Was bringt denn so ein Schuldenschnitt? Und wer soll das am Ende alles bezahlen? Über die Situation in Griechenland werden viele Märchen verbreitet. Ein Faktencheck von Antonella Muzzupappa und Sabine Nuss
1) »Die deutschen Steuerzahler sollen nicht für die Schulden Griechenlands bezahlen müssen«
Zurzeit hat Griechenland 322 Milliarden Euro Schulden. Größte Kreditgeber unter den Euroländern sind Deutschland, Frankreich und Italien. Allerdings stammen die deutschen Kredite nicht aus dem Steueraufkommen. Die Bundesregierung hat sich Geld geliehen und an die »Krisenstaaten« weiter verliehen. Diese entrichten dafür Zinsen. »Der Steuerzahler« hat also noch nichts gezahlt. Und überhaupt: Was nutzt es dem »Steuerzahler«, wenn Griechenlands Pleite nur immer weiter hinausgezögert und das Elend verlängert wird? Und was nutzt es ihm, wenn Griechenland definitiv Pleite geht und die Schulden gar nicht mehr zurückzahlen kann? Nützlich ist das Ganze nur für die Regierungen der Gläubigerstaaten, weil sie damit den Druck auf Griechenland dauerhaft aufrechterhalten können.
2) »Ein Schuldenschnitt würde doch gar nichts bringen«
Ja und Nein. 80 Prozent der Kredite für Griechenland kommen von öffentlichen Geldgebern. Der Großteil der Schulden – es handelt sich um 142 Milliarden Euro – stammt aus dem Euro-Rettungsfonds (EFSF/ESM). Für diese Kredite werden Zinsen und Rückzahlungen erst ab dem Jahr 2020 fällig. Weitere 53 Milliarden Euro hat Griechenland über bilaterale Kredite von EU-Staaten bekommen, auch da sind die Zinsen relativ gering. Wenn hier Schulden gestrichen werden, schafft das Griechenland in den nächsten Jahren kaum Erleichterung.
Allerdings würde ein Schuldenerlass bei den Krediten vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB) helfen. Ihnen schuldet Griechenland insgesamt 62 Milliarden Euro. Bereits dieses Jahr werden Zins- und Rückzahlungen über mehrere Milliarden fällig. Die kann sich Athen nicht leisten. Hier würde ein Schuldenschnitt kurzfristig etwas bringen. EZB und IWF dürfen aber laut Statuten die Schulden nicht streichen. Will man diese Statuten nicht ändern, gibt es eine andere Lösung: Die EU-Staaten oder der Euro-Rettungsschirm übernehmen die Schulden von EZB und IWF, streichen Teile (sie dürfen das), senken Zinsen, legen die Schulden still oder koppeln ihre Bedienung an das griechische Wirtschaftswachstum. Ob das passiert, ist eine politische Entscheidung: Indem man die Schulden nicht streicht, kann man den Druck auf Griechenland aufrechterhalten und die Politik des Landes kontrollieren. Denn ohne Schuldenschnitt braucht Griechenland immer neue Kredite von der Europäischen Union. Die erhält es nur, wenn weiter die sogenannten Reformen durchgesetzt werden (Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, Privatisierungen, Entlassungen, Schwächung der Gewerkschaften, Kürzungen). Damit will die Regierung von Syriza Schluss machen – und genau das erlauben die deutsche Regierung und die Troika (EU-Kommission, IWF, EZB) nicht. Im Gegenteil, sie wollen die »Reformpolitik« europaweit durchsetzen.
3) »Die Griechen sind faul und machen ständig Urlaub«
Griechenland befindet sich seit dem Jahr 2008 in einer Rezession und hat bis Ende 2012 ungefähr 19,5 Prozent seiner Wirtschaftskraft verloren. Trotzdem arbeiten die Menschen dort sehr viel. Die Wochenarbeitszeit – abzüglich Mittagspausen – lag vor der Krise laut dem statistischen Amt der EU bei 44,3 Stunden, in Deutschland waren es 41 Stunden und im EU-Durchschnitt 41,7 Stunden. Die französische Bank Natixis kommt für Deutschland auf eine Jahresarbeitszeit von durchschnittlich 1.390 Stunden, in Griechenland sind es 2.119 Stunden.
