In der gegenwärtigen Situation ist es praktisch unmöglich vorherzusagen, wie weit Israel unter Netanjahu bei der Ausweitung des Krieges zu gehen bereit ist, aber seine strategischen Ziele sind klar, meint Moshé Machover
Moshé Machover, 1936 in Tel Aviv geboren, ist Autor, Mathematiker und sozialistischer Aktivist. Im Jahr 1962 war er Mitbegründer der israelischen sozialistischen Organisation Matzpen.
Versucht Benjamin Netanjahu, einen »totalen« regionalen Krieg zu provozieren? Sogar einige Kommentator:innen in den Mainstream-Medien wagen diese Vermutung. Ein Beispiel dafür ist der jüngste Artikel von Simon Tisdall in The Guardian. Unter Bezugnahme auf Israels Krieg gegen den Gazastreifen, die Eskalation der Kämpfe mit der Hisbollah, die Gewalt der jüdischen Siedler:innen und den Landraub im Westjordanland schreibt er:
»Die Befürchtung heute … ist, dass all diese erbitterten Konflikte zu einem riesigen regionalen Flächenbrand verschmelzen, der andere iranische Stellvertreter im Jemen, in Syrien und im Irak mit einbezieht und wiederum eine militärische Antwort der USA und ihrer Verbündeten erzwingt, die in den letzten Wochen ihre militärische Präsenz verstärkt haben. Der ultimative Alptraum ist, dass der Iran selbst Israel direkt konfrontiert (oder umgekehrt) …
Es wird aber auch der Verdacht aufkommen, dass der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu absichtlich die Gelegenheit ergriffen hat, die seit dem 7. Oktober schwelende Grenzkonfrontation mit der Hisbollah zu eskalieren. Gegner und Kritiker werfen Netanjahu mit einigem Recht vor, in seinem unrealistischen Streben nach einem ›totalen Sieg‹ ein Gaza-Abkommen zu blockieren – und absichtlich einen erweiterten Konflikt zu schüren, um sein politisches Überleben zu sichern.«
Israelische Kommentator:innen formulieren es noch direkter. Dazu gehört der ehemalige Ministerpräsident Ehud Olmert, dessen Artikel in Ha’aretz den Titel trägt: »Netanjahu will einen totalen Krieg im Norden, Süden und im Zentrum«. Der Titel eines Artikels des Ha’aretz-Kolumnisten Rogel Alpher, der sich auf Netanjahus theatralischen Auftritt vor dem US-Kongress am 24. Juli bezieht, ist noch unverblümter, wenn auch ein wenig übertrieben: »Netanjahu will einen Weltkrieg«.
In der Tat gibt es mehrere eindeutige Hinweise darauf, dass Netanjahu darauf abzielt, bestehende bewaffnete Konflikte auszuweiten und zu eskalieren und einen großen regionalen Flächenbrand zu entfachen. Israels völkermörderischer Krieg gegen die Palästinenser in Gaza geht weiter und ein Ende ist nicht in Sicht, während Netanjahu die Waffenstillstands-/Geiselverhandlungen in Doha weiter torpediert. Wie Olmert es ausdrückt: »Netanjahu will die Geiseln nicht zurück … Die Gespräche werden wahrscheinlich auf unbestimmte Zeit fortgesetzt oder irgendwann platzen und mit einer weiteren Runde von Militäraktionen im Süden und vielleicht auch im Norden enden.«
Provokation und Eskalation
Am 30. Juli eskalierte Israel seine bis dahin kontrollierten Feindseligkeiten mit der libanesischen Hisbollah durch die Ermordung des hochrangigen Führers dieser Organisation, Fuad Shukr. Am folgenden Tag folgte eine noch krassere Provokation: die Ermordung des obersten Hamas-Führers Ismail Haniyeh – der zufällig das Team leitete, mit dem Israel über einen Waffenstillstand im Gazastreifen und die Freilassung von Geiseln verhandeln sollte. Dieses Attentat in Teheran, wo Haniyeh der Vereidigung des neuen iranischen Präsidenten Masoud Pezeshkian beiwohnte, war ein Fehdehandschuh, den der zionistische Staat der Islamischen Republik hinwarf.
