Andrea Ypsilanti will sich im November zur hessischen Ministerpräsidentin wählen lassen – getragen von einer rot-grünen Minderheitsregierung und den Stimmen der LINKEN. Wie sollte sich die LINKE dazu verhalten? Eine Stellungnahme von marx21
Die Abschaffung der Studiengebühren durch die linke Mehrheit im Landtag hat die Erwartungen an eine Regierung Ypsilanti beträchtlich erhöht. DGB und Sozialverbände üben Druck auf DIE LINKE aus, den Weg zur Bildung einer linken Reformregierung zu eröffnen. Zugleich gibt es in der hessischen SPD einen starken rechten Flügel, der eigentlich für die Bildung einer großen Koalition eintritt und der in den letzten Wochen verstärkt versucht, die LINKE zu Reaktionen zu provozieren, die eine Wahl von Ypsilanti erschweren und vereiteln könnten. Die SPD-Linke hofft umgekehrt, mit Unterstützung der LINKEN ihren eigenen rechten Flügel zurückdrängen zu können. Die gesamte politische Lage ist immer noch geprägt durch eine beträchtliche Wut gegen die Regierung Koch, die sich seit 2003 in breiten Schichten der Arbeiter, Schüler und Studierenden aufgestaut hat. Diese Wut hat sich entzündet am Ausstieg Hessens aus dem Tarifvertrag der Länder, an der Kürzung von einer Milliarde Euro im Landeshaushalt, die den Sozialbereich schmerzhaft traf, an der Privatisierung der beiden Landesunikliniken Gießen und Marburg, am Verkauf von zahlreichen Immobilien der Landesregierung, erheblichen Verschlechterungen im Naturschutz und in den Arbeitsbedingungen der Beamten, der Beschneidung und Abschaffung von Mitbestimmungsrechten für Studierende, Eltern, Personalräte und vielem mehr.
Finanzspielräume
Die LINKEN und die hessischen Gewerkschaften wissen, dass die Finanzspielräume für eine Regierung Ypsilanti nicht sehr groß sind. Roland Koch hat zusammen mit dem SPD-Finanzminister Steinbrück (SPD) die Unternehmenssteuerreform auf den Weg gebracht, die allein dem Hessischen Haushalt jährlich 1 Milliarde Euro weniger und den Kapitalisten bundesweit 15 Milliarden mehr einbringt. Zugleich hat Koch eine Milliarde Euro an Landesausgaben gekürzt: im Bereich Soziales und Arbeit. Allein bei den Landesbeschäftigten sparte Koch über 500 Mill. Euro an Löhnen und Gehältern. Diese »Gerechtigkeitslücke« wird Ypsilanti nicht schließen können, weil ihre eigene Partei in der Berliner Großen Koalition dafür sorgt, dass die Reformspielräume auf Landesebene weiter beschnitten bleiben. Die Bundestagsfraktion der SPD ist bereit, eine Steuerkürzung nach der anderen für Unternehmen und Reiche zu erlassen und die Rüstungsausgaben zu erhöhen, sie ist nicht bereit, den Ländern die nötigen Finanzspielräume zu gewähren, um eine dringend nötige Reform zum Beispiel des Bildungssystems zu finanzieren.
Rezessionsgefahr
Nach ersten Einschätzungen von Haushaltsexperten der LINKEN stünden etwa 100 Millionen Euro für die Finanzierung neuer Reformprojekte zur freien Verfügung. Das reicht nicht einmal, um den Universitäten den Ausfall der Studiengebühren zurückzuerstatten. Deshalb muss die LINKE darauf achten, den von CDU und SPD geleerten Topf nicht zum Maß ihrer Forderungen an die rot-grüne Minderheitsregierung zu machen.
Die weitere Entwicklung der Finanzlage der Länder ist eher düster. Denn inzwischen gehen alle Experten von einem Konjunktureinbruch im kommenden Jahr aus. Damit droht ein Einbruch der Steuereinnahmen, der auch eine rot-grüne Minderheitenregierung treffen würde.
DIE LINKE muss den hohen Erwartungen von Gewerkschaftern, Studierenden, Eltern und Schülern, kleinen Beamten und anderen Bediensteten des Landes Hessen Ausdruck verleihen (G8, Schulsystem, Tariftreue Hessens, Ein-Euro-Jobs usw.). DIE LINKE sollte die neue Regierung an deren Versprechungen, aber auch an den Hoffnungen und Erwartungen der Menschen in Hessen messen.
