Haben Frauen das Recht, eine Schwangerschaft zu beenden, weil das Kind möglicherweise nicht lebensfähig oder schwer behindert sein wird? Warum sie volles Informationsrecht über den Fötus haben müssen und das Recht auf Spätabtreibung nichts mit Behindertenfeindlichkeit zu tun hat. Von Rosemarie Nünning
Seit über hundert Jahren kämpfen Frauen für das uneingeschränkte Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Sie tun dies im Namen der Selbstbestimmung über ihren Körper und ihren Lebensweg. Dieses Recht wird ihnen von Staat und Kirche bis heute streitig gemacht. Mit der Möglichkeit der vorgeburtlichen Untersuchung eines Fötus auf schwere Schädigung seit Anfang der 1980er Jahre hat diese Debatte eine Erweiterung erfahren: Haben Frauen (und ihre Partnerinnen und Partner) ein Recht auf diese Untersuchung mit der möglichen Folge einer Abtreibung? Bewegen sie sich damit im Bereich der »Selektion« menschlichen Lebens?
Schwangerschaft: Pränataldiagnostik als Kassenleistung?
Neuen Schwung hat die Diskussion bekommen, weil jetzt der Gemeinsame Bundesausschuss der Krankenkassen darüber berät, ob eine vorgeburtliche Diagnostik anhand des Bluts der schwangeren Frau zur Kassenleistung werden soll. Bisher ist die Pränataldiagnostik meist »invasiv«, also mit einem Eingriff in den Körper der Frau verbunden. 30.000 bis 60.000 solcher invasiven Tests werden jährlich in Deutschland durchgeführt.
Die nichtinvasive Diagnostik (NIPD), die zurzeit mehrere hundert Euro kostet, kann Frauen ohne das Risiko eines Eingriffs Auskunft darüber geben, ob Genommutationen (Trisomien) vorliegen, die für das Downsyndrom, zu erwartende schwere körperliche und geistige Behinderung oder frühen Kindstod verantwortlich sind. In einigen europäischen Ländern gibt es Pilotverfahren bezüglich der Kassenzulassung des Tests oder bereits eine begrenzte Zulassung, ebenso in einigen Gegenden Kanadas und der USA. In Israel ist er über eine zusätzliche Krankenversicherung verfügbar. In China wird er teils von Stadtverwaltungen subventioniert. Den größten Marktanteil haben bisher die USA. In Deutschland vertreibt der Hersteller LifeCodexx seinen Praena-Test weit über die europäischen Grenzen hinaus.
Kampagne der christlichen Fundamentalisten
Ohne Zweifel haben Konzerne und Krankenkassen großes Interesse an der weiteren Verbreitung dieses Tests. Für Erstere ist es ein Milliardengeschäft, Letztere erwarten auf Dauer Einsparungen bei dem Testverfahren und möglichen Kosten für behinderte Menschen.
Deshalb hat die wahrscheinliche Übernahme der Kosten für die NIPD durch die Krankenkassen scharfe Kritik bei rechten wie linken Gegnern vorgeburtlicher Tests hervorgerufen. Die christlichen Fundamentalisten und rabiaten Abtreibungsgegner mit ihrer Hauptorganisation Bundesverband Lebensrecht widmeten ihren diesjährigen, wieder mehrere Tausend Teilnehmer zählenden Marsch »für das Leben« insbesondere dem Kampf der Pränataldiagnostik. Ihr Motto lautete: »Jeder Mensch ist gleich wertvoll – kein Kind ist unzumutbar« und »Inklusion auch vor der Geburt«. Sie versuchen Druck auf Bundestagsabgeordnete auszuüben, NIPD nicht als Kassenleistung anzuerkennen. Dies verändere »das Klima in unserer Gesellschaft erheblich zuungunsten von Menschen mit Behinderungen und deren Eltern«. Sie genießen die wohlwollende Unterstützung von hochrangigen CSU-Politikern, Bischöfen und der AfD, insbesondere Beatrix von Storch.