In der Zwischenzeit ist im besetzten Westjordanland ein anwachsender Tsunami von antipalästinensischen Pogromen zu verzeichnen, die von brutalen Banden religiöser zionistischer Siedler:innen verübt und von israelischen Militärs flankiert werden. Und seit dem frühen Morgen des 28. August hat es eine massive Offensive der israelischen Besatzungstruppen gegen die größeren Städte im nördlichen Teil des Westjordanlandes gegeben, bei der Hunderte von Bodentruppen sowie Kampfflugzeuge, Drohnen und Bulldozer zum Einsatz kamen und kriegsverbrecherische Taktiken – die seit langem gegen die Bevölkerung des Gazastreifens praktiziert werden – wie das Angreifen von Krankenhäusern und die »Ermutigung« der Bevölkerung zur Umsiedlung in »sichere« Gebiete angewandt wurden.
Ein Artikel in der Times of Israel bezieht sich in der Einleitung auf den Außenminister: Israel Katz fordert die »vorübergehende Evakuierung palästinensischer Zivilisten« aus Städten, in denen die IDF eine Anti-Terror-Razzia durchführt« und Katz wird zitiert: »Wir müssen mit der Bedrohung genauso umgehen, wie wir mit der Terrorinfrastruktur in Gaza umgehen, einschließlich der vorübergehenden Evakuierung palästinensischer Zivilisten und jeder anderen notwendigen Maßnahme.« Er bezeichnete die jüngste IDF-Operation als Teil eines »Krieges in jeder Hinsicht«.
Motive: Netanjahus Kriegswunsch
Warum aber will Netanjahu das Feuer eines regionalen Krieges schüren? Die von den bürgerlichen Medien bevorzugte, vereinfachte Erklärung ist sein Eigeninteresse. Hier zum Beispiel noch einmal Simon Tisdall von The Guardian:
»Was ist der Plan von Netanjahu? Hat er einen? Weil seine Regierungsmehrheit in der Knesset und seine eigene Position als Ministerpräsident von der Unterstützung einer Handvoll extremistischer religiöser und jüdisch-nationalistischer Minister und Abgeordneter abhängt und weil er wegen Korruption ins Gefängnis kommen könnte, sobald er nicht mehr an der Macht ist, sagen seine Gegner, dass Netanjahu kein Interesse an Frieden an irgendeiner Front hat.«
Ähnlich äußert sich Olmert:
»Die Masse der [israelischen] Bevölkerung von der politischen Rechten, der Linken und der Mitte sieht, dass die Person, die für ihr Wohlergehen und ihre Sicherheit verantwortlich ist, einen ständigen, unbefristeten Ausnahmezustand schaffen und aufrechterhalten will. Er will diesen Ausnahmezustand als Deckmantel benutzen, unter dem er weiterhin vor der Verantwortung für die Katastrophe vom 7. Oktober fliehen und sogar seinen Korruptionsprozess endlos in die Länge ziehen kann. (Man darf gespannt sein, welche weitere Katastrophe er vor seiner für den 2. Dezember geplanten Aussage vorbereitet).«
Es ist unzweifelhaft wahr, dass Netanjahu persönliche Gründe hat, einen Krieg ohne Ende zu befürworten. Aber das reicht bei weitem nicht aus, um eine zufriedenstellende Erklärung zu liefern. Nehmen wir für einen Moment an, dass Netanjahu aus Eigeninteresse gezwungen ist, wider besseres Wissen als Werkzeug seiner extremeren Koalitionspartner zu handeln. Dann würde sich die Frage nur verschieben: Warum drängen sie auf einen »totalen Krieg«? Was versprechen sie sich davon?
In jedem Fall scheitert die Erklärung des Eigeninteresses an einem kurzen Gedächtnis und mangelnder Aufmerksamkeit. Tatsächlich hat Netanjahu schon versucht, einen regionalen Flächenbrand zu schüren, lange bevor man ihn verdächtigen konnte, dies aus persönlichen Gründen zu tun. Seit vielen Jahren lässt er keine Gelegenheit aus, insbesondere wenn er vor einem amerikanischen Publikum spricht, zum Krieg gegen den Iran aufzurufen, der angeblich die Wurzel allen regionalen Übels ist, einschließlich des palästinensischen Widerstands.
