Die Bundesregierung will den Paragraf 219a abschaffen – ein Erfolg der wachsenden feministischen und Pro-Choice-Bewegung. Doch der Kampf für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist damit längst noch nicht am Ziel. Von Rosemarie Nünning
Im Januar stellte Marco Buschmann, der neue Justizminister von der FDP, einen Gesetzentwurf zur Streichung des Strafrechtsparagrafen 219a vor. Mit diesem Paragrafen sollte angeblich verhindert werden, dass schwangere Frauen sich von wildwüchsiger Werbung zu einer Abtreibung verleiten lassen.
Die Lorbeeren gebühren allerdings keineswegs der FDP und auch nicht der rot-grün-gelben Regierung, die die Streichung dieses Gesetzes in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hat, sondern einer seit Jahren wachsenden Bewegung für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.
Die Kriminalisierung der Abtreibung
Bereits seit über 150 Jahren besteht der Paragraf 218 zur Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Seitdem wurde dieses Gesetz verändert, Strafen wurden gemildert – oder in der Nazizeit verschärft. Der Grundgedanke der staatlichen Bestrafung eines Schwangerschaftsabbruchs und somit umgekehrt der Pflicht, ein Kind auszutragen, blieb aber bis heute erhalten. Frauen konnten im Gefängnis landen oder wie noch in dem skandalösen Memminger Prozess von 1988 hohe Bußgelder auferlegt bekommen. Die Hauptwirkung war aber immer die illegale Abtreibung mit großer Gefahr für die Gesundheit oder das Leben der Frau.
Gleich zu Beginn der Naziherrschaft, im Mai 1933, wurde das öffentliche Anbieten oder die Förderung der Abtreibung mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bedroht. Dieser Paragraf 220 war den Nazis so wichtig, dass er noch vor der geplanten Reform des Strafgesetzbuchs erlassen wurde. Er war ein zentraler Baustein in der Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und auch im Kampf gegen die riesige Bewegung für Sexualreform und für die Abschaffung von Paragraf 218 in den letzten Jahren der Weimarer Republik unter der Parole »Dein Bauch gehört dir!«, an der die KPD wesentlichen Anteil hatte.
Für die Nazis war diese Bewegung ein Ausdruck »jüdisch-marxistischen Geists«, sie schlossen umgehend die Sexualberatungsstellen oder stellten sie in den Dienst der »Erb- und Rassenpflege«. Das ging Hand in Hand mit der Unterdrückung der Gewerkschaften und der KPD.
Bezeichnenderweise wurde in der BRD nach 1945 dieser Paragraf als nicht nazibelastet eingestuft und existiert bis heute fort, inzwischen als der uns bekannte Paragraf 219a. Mitte der 1970er Jahre erhielt er zumindest die Einschränkung der Werbung des »Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise«.
Kampagne gegen Paragraf 219a
Weit rechts stehende klerikale Organisationen und Nazis auch aus der AfD versuchen seit Jahren, eine Bewegung gegen sexuelle Selbstbestimmung aufzubauen. Ein Schwerpunkt in ihrer Propaganda ist die Forderung, den Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch ganz zu unterbinden, wozu sie unter anderem einen jährlichen »Marsch für das Leben« mit bis zu etlichen Tausend Teilnehmenden veranstalten. Wie schon bei den Vorläufernazis können wir dies als Teil ihres autoritären Projekts verstehen, jede Art fortschrittlicher Entwicklung und die bürgerliche Demokratie insgesamt zu beseitigen. In der Frage Abtreibung können sie wie damals anknüpfen an eine auch noch heute bestehende Ideologie und Praxis der Frauenunterdrückung.
In diesem Kontext begannen vor etlichen Jahren einige Akteure aus diesem Spektrum Ärztinnen und Ärzte auf Grundlage von Paragraf 219a anzuzeigen, die auf ihrer Website über die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen in ihrer Praxis informierten.