Schwangerschaft und Pränataldiagnostik: Kritik von links
Von feministischer Seite hat die Aktivistin und Autorin Kirsten Achtelik im vergangenen Jahr das Buch »Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung« als Abrechnung mit vorgeburtlichen Diagnoseverfahren vorgelegt. Für sie hat »selektive PND nicht viel mit Selbstbestimmung zu tun, sondern ist vor allem behindertenfeindlich«. Sie führt damit eine Auseinandersetzung in der Linken fort, die mit dem Aufkommen vorgeburtlicher Diagnoseverfahren und später der Präimplantationsdiagnostik (PID) begann und in der bereits das Informations- und Selbstbestimmungsrecht von Frauen infrage gestellt wurde. Berühmt wurde ein Streitgespräch in der Zeitschrift »Konkret« im Jahr 1989 unter dem Titel »Krüppelschläge: Wie weit reicht das Selbstbestimmungsrecht der Frau?«
Ein Argumentationsstrang lautet: Frauen würden immer mehr nach der Verwertbarkeitslogik des Neoliberalismus handeln und Schwangerschaften bei Diagnose auf ein später behindertes Kind abbrechen. Sie würden der Logik einer vom Kapitalismus gesetzten Norm folgen. Dies sei »selektiv« und grenze an die Vernichtung »unwerten Lebens«, der Euthanasie im Faschismus.
Hier werden unzulässigerweise zwei Fragen miteinander vermischt: Die Entscheidung gegen ein behindertes Kind wird gleichgesetzt mit Behindertenfeindlichkeit und unter der Hand wird in diesem Fall der »Schutz des ungeborenen Lebens« über das Leben der Mutter gestellt, wie es auch in den 1990er Jahren dem Paragrafen 219 des Strafgesetzbuches auf Druck der christlichen Kirchen eingeschrieben wurde. Die Entscheidung gegen das Austragen einer Schwangerschaft bei einer Trisomiediagnose heißt aber nicht, dass die betroffene Frau, ihr Partner oder ihre Partnerin Menschen mit Downsyndrom das Recht auf Leben absprechen. Es heißt, dass sie sich – und ihre Familie – dieser Situation zu diesem Zeitpunkt nicht gewachsen fühlen. Ob aus finanziellen, gesundheitlichen, psychischen oder emotionalen Gründen: Keine Frau trifft diese Entscheidung leichtfertig. In dem neuen Kinofilm »24 Wochen« von Anne Zohra Berrached sind diese Auseinandersetzung und die Qual der Betroffenen sehr eindrücklich eingefangen.
Selbstbestimmung unter Vorbehalt
Kirsten Achtelik will das Recht auf Schwangerschaftsabbruch nicht antasten, stellt aber die Selbstbestimmung unter Vorbehalt, wenn es um das Informationsrecht von Frauen über ihr ungeborenes Kind geht. Sie fordert, dass vorgeburtliche Tests ausschließlich privat bezahlt werden.
Das sich als links verstehende Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik schlägt sogar vor, eine Ultraschalluntersuchung erst um die 30. Woche durchzuführen, das wäre im achten Schwangerschaftsmonat, in dem ein Abbruch kaum noch infrage kommt – und das ist wohl auch so gemeint. Die Autorin Achtelik schreibt dazu, die Geburt könne »bei sehr schwerer Behinderung mit geringer Lebenserwartung« dann so gestaltet werden, »dass alle wichtigen Personen das Baby noch kennenlernen können«.
Was das heißt, musste im Jahr 2014 eine unter dem Namen »Agnieszka« bekannt gewordene polnische Frau erleben: In der 22. Schwangerschaftswoche erfuhr sie, dass ihr Fötus schwer geschädigt war und keine Überlebenschance hatte. Die Ärzteschaft verweigerte ihr den Abbruch aus »Gewissensgründen«, obwohl sie sogar nach den restriktiven polnischen Gesetzen einen Anspruch darauf hatte. Sie musste die Schwangerschaft bis zum bitteren Ende austragen und sich einem Kaiserschnitt unterziehen. Das Kind starb unmittelbar nach der Geburt. Dieser Fall wurde zu Recht von Pro-Choice-Organisationen und in der Presse als Beispiel einer inhumanen Politik in Polen skandalisiert.