DIE LINKE darf deshalb nicht in vorauseilendem Gehorsam ihre eigenen Forderungen runterfahren auf das „unter gegebenen Bedingungen« Finanzierbare. Es macht wenig Sinn an einem zu kurzen Tischtuch zu ziehen. Und es macht folglich auch keinen Sinn, in dieser Lage in die Regierung zu gehen. Bei jeder Forderung würde die LINKE dann sagen müssen, wie sie diese gegen finanzieren, also anderswo kürzen wolle. Im Wahlkampf hat DIE LINKE für einen Politikwechsel gefochten, nicht für einen „Einstieg in den Politikwechsel.« Dabei sollte es auch bleiben.
Politisches Profil schärfen
Die LINKE muss vor allem darauf achten, dass sie nicht ihr eigenes politisches Profil „schleift«. Zu diesem Profil gehören unsere Forderungen aus dem Landtagswahlprogramm „Menschen vor Profite – für ein soziales Hessen«, wie Schaffung von 25.000 Arbeitsplätzen in Hessen, 20.000 Lehrstellen, flächendeckende Einführung von ganztägigen Gemeinschaftsschulen: die volle Tarifbindung der Landesbeschäftigten, kein Ausbau umweltschädlicher Flughäfen. Ohne einen Zugriff auf die Stellschrauben der Finanzpolitik auf Bundesebene wird ein solcher Politikwechsel nicht finanzierbar sein und diese Schrauben werden erst dann gedreht werden, wenn es große soziale Kämpfe gibt. Deshalb wäre es auch kontraproduktiv, wenn jetzt Gewerkschaften und soziale Bewegungen mit Rücksicht auf eine rot-grüne Landesregierung „stille« hielten.
Das Machbare erkämpfen
Oder anders herum: das gegenwärtig „Machbare« wird es nicht schon durch die Wahl von Ypsilanti zur hessischen Ministerpräsidentin geben, sondern nur durch soziale Kämpfe. Rot-Grün hat sich nur dort bewegt, wo es in den letzten Jahren in Hessen gesellschaftlichen Widerstand gab: bei Beamten und Angestellten, bei Lehrern, Eltern und Schüler, bei Studierenden. Diese Lehre gilt es zu ziehen und zu verallgemeinern. Die LINKE Hessen steht vor einem „Drahtseilakt«, bei dem sie nach links und nach rechts abstürzen kann. Nach links abstürzen hieße, Bedingungen für die Duldung Ypsilantis stellen, die große Teile unser Wählerschaft nicht verstehen und nicht nachvollziehen könnten (z.B. Abschaffung des Verfassungsschutzes oder Stimmverweigerung bei einzelnen Ministern). Ein Krankenpfleger der Frankfurter Uni-Klinik, der in den letzten Monaten für die Rückkehr Hessens in den Tarifvertrag der Länder gestritten hat, wird der Linken nicht „verzeihen«, wenn diese Ypsilanti wegen dieses oder jenes „rechtssozialdemokratischen« Ministers in ihrem Kabinett die Stimme verweigert.
Die verheerende Logik des »kleineren Übels«
Die größere Gefahr besteht freilich in einem Absturz nach rechts. Das wäre der Fall, wenn wir unter der Parole „Alles ist besser als Koch« in eine „Kleinere-Übel«- Position verfielen. Natürlich gibt es „Schlechteres« als Koch: das wären Berliner oder italienische Verhältnisse in Hessen. In Berlin hat die Beteiligung der LINKEN an einer Politik des Sozialabbaus dazu geführt, dass sich ihr Stimmenanteil gegenüber der letzten Landtagswahl nahezu halbiert hat. Sie hat ihre Inhalte Schritt für Schritt an ihre neue Position als Regierungspartei in einem bankrotten Bundesland angepasst und dadurch für weite Enttäuschung unter Linken und potentiellen Wählern im linken Spektrum gesorgt. In Italien hat die Schwesterpartei der LINKEN „Rifondazione« als Teil einer Mitte-Linksregierung (Prodi) eine Politik der Kriegsbeteiligung, des Sozialabbaus und der Verarmung durch Steuererhöhungen mitgetragen. Immer hat die Parteiführung argumentiert, dass sonst das „größere Übel« in Gestalt einer Rechtsregierung Berlusconi zurückkehrt. Man wollte das „kleinere Übel« retten und hat gerade dadurch die Rückkehr des angeblich „größeren Übels« beschleunigt. Die konservative und rassistische Rechte ist seitdem im Aufwind. In der Berliner Landesregierung hat die LINKE für ein paar Ornamente am Hungertuch, die sie zum „Einstieg in den Politikwechsel« hochjubelt, ihre eigenen Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit und des Sozialismus verraten, für die sie einmal angetreten war.
