Der Koalitionsvertrag von R2G in Berlin enthält viele gute Reformvorhaben. Aber für einen Politikwechsel ist das zu wenig. Und das birgt eine große Gefahr. Von Lucia Schnell, Max Manzey und Stefan Bornost
Jetzt liegt er vor, der 270 Seiten starke Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und LINKEN. In der Präambel hält die Koalition fest: »Wir wollen zeigen, dass dieser Aufbruch einen Wandel zum Besseren erlaubt, auch wenn nicht alles anders werden wird« und weiter: »vieles geht einfach nicht von heute auf morgen. Aber Berlin hat den Anspruch auf eine gute Regierung mit Augenmaß«. Ein kraftvoller Politikwechsel klingt anders. Und dabei hätte diese Stadt einen solchen bitter nötig. Die Menschen in Berlin sind schon seit geraumer Zeit sauer, weil die Stadt nicht in ihrem Sinne funktioniert. Außer den Grünen war jede Partei, inklusive der LINKEN während der Regierungszeit 2002-2011, am Herunterwirtschaften der Stadt beteiligt.
Zwei Kernprobleme für R2G
Kernproblem sind zwei Bereiche: Zum einen die öffentliche Daseinsvorsorge, allen voran Gesundheit, Bildung und Verwaltung. Durch jahrelange Unterinvestition verursachte katastrophale Versorgungszustände in den Krankenhäusern, extrem große Klassen und Kita-Gruppen und monatelanges Warten auf Termine beim Amt kennt jeder Berliner. Um nur die gröbsten Mängel in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu beheben, müsste der Senat massiv Geld in die Hand nehmen. Allein bei den Vivantes-Kliniken sieht der Betriebsrat einen Investitionsbedarf von einer Milliarde Euro. Dazu müssten mindestens 10.000 Neueinstellungen im öffentlichen Dienst erfolgen, um dem Bedarf in den zentralen Sektoren gerecht zu werden.
Zweites großes Problem: Die Löhne steigen zwar wieder in Berlin, aber die Lebenshaltungskosten, vor allem getrieben durch steigende Mieten, steigen schneller. In der Stadt sind seit 2007 die Mieten für Altmieterinnen und Altmieter durchschnittlich um 26 Prozent (5,84 netto/kalt) und bei den Angebotsmieten um sogar 50 Prozent (9 netto/kalt) gestiegen. Es fehlen mindestens 100.000 Sozialwohnungen für Menschen mit geringen Einkommen und für Transferleistungsbezieher.
Die Berlinerinnen und Berliner haben also immer weniger in der Tasche und werden die Regierung daran bemessen, ob sich das ändert. Ein Politikwechsel müsste in beiden Problemfeldern einen spürbaren Unterschied machen. Doch das gibt der Koalitionsvertrag leider bei weitem nicht her. Das soll nicht heißen, dass alles schlecht ist. Aber die vielen kleinen Verbesserungen dürfen nicht über die Frage hinwegtäuschen, ob sich an der sozialen Situation der Menschen in den nächsten fünf Jahren tatsächlich etwas verbessern wird und ob die LINKE am Ende der Legislatur als eine Partei der Hoffnung wahrgenommen wird, oder als eine Partei der Mangelverwaltung.
Verpflichtung zur Haushaltskonsolidierung
Die Ankündigung von R2G ein Investitionsprogramm zu starten, indem sie die Schuldentilgung reduziert, ist einer der großen Pluspunkte der Koalition. Nur dadurch wird überhaupt ein gewisses Maß an Spielraum geschaffen. Doch für eine Partei, die die Schuldenbremse grundsätzlich als Investitionsbremse ablehnt, ist das viel zu wenig. Denn auch R2G hält an der Haushaltskonsolidierung fest und verpflichtet sich jährlich zur Schuldentilgung von 80 Millionen – unabhängig von der Einnahmesituation. Das ist angesichts des Sozialabbaus der letzten Jahrzehnte in Berlin und des milliardenschweren Investitionsstaus unverantwortlich. Auch ist unklar, wie sich die Einnahmen entwickeln – zumal sich das Wirtschaftswachstum in Deutschland auf 0,2 Prozent im 3. Quartal abgekühlt hat. Der geschaffene Spielraum wird nichts an der systematischen Unterfinanzierung des Öffentlichen Sektors und des Wohnungsbaus ändern. Die Schuldenbremse ist dabei nicht das einzige Problem für eine linke Regierung auf Landesebene: