliche und technische Errungenschaften blicken, die die europäischen eindeutig überragten. Auch hier gab es aber einen bürokratischen, sich auf Tributzahlungen stützenden Staat, der alles unternahm, neu aufstrebende Klassenkräfte und ihre gefährlichen Ideen zu unterdrücken. Wer die Schriften eines führenden chinesischen Intellektuellen im 17. Jahrhundert, Wang Fu-Chih (1619-92), liest, ist versucht, ihn als Vorläufer von Adam Smith in Schottland oder Abbé Sieyes in Frankreich zu sehen. Im Gegensatz zu diesen führten seine Ideen allerdings zu keinen handfesten Ergebnissen. In China ging der Staat wie in der islamischen Welt gegen die Verbreitung gefährlicher Ideen vor. China war aber kein islamisches Land – die Ähnlichkeiten liegen nicht in der Religion, sondern in Wirtschaft und Staat, und deshalb ereilte beide dasselbe Schicksal.
Hätten also Ideen der Aufklärung diesen Gesellschaften von außen aufgezwungen werden können? Die kurzzeitige Eroberung der osmanischen Provinz Ägypten durch französische Revolutionsarmeen 1798 führte zunächst in Ägypten, dann in der Türkei zu dem Versuch, zumindest einige der technologischen, wissenschaftlichen und militärischen Ansätze wissenschaftlich-rationalen Denkens zu übernehmen. Viele der Seiten des Islams, die unwissenderweise als »mittelalterliche« Traditionen wahrgenommen werden, sind Ergebnisse dieser Zeit der Teilreformen. Ein Historiker schreibt: »Die Burka war in Wirklichkeit eine moderne Kleidung, die es den Frauen erlaubte, die Abgeschiedenheit ihres Heims zu verlassen und bis zu einem gewissen Grad an öffentlichen und geschäftlichen Angelegenheiten teilzunehmen.« Ein anderer zeigt auf: »Das Amt des Ajatollahs ist eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts, die Herrschaft von Chomeini und seinen Nachfolgern als ‚oberster Rechtsgelehrter‘ eine Neuerung aus dem 20. Jahrhundert.« Die imperiale Aufteilung und Besetzung des Nahen Ostens nach dem Ersten Weltkrieg führte zum Einfrieren dieser Entwicklung und teilweise sogar zu ihrer Umkehrung. Bei dem endlosen Geschwätz über die angebliche westliche Überlegenheit sollte nicht vergessen werden, dass feudale gesellschaftliche Beziehungen – gegen die die Aufklärung so gewütet hatte – nach 1920 durch die britischen Besatzer im Irak eingeführt wurden, um dem Regime eine gesellschaftliche Basis zu verschaffen.
Was dann folgte, hat Robert Fisk in »The Great War for Civilisation« (»Der große Krieg für die Zivilisation«) schonungslos und detailliert erzählt, wie es an dieser Stelle noch nicht einmal ansatzweise möglich ist. Die Frage nach über 100 Jahren imperialistischer Intervention lautet: Muss die islamische Welt von heute die Erfahrungen des Westens durchmachen – von der Renaissance über die Reformation zur Aufklärung? Im Jahr 1959 schrieb der afghanische Intellektuelle Nadschim ud-Din Bammat: »Der heutige Islam muss eine Reihe von Revolutionen gleichzeitig durchleben: eine religiöse Revolution wie die Reformation; eine intellektuelle und moralische Revolution wie die Aufklärung des 18. Jahrhunderts; eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Revolution wie die europäische industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts.«
Die Geschichte wiederholt sich nicht. Leo Trotzkis Theorien von der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung und der permanenten Revolution zufolge müssen diese Revolutionen nicht eine nach der anderen stattfinden, sondern können zeitlich gedrängt ineinander greifen. Das christliche Europa war unvergleichlich rückständiger als arabische oder persische Zivilisationen im 10. oder 11. Jahrhundert. Aber seine Rückständigkeit führte dazu, dass eine viel höhere Form der Klassengesellschaft in ihm heranreifte – der Kapitalismus – und es so die ehemals überlegenen Länder »einholen und überholen« und in diesem Verlauf sogar besetzen und zerstören konnte.
Als die Ideen der Aufklärung die Massen in der islamischen Welt erreichten, kamen sie nicht als Wiederholung der europäischen Erfahrung des 17. und 18. Jahrhunderts, sondern in der Form des Marxismus – des radikalen Erben dieser Erfahrung. Unglücklicherweise waren die theoretischen und organisatorischen Formen, in denen der Marxismus den islamischen Ländern seinen Stempel aufdrückte, stalinistische und trugen folglich den Keim des Unglücks bereits in sich – was im Irak in den 1950er Jahren und im Iran in den 1970er Jahren besonders spektakulär verlief, überall sonst jedoch eher schleichend und heimtückisch. Gerade wegen der katastrophalen Geschichte des Stalinismus und, allgemeiner gefasst, des säkularen Nationalismus, sehen Menschen, die sonst vom Sozialismus angezogen worden wären, im Islamismus heute einen alternativen Weg zur Befreiung.
Welche Zukunft kann es für den Islam und die Aufklärung geben?
Linke sollten sich an die Erfahrungen des Westens erinnern. Die Aufklärung kam auf, als das Christentum älter war als der Islam heute und dann auch nicht auf einen Schlag. Die Menschen wurden nicht plötzlich »rational« und gaben ihre alten Ansichten auf, nur weil sie die weisen Worte Spinozas oder Voltaires vernahmen. Das erforderte Zeit. Die Erfahrung mit dem gesellschaftlichen Wandel und den Kämpfen machten Menschen offener für neue Ideen, mit denen die Welt auf eine Weise erklärt werden konnte, wie es die Religion nicht mehr vermochte.
Sozialisten sollten heute bei dem real vorhandenen Kontext von institutionellem Rassismus und militärischer Intervention ansetzen, denen Muslime täglich ausgesetzt sind. Aufklärung kann weder durch richterliche Verfügung noch mit Gewehren erzwungen werden. Die wirkliche Voraussetzung für eine Debatte ist die Einheit im Handeln. Dabei kann die Diskussion in dem sicheren Wissen geführt werden, dass alle Beteiligten unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Ansichten dennoch ein gemeinsames Ziel haben. Ich denke, es ist kein Zufall, dass gerade diejenigen, die die Notwendigkeit einer islamischen Aufklärung am heftigsten betonen, auch am lautesten nach Krieg schreien. Die ursprüngliche Aufklärung wird nicht wiederkehren. Aber es könnte sein, dass wir gerade die ersten Anzeichen für eine neue Aufklärung sehen, nicht in jenen Stimmen für den Krieg, sondern in den Taten von Muslimen wie Nichtmuslimen, die auf die Straße gehen, um ihnen entgegenzutreten.
Zum Text:
Der Aufsatz wurde leicht gekürzt und aus dem Englischen von Rosemarie Nünning und David Meienreis übersetzt. Er erschien unter dem Titel »Islam and the Enlightenment« in Socialist Review im März 2006.