Zur Lösung eines solchen Dilemmas meint Achtelik in der Schweizer »Wochenzeitung« vom 15. September: »Da, wo ich ansetze, würde die Frau ja gar nicht wissen, ob ihr Kind behindert ist oder nicht.« Damit tritt sie faktisch für eine Bevormundung der Frau ein. Sie bildet, ob sie es will oder nicht, mit ihrer Position eine Brücke nach rechts, zu den christlichen Abtreibungsgegnern. Sie torpediert aber auch ihr eigenes Argument, dass bei einer Untersuchung in der 30. Schwangerschaftswoche mit schwierigem Befund zumindest nachgeburtlich nötige Operationen vorbereitet werden könnten. In der »Konkret« vom Juni 2016 wendet sich Achtelik auch gegen einen präventiven Abbruch, wenn bei Frauen eine Infektion mit dem von der Tigermücke übertragenen Zikavirus festgestellt wird. Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation wiesen in Brasilien fast 30 Prozent der von infizierten Frauen geborenen Kinder Auffälligkeiten wie ein deutlich verkleinertes Gehirn und damit starke geistige Behinderung auf.
Sind Spätabtreibungen behindertenfeindlich?
Achtelik reduziert die Entscheidung für den Abbruch auf eine Entscheidung gegen ein »nicht den Normen entsprechendes Kind«, auf »Angst vor Behinderung« und auf »Stärkung eines behindertenfeindlichen Diskurses«. Das Leid, das Frauen und ihre Partner erfahren, wenn sie ein Kind auf den Armen halten, das sie kaum unterstützen können und das womöglich nie in das soziale Leben integriert sein kann, sieht sie nicht. Tatsächlich kommt die »Stärkung eines behindertenfeindlichen Diskurses« von ganz anderer Seite. In Deutschland sind laut Statistischem Bundesamt 7,5 Millionen Menschen als Schwerbehinderte anerkannt. In 85 Prozent der Fälle wurde die Behinderung durch eine Krankheit verursacht. Entsprechend kommen deswegen Behinderungen bei Personen im fortgeschrittenen Alter häufiger vor als bei jüngeren Menschen. Mit dem jetzt vorgelegten Gesetz aus dem Hause der SPD-Ministerin Nahles, das perfiderweise »Teilhabegesetz« genannt wird, werden viele von ihnen gegen ihren Willen in Wohngemeinschaften und Heime gezwungen werden. Behindertenverbände laufen zu Recht dagegen Sturm.
Um die zahlenmäßige Dimension von Schwangerschaftsabbrüchen wegen einer Trisomiediagnose zu verdeutlichen: Laut Statistischem Bundesamt werden von etwa 100.000 Schwangerschaftsabbrüchen im Jahr rund 3500 bis 4000 Abbrüche nach einer medizinischen Indikation (Gefahr für die Frau) vorgenommen. Rund 600 finden nach der 22. Schwangerschaftswoche statt. Abbrüche wegen Diagnose auf Downsyndrom liegen bei etwa 200 bis 300 im Jahr, also etwa 0,3 Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche. Das sind sehr geringe Zahlen und trotzdem reichen sie für fanatische Feldzüge.
Schwangerschaft und Selbstbestimmung
Ein zweiter Argumentationsstrang der linken Kritikerinnen und Kritiker lautet, dass mit den neuen »Reproduktionstechniken« eine Fremdbestimmung »medizinisch-technischer Herkunft« stattfindet. Der Zugriff auf die Frauen nehme zu, die Selbstbestimmung sei eine Illusion. Sicher lässt sich die Frage stellen, wie weit Selbstbestimmung in einer kapitalistischen Gesellschaft gehen kann, die uns ihren ökonomischen Rahmen, ihre Institutionen, ihre Moral aufzwingt. Karl Marx sprach von Entfremdung, weil der Mehrheit der Menschen die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse verwehrt ist, sie nicht Eigentümer der Produktionsmittel sind, mit denen sie arbeiten, und eine Minderheit sich das Produkt ihrer Arbeit aneignet, um Kapital anzuhäufen und nicht, um gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen.