Die Bundesregierung schafft für die Landesregierung einen falschen politischen Rahmen – ob in Bezug auf Mieten, Schuldenbremse, Steuerpolitik, Abschiebegesetze oder Hartz IV. Die LINKE wird mit der Regierungsbeteiligung mitverantwortlich für politische Felder, die eigentlich die Bundesregierung verantwortet. An den wenigen möglichen Steuerstellschrauben, an denen der Senat drehen könnte, wird leider nicht gedreht: weder wird die Grunderwerbssteuer erhöht (was auch einen positiven Effekt gegen Immobilienspekulationen hätte), noch die Gewerbesteuer. Das heißt nicht, dass überhaupt kein Geld in den öffentlichen Sektor fließt. Der Koalitionsvertrag hält fest:
»Von einem generellen Haushaltsvorbehalt ausgenommen sind folgende prioritäre Projekte: Von den Überschüssen in 2016 sollen im SIWA (Sondervermögen Infrastruktur der Wachsenden Stadt) – abzüglich 80 Mio. Euro Tilgung sowie unter Anrechnung bereits im SIWA vorhandener themenspezifischer Beträge – ca. 50 Mio. Euro für Investitionen zur Sanierung von Polizei- und Feuerwehrgebäuden, ca. 50 Mio. Euro für Investitionen im Zusammenhang mit der Einführung der Elektronischen Akte, ca. 100 Mio. Euro für Eigenkapitalzuführungen an die WBG, ca. 100 Mio. Euro für Eigenkapitalzuführungen an das Stadtwerk, ca. 100 Mio. Euro für Investitionen für Schulneubau und –Sanierung bereitgestellt werden. Darüber hinaus werden überschießende Reste einer Ausgleichsrücklage zugeführt.
Im Jahre 2017 wird ein »enger« Nachtragshaushalt beschlossen: Für den Zweck Schulbau und -sanierung werden ca. 100 Mio. Euro bereitgestellt. In den Kitaausbau werden ca. 20 Mio. Euro investiert. Für die Anpassung der Beamtenbesoldung sind ca. 30 Mio. Euro vorgesehen. Die Tarifsteigerungen werden bei den Zuwendungsempfängern mit ca. 20 Millionen Euro ausfinanziert. Für den Ausbau der Radwegeinfrastruktur werden ca. 10 Mio. Euro bereitgestellt. Für die Wohnungsbauförderung stellt die Koalition ca. 30 Mio. Euro bereit. Für die energetische Modernisierung werden weitere 10 Mio. Euro eingesetzt. Für mehr Personal in den Bezirken stellt die Koalition ca. 50 Mio. Euro bereit.«
Keine spürbare Entlastung
Das hört sich gut an, aber es ist stark zu bezweifeln, dass diese Teilinvestitionen im Alltag der Menschen eine solche Entlastung schaffen, dass dies der LINKEN gutgeschrieben wird. Zu befürchten ist eher, dass das Grundgefühl, dass die Regierung sich nicht genügend um die sozialen Bedürfnisse kümmert, bestehen bleibt. So sollen beispielsweise im öffentlichen Dienst 1000 bis 2000 zusätzliche Stellen pro Jahr geschaffen werden. Um jedoch die von rot-rot gekürzten 25.000 Stellen wieder aufzubauen und somit zum Status Quo von vor einigen Jahren zurückzukommen, bräuchte man in diesem Tempo nicht eine, sondern drei Legislaturperioden. Auch die prekären Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst werden nicht ausreichend bekämpft: die Forderung der Lehrerinnen und Lehrer nach besserer Bezahlung werden nicht erfüllt und die Einführung der Rente mit 67 für Beamte des Landes ist nicht hinnehmbar.
Gänzlich unbefriedigend ist die Antwort auf das zweite große Problem: die Mietsteigerungen. Das Grundproblem ist hier vor allem die Preissteigerung durch eine Nachfrage, die höher ist als das Angebot. Laut einer aktuellen Bevölkerungsprognose der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung wird Berlin in den nächsten Jahren um jährlich 40.000 Menschen wachsen. Damit werden 2020 fast eine halbe Million Menschen mehr in Berlin leben als im Jahr 2000 (von 3,3 auf 3,8 Millionen). Das Problem dabei ist nicht, dass es viele Menschen nach Berlin zieht, sondern dass sich der Wohnungsbau seit Mitte der 90er Jahre weitgehend von dem Bevölkerungswachstum entkoppelt hat. Während zwischen 1992 und 2014 die Zahl der Haushalte um 328.000 anstieg, wurden nur 210.000 zusätzliche Wohnungen gebaut1.