Kein Blanko-Scheck durch Tolerierungsabkommen
Die LINKE darf sich nicht in eine mehrjährige babylonische Gefangenschaft einer rot-grünen Minderheitenregierung begeben. Eben dies verlangen aber zurzeit Sprecher der Grünen und der SPD: nämlich einen Tolerierungsvertrag auf die volle Laufzeit der Legislaturperiode. In Sachsen-Anhalt hat die PDS zwischen 1994 und 2002 mit einem solchen Vertrag sich die Freiheit der Opposition nehmen lassen, ohne selbst an der Regierung teilzunehmen. Das wäre die schlechteste aller Welten! Sie müsste im Zweifelsfall auch solchen Gesetzen und Maßnahmen zustimmen, die sie in Widerspruch zu ihrem eigenen Wahlprogramm brächten. Anders ausgedrückt: Schlimmer als Koch wäre eine Verrat der Linken und der LINKEN an den jetzt entstehenden Hoffnungen und Erwartungen ihrer Wählerschaft. Davon würde – wie das Beispiel Italien zeigt – die Rechte um Roland Koch, möglicherweise aber sogar eine rassistische, neofaschistische Rechte profitieren. Roland Kochs Rückkehr als Ministerpräsident wäre dann bei der nächsten Landtagswahl umso sicherer. Die LINKE kann es nicht verhindern, wenn auch die hessische SPD Selbstmord auf Raten begeht. Aber sie darf diesen nicht mitmachen.
Freiheit zur Opposition bewahren
Die LINKE muss sich deshalb ihre Freiheit erhalten, einen unsozialen Haushalt auch einen solchen zu nennen, ihn zu kritisieren und nötigenfalls auch auf der Straße dagegen zu mobilisieren. Sie darf nicht dazu übergehen, Scheiße für Gold zu verkaufen. Die LINKE hat ihr Wort gegeben, Koch abzuwählen und das heißt unter gegeben politischen Bedingungen Ypsilanti eine reelle und ehrliche Chance auf einen Politikwechsel zu geben. Sie hat nicht ihr Wort gegeben, alle Maßnahmen, auch unsoziale oder umweltschädliche mit zu tragen.
Die LINKE muss bereit sein, Ypsilanti und ein rot-grünes Kabinett ohne jede politische Vorbedingungen aber mit hohen Erwartungen zu wählen. Aber wir müssen zugleich heute die Grenzen für eine solche Unterstützung ziehen.
Zu einer Regierung gehört auch ein Haushalt, hier muss die LINKE ihre ungekürzten Forderungen in die Verhandlung einbringen, unabhängig von der Haushaltslage, auch wenn klar ist, dass diese sich gegenwärtig nicht voll finanzieren lassen. In erster Linie aber muss die LINKE heute sagen, was sie auf keinen Fall mittragen wird und wo die Grenze ihrer Kooperationsbereitschaft liegt:
- Kein Sozialabbau
- Keine Privatisierung
- Kein Ausbau des Überwachungsstaates oder Abbau demokratischer Rechte und Mitbestimmungsrechte
- Keine Finanzierung von umweltschädlichen, klimaschädlichen Investitionen (z.B. Ausbau des Regionalflughafens Kassel Calden bei gleichzeitiger Privatisierung der Bundesbahn)
Die LINKE muss heute eine politische Haltelinie errichten, die für alle – Freund und Feind – klar sichtbar ist. Der Verstoß gegen diese Haltelinien wäre die Überschreitung einer Grenze hin zum Wählerbetrug, zum Verrat an unserem eigenen Programm. Nichts wäre schlimmer als das.
Es gilt zu unterscheiden zwischen Forderungen für einen Politikwechsel und Negativbedingungen, bei deren Verletzung die LINKE auch einen Sturz der Regierung Ypsilanti in Kauf nehmen müsste. Ein wirklicher Politikwechsel wird nur möglich sein, wenn es soziale und politische Kämpfe gibt, wie sie ansatzweise in den Protesten gegen Studiengebühren in Hessen sichtbar wurden.
Fotograf: Armin Kübelbeck, CC-BY-SA, Wikimedia Commons
Schlagwörter: DIE LINKE, Hessen, Regierungsbeteiligung, Rot-Rot-Grün