Alptraum des Zionismus
In diesem Zusammenhang möchte ich an einen Artikel erinnern, den ich 2012 im Weekly Worker mit dem Titel »Netanjahus Kriegswunsch« veröffentlicht habe. Die Analyse in diesem alten Artikel ist im Wesentlichen auch heute noch gültig. Hier ist eine kurze Zusammenfassung mit einigen Zitaten. Netanjahu hat zwei Motive, um einen amerikanisch-israelischen Krieg gegen den Iran zu schüren. Erstens:
»… die tatsächliche politische Bedrohung [des Irans] für Israels regionale Hegemonie, nicht die imaginäre Bedrohung durch einen Angriff der Islamischen Republik. Der Besitz von Nuklearwaffen ist sicherlich eine Komponente dieser politischen Bedrohung, da er zu Irans diplomatischer Stärke im Umgang mit anderen Staaten des Nahen Ostens und mit den USA beitragen würde. Aber es ist nur eine Komponente. Auch ohne die Nuklearfrage hat der zionistische Staat ein klares Interesse daran, das derzeitige iranische Regime durch ein Regime zu ersetzen, das mit der globalen US-Hegemonie konform geht.«
Aber es gibt noch ein zweites Motiv, das nicht weniger wichtig ist. Es erklärt, warum Netanjahu es vorziehen würde, das iranische Regime durch das riskante Mittel des Krieges zu stürzen, anstatt durch Subversion. Wie ich in diesem Artikel schrieb:
»Um Netanjahus rücksichtsloses Kalkül zu erklären, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf den Alptraum des Zionismus richten: die palästinensische ›demografische Gefahr‹ … Inzwischen ist den meisten Menschen bewusst, dass die derzeitige israelische Regierung alles in ihrer Macht Stehende getan hat, um eine so genannte ›Zweistaatenlösung‹ zu torpedieren.
Viele Beobachter haben sich über Israels unnachgiebige Ablehnung eines souveränen palästinensischen Staates westlich des Jordans, wie klein er auch sein mag, gewundert. Dies scheint furchtbar kurzsichtig zu sein. Denn wenn das gesamte Palästina von vor 1948 unter israelischer Souveränität bleiben soll, würde das bedeuten, dass Israel über ein feindlich gesinntes palästinensisch-arabisches Volk herrschen müsste. Das gesamte Gebiet wäre dann ein einziger Staat. Gegenwärtig besteht ein ungefähres zahlenmäßiges Gleichgewicht zwischen den beiden nationalen Gruppen. Da keine große jüdische Einwanderung zu erwarten ist und die natürliche Wachstumsrate der palästinensischen Bevölkerung höher ist als die der hebräischen, wird die palästinensische Bevölkerung innerhalb weniger Jahrzehnte zahlenmäßig deutlich überlegen sein. Sicherlich kann der palästinensischen Mehrheit nicht unbegrenzt die Gleichberechtigung verweigert werden, aber Gleichberechtigung würde zum Untergang des jüdischen Staates führen. Für den Zionismus ist diese ›demografische Gefahr‹ sogar schlimmer als ein souveräner palästinensischer Ministaat. Es scheint also, dass Israel, indem es die Gründung eines solchen Staates sabotiert, auf das zusteuert, was seine eigene herrschende Ideologie als Abgrund betrachtet.
Dieser scheinbare Widerspruch lässt eine dritte Option außer Acht: weder eine Zweistaatenlösung noch einen Einheitsstaat mit einer arabischen Mehrheit, sondern einen ›Bevölkerungstransfer‹. Eine groß angelegte ethnische Säuberung der palästinensischen Araber:innen würde zu einem einzigen Staat im gesamten Gebiet mit einer großen jüdischen Mehrheit führen, was das ultimative Ziel aller großen zionistischen Parteien ist.
Aber die Durchführung ethnischer Säuberungen in einem ausreichend großen Maßstab … ist politisch sehr heikel. Sie kann nicht unter normalen, politisch ruhigen Umständen durchgeführt werden. Sie erfordert das, was man im zionistischen Sprachgebrauch she’at kosher nennt: einen günstigen Moment einer großen politischen und vorzugsweise militärischen Krise …
Ein Krieg mit dem Iran würde eine goldene Gelegenheit für eine groß angelegte Vertreibung der Palästinenser:innen bieten, gerade weil … die Kämpfe nicht so schnell vorbei wären und es wahrscheinlich zu großen Protesten und Unruhen unter den Massen in der gesamten Region kommen würde, einschließlich der palästinensischen Araber:innen unter israelischer Herrschaft. Gibt es einen besseren Weg, solche Unruhen zu befrieden, als ›viele Menschen zu vertreiben‹?