Manche Verfahren wurden eingestellt oder die Betroffenen zahlten stillschweigend das Bußgeld, um die Aufmerksamkeit radikaler Abtreibungsgegner nicht noch mehr auf sich zu lenken. Die Ärztin Kristina Hänel entschloss sich, die Sache mit Rückendeckung einer wachsenden feministischen und Pro-Choice-Bewegung wie dem Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung durchzufechten. Das Amtsgericht Gießen verurteilte sie im Jahr 2017 zu 6.000 Euro oder 40 Tagen Haft. Sie hat Verfassungsbeschwerde eingereicht.
Paragraf 219a hätte bereits vor vier Jahren gestrichen werden können. Unter dem Druck der Bewegung bekannten Grüne, SPD und FDP sich in einer Bundestagsdebatte dazu. Die SPD, prominent dabei die heutige Berliner Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey, fiel dann selbst einem großen Teil der eigenen Mitgliedschaft in den Rücken, als sie sich in der erneuten Regierung mit der CDU nur zu einer Reform durchrang, die den Namen nicht einmal verdiente.
Was ist mit Paragraf 218?
Nun also könnte der Naziparagraf endlich fallen. Ohne Zweifel ist es dem Druck der Bewegung und der erzeugten großen Öffentlichkeit ebenfalls zu verdanken, dass Grüne und SPD in ihren Wahlprogrammen von 2021 auch gleichlautend formuliert haben: »Schwangerschaftsabbruch gehört nicht ins Strafrecht.« Während die Grünen seit ihrer Gründung meist die Streichung von Paragraf 218 forderten, ist das für die SPD mit einer Ausnahme ein Novum. Nur 1990, im Jahr des Zusammenschlusses von DDR und BRD, trat sie in ihrem Regierungsprogramm für eine Regelung außerhalb des Strafgesetzbuchs und eine dreimonatige Fristenlösung wie in der DDR ein. Offenbar versuchte sie, das Reservoir deren Wählerinnen anzuzapfen.
Als DIE LINKE aber im Juni vergangenen Jahres entsprechend einer im Europaparlament angenommenen Empfehlung an die Mitgliedstaaten einen Antrag zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in den Bundestag einbrachte, stimmte die SPD mit FDP, CDU/CSU und AfD dagegen.
Die neue Koalitionsbettgenossin FDP gibt sich gerne als Vorkämpferin für eine liberale Rechtspolitik, das reicht aber nicht bis zu dem Selbstbestimmungsrecht von Frauen, wenn es um Schwangerschaft geht. Die FDP trat zwar für den freien Informationszugang ein, hat aber nie mehr als eine straffreie Frist innerhalb des Paragrafen 218 mit Beratungszwang gefordert, also die heutige Gesetzeslage, die sie Mitte der 90er Jahre in der Regierung mit der CDU verantwortet hat. Die Antwort der FDP auf die Wahlprüfsteine des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung lautete dann auch, sie halte an dem jetzigen Gesetz und auch dem Beratungszwang fest.
Für den Koalitionsvertrag hat es deshalb auch nur zu der trostlosen Absichtserklärung gereicht, eine Kommission einzusetzen, um die »Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches« zu prüfen.
Klassenfrage und Gewerkschaften
Es muss nicht mehr betont werden, dass der Paragraf 218 ein Klassenparagraf ist. Reiche können sich auch unter schwierigen Umständen Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch verschaffen, Arme nicht. Deshalb ist es von großer Wichtigkeit, die Gewerkschaften als Massenorganisationen der arbeitenden Klasse für die Kampagne zur Abschaffung von Paragraf 218 zu gewinnen.