Es ist prinzipiell falsch, die Ursache der Wirtschaftskrise eines Landes im mangelnden Fleiß der Bevölkerung zu suchen. Die Griechinnen und Griechen können nicht einfach mal länger arbeiten, um die Krise zu beenden. Es ist umgekehrt: Wegen der Krise sind viele mittlerweile zum Nichtarbeiten gezwungen. Die offizielle Arbeitslosenrate lag im Jahr 2014 bei 26 Prozent, unter den Jugendlichen war letztes Jahr sogar die Hälfte ohne bezahlten Job. Die Zahl der Staatsbediensteten wurde in den vergangenen Monaten um 83.000 gekürzt. Man sieht: Nicht »Faulheit« schafft Krisen, sondern Krisen vernichten Jobs.
Trotzdem behauptet Bundeskanzlerin Merkel: »Wir können nicht eine Währung haben, und der eine kriegt ganz viel Urlaub und der andere ganz wenig«. Auch hierbei handelt sich hier um eine Variante des Faulheitsvorwurfs. Doch laut EU-Agentur Eurofound haben griechische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durchschnittlich einen Urlaubsanspruch von 23 Tagen im Jahr. In Deutschland sind es durchschnittlich 30 Urlaubstage.
4) »Die Griechen haben sich ein fettes Leben gemacht und jetzt zahlen wir ihnen Luxusrenten«
Kanzlerin Merkel fordert: »Es geht auch darum, dass man in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal nicht früher in Rente gehen kann als in Deutschland«, und »Bild« titelte: »Warum zahlen wir den Griechen ihre Luxus-Renten?« Auch hier hilft ein Blick in Statistiken. Laut OECD gehen in Deutschland Männer im Durchschnitt mit 61,5 Jahren in Rente, in Griechenland mit 61,9 Jahren. Dabei handelt es sich keineswegs um »Luxusrenten«: Die griechische Durchschnittsrente beträgt 55 Prozent des Durchschnitts der Eurozone, im Jahr 2007 lag sie bei 617 Euro. Zwei Drittel der griechischen Rentnerinnen und Rentner müssen mit weniger als 600 Euro im Monat über die Runden kommen. Durch das Spardiktat der Troika gab es auch bei den Renten tiefe Einschnitte. Die Regierung erhöhte das Rentenalter auf 67 und senkte die Pensionen um fast ein Drittel – ein »fettes Leben« sieht anders aus. Die Mehrheit der Menschen in Griechenland ist von Armut bedroht. Nach Angaben des gewerkschaftsnahen Instituts für Arbeit verdient ein Viertel aller griechischen Beschäftigten weniger als 750 Euro im Monat.
5) »Der griechische Staat ist aufgebläht«
Die griechischen Staatsausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, die Staatsausgabenquote, lagen im Jahr 2008 bei 48 Prozent, die deutsche Quote betrug nur 44 Prozent. Vor der Krise sah die Sache allerdings anders aus: Die griechische Staatsausgabenquote sank zwischen 2000 und 2006 von 47 Prozent auf 43 Prozent. Dies änderte sich erst mit dem Einbruch der Wirtschaft in der Finanzkrise. Für die »Aufblähung« der griechischen Staatsausgaben war also die Rezession verantwortlich, nicht hellenische Verschwendungssucht. Außerdem verzeichnet Schweden seit zehn Jahren Staatsausgabenquoten zwischen 51 und 55 Prozent des BIP – und ist nicht pleite. Und noch ein Wort zum »aufgeblähten« Behördenapparat: In Griechenland sind laut OECD 7,9 Prozent aller Erwerbstätigen Beamtinnen und Beamte. In Deutschland liegt der Wert bei 9,6 Prozent und im Durchschnitt aller Industrieländer bei 15 Prozent.