Der Kapitalismus zwingt alles in eine Verwertungslogik, und das nicht erst seit dem Neoliberalismus. Die herrschende Klasse produziert dazu Ideologien der Wertigkeit von Menschen zur Spaltung und Entsolidarisierung. Frauenunterdrückung betrifft die Hälfte der Gesellschaft mehr oder weniger stark. Behinderte werden diskriminiert und ihnen wird ein eigenständiges Leben schwer gemacht. Herrschende Ideologien setzen sich auch im Bewusstsein der Beherrschten fest, sonst wären sie nicht »herrschend«. Sie spiegeln sich in den Vorurteilen und im Handeln der Beherrschten wider. Sie werden aber immer auch angefochten, sonst gäbe es keinen alltäglichen individuellen Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung, keine Streiks, keine sozialen Bewegungen bis hin zu Betriebsbesetzungen, Barrikadenkämpfen und Revolutionen.
Zu dem alltäglichen Widerstand gehört auch jener der Frauen, sich gegen den Zugriff auf ihren Körper zu wehren. Der Kampf gegen den Paragrafen 218 ist einer gegen den bürgerlichen Staat, der sich anmaßt, in das Leben der Frauen und ihre körperliche Integrität einzugreifen. Es geht um das Recht auf die Entscheidung, niemals ein Kind zu haben, zu diesem Zeitpunkt nicht oder weil es voraussichtlich schwer behindert sein wird oder aus anderen Gründen. Und in jedem einzelnen Fall ließe sich sagen, das sei »selektiv«.
Schwangerschaft: Recht auf alle verfügbaren Informationen
Kirsten Achtelik billigt in der »taz« vom 29. September 2016 den rabiaten Abtreibungsgegnern zu, nicht nur frauenfeindlich zu sein, da sie auch bessere Unterstützung von Frauen und Familien, die ein behindertes Kind großziehen, forderten und pränatale Diagnostik einschränken wollten. Das ist ein großer Irrtum. Die grundsätzliche Verweigerung des Rechts auf Selbstbestimmung der Frau lässt sich nicht durch finanzielle Unterstützung von Familien mit behinderten Kindern kompensieren. Das dient lediglich dazu, eine Brücke in diesem Fall von rechts nach links und zu Teilen der Behindertenbewegung zu schlagen. An die Pro-Choice-Bewegung appelliert Achtelik, das Thema »selektive Schwangerschaftsabbrüche« nicht den Konservativen zu überlassen. Damit verlangt sie von der Bewegung, das Recht einer Frau auf Schwangerschaftsabbruch unabhängig von ihren Motiven infrage zu stellen und den bürgerlichen Staat aufzufordern, in ihre Entscheidungsfreiheit einzugreifen.
Dieser Spagat funktioniert nicht. Selbstbestimmung ist nicht teilbar. Sie muss erkämpft werden. Frauen haben ein Recht auf alle verfügbaren Informationen bezüglich ihrer Schwangerschaft – und sie müssen die Freiheit haben, dann ihre Entscheidung für oder gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft zu treffen. Dazu gehört auch, dass der Zugang zu diesen Techniken nicht privatisiert ist, also wie der Schwangerschaftsabbruch zur Klassenfrage wird: Frauen in prekärer Lage wären im Gegensatz zu wohlhabenderen ausgeschlossen von einer Untersuchung. Ebenso haben Frauen auch ein Recht auf »Nichtwissen«, also auf die Entscheidung gegen einen Test. Aber die Entscheidung kann nur aufgrund unbeschränkten Zugangs zu Information gefällt werden. Gleichzeitig ist es notwendig, für eine Welt zu kämpfen, in der Entfremdung und Unterdrückung aufgehoben sind, Frauen nicht aus Not eine Schwangerschaft abbrechen und Behinderte über ihr Leben frei bestimmen können.
Foto: Frank de Kleine
Schlagwörter: Abtreibung, Behinderte, Behinderung, Bundesteilhabegesetz, Fötus, Inland, marx21, Pränataldiagnostik, Pro Choice, Schwangerschaft, Schwangerschaftsabbruch, Selbstbestimmung