Natürlich würde keine israelische Führungsperson die Entscheidung, einen Krieg gegen den Iran zu beginnen, leichtfertig treffen. Es besteht ein nicht zu vernachlässigendes Risiko, dass Israel viele Opfer erleiden würde. Dies ist kein Preis, den selbst der abenteuerlustigste Premierminister zu zahlen bereit wäre, es sei denn, der zu erwartende Gewinn ist extrem hoch. Aber in diesem Fall ist der Gewinn der höchstmögliche aus zionistischer Sicht: die Beseitigung der demographischen Bedrohung für die Zukunft Israels als jüdische Ethnokratie. Netanjahu wird also stark versucht sein, sein eigenes Volk für das nationale Wohl zu opfern.«
Strategie: Machiavellismus und Säuberung
Ein seit langem bestehender israelischer Plan zur ethnischen Säuberung, der von Ariel Sharon (Israels Premierminister von 2001 bis 2006) ausgeheckt und von einem bedeutenden israelischen Militärtheoretiker enthüllt wurde, betraf das Westjordanland. Der Gazastreifen sollte zu einem späteren Zeitpunkt behandelt werden. Eine der letzten Maßnahmen Scharons war der Rückzug der israelischen Siedlungen und Truppen aus dem Gazastreifen, der in ein riesiges Freiluftgefängnis verwandelt wurde, das einer immer härteren Belagerung und wiederholten brutalen Militäroffensiven ausgesetzt ist. Unter Netanjahu stärkte Israel auch die Herrschaft der Hamas im Gazastreifen durch eine machiavellistische Strategie, zu der auch die Überweisung umfangreicher Subventionen aus Katar gehörte. Netanjahu gab sich der Illusion hin, dass dieser Zuckerbrot-und-Peitsche-Plan den Gazastreifen sicher unter Kontrolle halten würde. Israels oberste politische und militärische Führungspersonen ignorierten weiterhin die gegenteiligen Warnzeichen.
Der Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023, der Israel traumatisierte, überraschte die selbstbetrügerische israelische Führung. Doch Netanjahu – wie immer ein Draufgänger – nahm bald eine strategische Anpassung vor und verwandelte eine Katastrophe in eine Gelegenheit, einen völkermörderischen Krieg gegen die Palästinenser:innen im Gazastreifen zu beginnen. Inzwischen ist der Gazastreifen völlig verwüstet; es wird Jahre dauern, bis er wieder bewohnbar ist. Aber der Krieg hat sein Ziel – die ethnische Säuberung – bisher nicht erreicht: Die palästinensische Bevölkerung ist immer noch dort. Reduziert und verwüstet durch ein gewaltiges Massaker, aber immer noch da.
Der Scharon-Plan zur ethnischen Säuberung des Westjordanlandes sah einen Plan zur Beseitigung der Palästinenser:innen vor, die über den Jordan getrieben werden sollten: Sie sollten sich im Ostjordanland ansiedeln. Das haschemitische Regime in Jordanien sollte gestürzt und durch ein israelisch kontrolliertes »neues Palästina« ersetzt werden. Für die Bewohner:innen des Gazastreifens, der von der ägyptischen Wüste Sinai und dem Meer eingeschlossen ist, gab es keinen vergleichbaren Plan.
Sie jetzt loszuwerden, stellt ein Problem für Netanjahus Völkermord dar. Er hofft vielleicht, dass durch die Verlängerung des Krieges gegen den Gazastreifen die Bedingungen dort so unerträglich werden, dass die Menschen irgendwie versuchen werden, in die Wüste oder ans Meer zu fliehen, oder dass ihnen dabei geholfen wird; aber das würde einen sehr langen Krieg erfordern.
In der Zwischenzeit sind Israels Provokationen an anderen Fronten, insbesondere gegen den Iran, auf das gleiche Hindernis gestoßen wie in der Vergangenheit: Die USA zögern, in einen neuen großen regionalen Krieg hineingezogen zu werden. Doch ohne eine direkte Beteiligung der USA wäre Israel allein zu anfällig für Vergeltungsmaßnahmen des Irans und erst recht der Hisbollah. Hinzu kommt, dass sich Israel in einer beispiellosen internen Krise befindet, die das Land unter dem Druck eines schwierigen Krieges implodieren lassen könnte.
In dieser turbulenten Situation sind Vorhersagen reine Spekulation. Alle Wetten sind ausgeschlossen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der britischen Zeitung Weekly Worker am 5. September 2024. Übersetzung aus dem Englischen von Volkhard Mosler.
Eine Sammlung der wichtigsten Essays von Moshé Machover, verfasst in den Jahren zwischen 1966 und 2011, erschien 2013 im LAIKA-Verlag unter dem Titel: »Israelis und Palästinenser – Konflikt und Lösung« (480 Seiten, 28,90 €)
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Autorenbild: Hossam el-Hamalawy / CC BY 2.0
Schlagwörter: Iran, Israel, Krieg, Libanon, Palästina