In den DGB-Gewerkschaften sind heute rund 2 Millionen Frauen organisiert. Bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten liegt der Anteil über 40 Prozent, bei ver.di über 50 Prozent. Allerdings sieht die Gewerkschaftsbürokratie sich in erster Linie für ökonomische Reformen zuständig und delegiert Politik meist an eine reformistische, an das kapitalistische System gebundene Partei wie die SPD. Zudem balanciert sie zwischen einer politisch sehr heterogenen Mitgliedschaft und vermeidet eine Positionierung aufseiten der fortschrittlichsten Flügel.
So ist zu erklären, dass trotz der riesigen Kampagne gegen Paragraf 218 in den 1970er Jahren von den großen Gewerkschaftsverbänden in Westdeutschland erst Mitte der 1980er Jahre die ÖTV (Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr) einen Beschluss zu dessen Streichung fasste. Das geschah nach einem bravourösen Einsatz linker Frauen unter 88 Prozent männlichen Delegierten des Gewerkschaftstags. Dem folgte sofort eine aggressive Kampagne von rechten Kräften aus Politik und Kirche.
Obwohl im Jahr 1986 die Bundesfrauenkonferenz und verschiedene Landesbezirke des DGB die ersatzlose Streichung von Paragraf 218 forderten, verabschiedete der DGB-Bundeskongress nur die Forderung nach einer Reform. Nach der »Wende« im Jahr 1990 wurde ein gleicher Antrag gar nicht erst verhandelt.
Wegen des Aufstands gegen Paragraf 219a gibt es im DGB und in anderen Gewerkschaften inzwischen Beschlüsse zu dessen Streichung. Der Gewerkschaftsrat von ver.di hat aufgrund von Anträgen auf dem Bundeskongress von 2019 jetzt sogar einen Beschluss gegen Paragraf 218 gefasst, allerdings sehr geräuschlos, wohl um Aufmerksamkeit zu vermeiden. Auch die Bundesfrauenkonferenz des DGB von November 2021 fordert wieder, Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafrecht zu nehmen. Jetzt wird entscheidend sein, ob der Druck reicht, damit der DGB-Kongress im Mai dem Antrag diesmal folgt.
Paragraf 219a und 218: Bewegung aufbauen
Das sind wichtige Erfolge. Aktivist:innen helfen solche Beschlüsse dabei, den Kampf für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in ihre Gewerkschaft zu tragen.
Für Akteur:innen der Pro-Choice-Bewegung mag es verführerisch sein, sich in die Gefilde der Parlaments- und Ausschussarbeit zu begeben in der Hoffnung, dass eine rot-grün-gelbe Regierung endlich auch Paragraf 218 entsorgt. Nichts deutet aber darauf hin, dass sie diesen historischen Schritt tun wird. Mit ihrem Prüfauftrag hat die Koalition im Gegenteil die Entscheidung auf die lange Bank geschoben. Sie bräuchte nur über den Tellerrand dieses rückständigen Staats zu schauen, der zu den Ländern mit sehr restriktiver Gesetzgebung gehört, um zu sehen, wie es geht: In den Niederlanden ist auf Verlangen der Frau ein Abbruch bis zur 22. Woche möglich; in Kanada erklärte im Jahr 1988 der Oberste Gerichtshof die Abtreibungsgesetze für verfassungswidrig, seitdem gibt es keine gesamtstaatliche Regelung mehr. In keinem dieser Länder ist dadurch die Abbruchrate gestiegen, in den Niederlanden liegt sie sogar deutlich unter der in Deutschland.
Es gibt keine Abkürzung über parlamentarische Hinterzimmer. Nur mit einer wachsenden und starken Bewegung werden wir Druck von rechts abwehren können und die Abschaffung von Paragraf 218 erreichen. Dazu brauchen wir weiterhin eine Position des kompromisslosen Einstehens für die alte Parole: »Weg mit § 218! Dein Bauch gehört dir!«
Foto: Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung
Schlagwörter: Abtreibung, Feminismus, Inland, Paragraf 218, Schwangerschaftsabbruch, Selbstbestimmung, §219a