6) »Die Griechen sind korrupt«
Tatsächlich sind Steuerhinterziehung und Korruption in Griechenland stärker ausgeprägt als in anderen Ländern. Der Anteil der Schattenwirtschaft wird auf rund 25 Prozent der Wirtschaft geschätzt (zum Vergleich: in Deutschland auf etwa 15 Prozent) und die Summe der hinterzogenen Steuern auf 20 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist tatsächlich ein großes Problem. Hinterzogene Steuern sind eine Umverteilung vom Staat zum privaten Sektor. Das Geld ist also nicht »weg«. Korruption und Steuerhinterziehung nutzt vor allem den Wohlhabenden und Unternehmen. Konzerne aus Deutschland haben sich an der »Schmiergeld-Wirtschaft« in Griechenland besonders beteiligt, wie Attac feststellt: »Seit dem Jahr 2008 wurde in mehreren juristischen Auseinandersetzungen dokumentiert, dass die deutschen Unternehmen Siemens, Ferrostaal-MAN und Deutsche Bahn AG in großem Maßstab in Griechenland Politiker einkauften und politische Entscheidungen zu ihren Gunsten ›finanzierten‹.«
7) »Die Griechen sollten erst einmal selbst sparen, bevor der deutsche Steuerzahler nochmals hilft«
Von 2010 bis 2013 haben die verschiedenen Regierungen Griechenlands sechs »Sparpakete« verabschiedet. Opfer dieser Kürzungspolitik ist die dortige Bevölkerung.
Wegen der Sparprogramme hat sie seit Anfang des Jahres 2010 durchschnittlich fast 20 Prozent ihres Einkommens verloren. »Kein Industrieland hat in den letzten 25 Jahren sein strukturelles Defizit binnen eines Jahres so stark gesenkt«, sagt selbst die Ratingagentur Fitch.
Das angebliche Interesse der »deutschen Steuerzahler« ist die stärkste Waffe der Schuldenschnitt-Gegnerinnen und Gegner. Laut Umfragen sind mehr als die Hälfte der Deutschen gegen einen Schuldenerlass. Aber Umfragen interessieren die Bundesregierung normalerweise auch nicht: Den Afghanistan-Einsatz lehnt ebenfalls die Mehrheit ab. Trotzdem hat Berlin Millionen für diesen Krieg anstatt für Kitas ausgegeben.
Aber es geht hier auch gar nicht um »Deutschland gegen Griechenland« oder »Frankreich gegen Italien«. Das ist kein Völkerball. Tatsächlich geht es um »arm gegen reich«, um »Lohnabhängige gegen Kapitalbesitzende« – also darum, dass die Ausgaben des Staates die Kapitalbesitzenden unterstützen, statt soziale Maßnahmen zu finanzieren. Die Bevölkerung soll billiger werden, sparen, auf Lohn verzichten, mehr arbeiten, wettbewerbsfähiger werden (siehe »Agenda 2010«), um Investitionen in Europa rentabler zu machen. Die »Euro-Rettung« soll Investitionsrenditen erhöhen. Dafür müssen die einen zahlen und arbeiten, die anderen kassieren. Und das in jedem einzelnen Land. Der alte Spruch »Die Grenze verläuft nicht zwischen Nationen, sondern zwischen oben und unten« gilt nach wie vor.
Zu den Autorinnen:
Sabine Nuss ist Journalistin und Politologin. Sie arbeitet bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, hat sich unter anderem mit geistigem Eigentum im informationellen Kapitalismus beschäftigt und ist Herausgeberin von »PolyluxMarx. Bildungsmaterial zur Kapital-Lektüre«.
Antonella Muzzupappa arbeitet als Referentin für Politische Ökonomie an der Akademie für politische Bildung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und ist Herausgeberin von »PolyluxMarx«.
Hintergrund:
Der Text ist erstmals im »Neuen Deutschland« vom 9. Februar 2015 erschienen. Wir haben ihn leicht gekürzt und danken Autorinnen und Verlag für die freundliche Abdruckgenehmigung. Die ausführliche Argumentation gibt es als Broschüre: »Schummel-Griechen machen unseren Euro kaputt« (kostenloser Download auf rosalux.de).
Foto: eltpics
Schlagwörter: EU, Euro, Eurokrise, Griechenland, Krise, Merkel, Schulden, Schuldenschnitt, Tsipras, Varoufakis