Der Hauptgrund für diese Entwicklung findet sich in der Wohnungsmarktlogik: Die Modernisierung und »Aufwertung« bisher günstiger Altbaubestände ist für privates Kapital in der aktuellen Situation attraktiver als Neubau. Ein Immobilienkonzern wie die »Deutsche Wohnen« kauft sich lieber für relativ wenig Geld ehemals staatliche Wohnungen (GSW), führt Modernisierungen durch, verdrängt die bisherigen Bewohner und vermietet (oder verkauft) die freigewordenen Wohnungen für ein Vielfaches, anstatt Neubauwohnungen mit hohem Kapitaleinsatz zu bauen. Diese Entwicklung wird durch einen im Zuge der Krise entfachten Spekulationsboom angefeuert. So führt der Markt zu Verdrängung anstatt zu einer Versorgung mit ausreichend Wohnraum.
Unter dem Strich ein Minusgeschäft
Der einzige Akteur, der hier gegensteuern könnte ist der Staat. Um die Mietsteigerung zu stoppen, müsste der Senat mindestens 100.000 preiswerte Wohnungen schaffen, eher mehr. Das wird aber nicht geschehen: In den nächsten 5 Jahren soll der öffentliche Wohnungsbestand um 55.000 zusätzliche Wohnungen erhöht werden. Davon allerdings nur 15.000 neugebaute Sozialwohnungen. In der gleichen Zeit werden jedoch durch das Auslaufen der Bindungen im bestehenden Sozialen Wohnungsbau mindestens 20.000 (wahrscheinlich deutlich mehr) bisherige Sozialwohnungen verloren gehen. Unter dem Strich also ein Minusgeschäft, statt eine Ausweitung. Von den 25.000 anzukaufenden Wohnungen kommen 15.000 von der Berlinovo, einem landeseigenen Unternehmen, das die Erblast des Bankenskandals verwaltete. Auch wenn zu begrüßen ist, dass dann auch diese Wohnungen von den Neuregelungen bei den kommunalen Wohnungsunternehmen profitieren, werden damit keine bisher privaten Wohnungen in öffentliches Eigentum gebracht. Es wird zwar gebaut und angekauft, aber zu wenig. Die Mieten werden weiter steigen, die LINKE dafür mit verantwortlich gemacht.
Auch ein offensives Zeichen gegen Rassismus sieht leider anders aus: weder wird es einen Abschiebestopp geben (ja, eine mutige linke Regierung würde sich hier auch gegen das Bundesgesetz stellen), noch wird das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst aufgehoben.
Natürlich enthält der Koalitionsvertrag auch zahlreiche Verbesserungen. Um nur einige zu nennen: Berlin wird im Bundesrat gegen Ceta stimmen, die A100 wird »nur« noch bis zum Treptower Park weitergebaut, öffentliche Liegenschaften nicht mehr privatisiert, das Stadtwerk mit mehr Eigenkapital ausgestattet, der Preis des Sozialtickets wird gesenkt, Volksentscheide müssen zu Wahlterminen stattfinden und die Landeseigenen Wohnungsbauunternehmen werden in Zukunft durch eine Anstalt des öffentlichen Rechts kontrolliert, sie dürfen jährlich die Mieten um 2 Prozent (statt 3,75) erhöhen und die energetische Sanierungsumlage wird auf 6 Prozent begrenzt.
Dazu ist auch zu sagen: Papier ist geduldig. Was am Ende tatsächlich umgesetzt wird, steht auf einem anderen Blatt. Die SPD sitzt durch ihren Einfluss in Stadtverwaltung und landeseigenen Unternehmen letztendlich am längeren Hebel. Der Staat ist nun einmal kein Fahrrad (Harald Wolf) von dem eine alte Regierung absteigt und eine neue aufsteigt, um damit in eine völlig andere Richtung zu fahren.
Ein Geschenk für die AfD
Unter dem Strich blicken wir also auf eine Zeit, in der es in manchen Bereichen zu Verbesserungen kommen wird, der generelle Negativtrend nach Jahrzehnten neoliberaler Politik aber nicht aufgehalten werden kann. Und genau darum ist diese Regierungsbeteiligung ein Fehler und ein Spiel mit dem Feuer. Wir befinden uns in einer Zeitenwende, die ihren politischen Ausdruck in Phänomenen wie Trumps Wahlsieg in den USA und dem Aufstieg der radikalen Rechten in Europa findet. Hintergrund ist eine millionenfache Abwendung vom herrschenden Politikbetrieb und den Etablierten, von denen die Menschen nach 30 Jahren ununterbrochener Kapitaloffensive, egal unter welcher Parteienkonstellation, nicht mehr viel erwarten. Letztendlich haben wir jetzt den politischen Fallout der Krise 2007-2008 und der darauf folgenden Stagnation des Weltkapitalismus. Das ist auch die Grundlage für den rassistischen Höhenflug der AfD: 24,3 Prozent in Sachsen-Anhalt, 20,8 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern, 15,1 Prozent in Baden-Württemberg und auch in Berlin sitzt die AfD jetzt mit 24 Mandaten im Abgeordnetenhaus und in allen Bezirksparlamenten. Die AfD dockt an der Abgegessenheit der Menschen an und kanalisiert die Wut gegen Muslime, Geflüchtete und gegen alles was irgendwie links ist. R2G könnte sich nun als Geschenk für die AfD entpuppen. Sie wird es sich in den nächsten fünf Jahren auf der Oppositionsbank bequem machen und – wenn es schlecht läuft – als einzig wahrnehmbare Oppositionspartei agieren. Ihre Pressemitteilung zur Koalitionsverhandlung ist betitelt mit »Der Senat wird die Berliner enttäuschen« und kritisiert unter anderem die zu geringen Ausgaben im Bildungsbereich – verknüpft dies jedoch mit der Forderung nach weniger Sozialausgaben. Anstatt nach oben zu treten, tritt sie nach unten. Wenn die einzige Opposition in dieser Stadt nach unten, statt nach oben tritt, und die Wut der Menschen nach rechts orientiert, dann haben wir ein großes Problem.
Es liegt also an den Kräften links von der Sozialdemokratie, die Wut und Enttäuschung der Menschen mit dem politischen und ökonomischen System nach links zu kanalisieren – in ein Projekt der Solidarität und des gemeinsamen Kampfes für ein besseres Leben und letztendlich einer Welt ohne Kapitalismus und die politischen Monster, die er gebiert. Bernie Sanders in den USA oder Jeremy Corbyn in Großbritannien haben vorgemacht, wie ein solches Projekt Millionen Menschen begeistern kann. Ein solches Projekt könnten wir dann dem rechten Projekt der rassistischen Spaltung gegenüberstellen.
Radikaler Bruch mit dem Politikbetrieb
Das ist der Kontext in dem wir den Berliner Koalitionsertrag bewerten müssen. Wird die LINKE durch den Regierungseintritt und die folgende Senatspolitik kenntlich als eine Kraft des radikalen Bruches mit dem etablierten Politikbetrieb, die gemeinsam mit den Betroffenen eine durchgreifende Verbesserung der Lebensbedingungen der breiten Mehrheit gegen Kapital und bürgerlichen Staatsapparat erkämpft? Oder gemeindet sie sich bei den »Etablierten« ein, wird in Sippenhaft für das schlechte Leben der Menschen genommen und so zum unfreiwilligen Wegbereiter der rechten Welle wie Konservative, Liberale und Sozialdemokraten auch?
Wir befürchten, dass letzteres der Fall sein wird, weil das im Koalitionsvertrag skizzierte politische Projekt trotz punktueller positiver Akzente keine so durchgreifende Verbesserungen der maroden Berliner Verhältnisse beinhaltet, dass die LINKE als eine Partei des Bruchs kenntlich wird. Das kleinere Übel besteht nicht darin, den Mangel zu verwalten und an einigen Stellschrauben zu drehen. Auf lange Sicht ist es genau diese Politik, die einen weiteren Rechtsruck ermöglichen kann und die LINKE schwächt und in die Bedeutungslosigkeit im Kampf um eine demokratischere und sozialere Zukunft schießt.
Deshalb werben wir für ein »Nein« bei der Urabstimmung und für eine alternative Art von Politik für die LINKE, nämlich aus der Opposition heraus mit einem antikapitalistischen Profil an der Seite von Bewegung und Initiativen. Doch auch wenn am Ende die Regierungsbeteiligung steht, wird es wichtig sein eine linke Opposition in und außerhalb der LINKEN auf der Straße sichtbar zu machen. Und auch nur so – mit Druck von außen – können überhaupt die guten Forderungen im Koalitionsvertrag gegen die Fliehkräfte von SPD und Stadtverwaltung durchgesetzt werden. Wir werden auch in Zukunft die Kämpfe von Gewerkschaften, Mieterinitiativen, Geflüchteten und Volksentscheids-Initiativen unterstützen – auch wenn sie sich gegen R2G richten.
1vgl. Holm/Harman/Kaltenborn (2016): Die Legende vom Sozialen Wohnungsbau.
Foto: duskiboy
Schlagwörter: AfD, Berlin, Grüne, Inland, Koalition, Koalitionsvertrag, Lederer, Linke, Mieten, Pop, R2G, Rot-Rot-Grün, Schuldenbremse, Senat, SPD, Stadtpolitik