In Chile flammen erneut Proteste von Organisationen der Urbevölkerung auf. Die Mapuche wehren sich gegen Polizeigewalt und Privatisierung. marx21 sprach mit Nicole Möller Gonzalez über die Hintergründe
marx21: In Chile haben Organisationen der indigenen Bevölkerung zu einem »Monat des Ungehorsams« aufgerufen. Warum?
Nicole Möller Gonzalez: Am 14. November hat eine Spezialeinheit der chilenischen Polizei einen Mapuche-Aktivisten namens Camilo Catrillanca von hinten erschossen. Danach hat es einen großen politischen Skandal gegeben und der konservative Präsident Sebastián Piñera hat diese Einheit aus dem Gebiet der Mapuche zurückgezogen. Dafür hat er eine andere Polizeieinheit in die Region geschickt. Er hat also einfach die alte durch eine neue ersetzt, die noch keinen schlechten Ruf hat. Aus diesem Grund haben Mapuche zu Ungehorsam aufgerufen und es hat mittlerweile auch schon mehrere Proteste im ganzen Land gegeben.
Was weiß man über die Aufgaben der Spezialeinheit, die Camilo Catrillanca erschossen hat?
Diese Spezialeinheit wird Comando Jungla (Dschungel-Kommando) genannt. Sie wurde in Kolumbien von einer speziellen kolumbianischen Anti-Terror- und -Drogen-Einheit ausgebildet. Sie wurde quasi dafür konzipiert, das sogenannte Anti-Terror-Gesetz in der Region La Araucanía durchzusetzen und den langjährigen Kampf der Mapuche zu unterdrücken.
Das Anti-Terror-Gesetz wurde 1984 von dem Diktator Augusto Pinochet verabschiedet und besagt, welche Taten als Terrorismus gelten. Darunter fallen zum Beispiel Brandstiftung, Herbeiführung einer Explosion, Entführung, usw. Das Gesetz wird hauptsächlich als Begründung benutzt, um die indigene Bevölkerung zu unterdrücken.
Unterdrückung der Mapuche
Die Medien und der Staat bezeichnen häufig Proteste auf der Straße oder in Form von Landbesetzungen in der Region als Terrorismus und verbreiten somit die Idee, dass die Mapuche Terroristen seien. In Wirklichkeit geht es in dem Konflikt hauptsächlich um gestohlene Ländereien, zunehmend auch um die Privatisierung von Ländereien zugunsten von Energie- oder Forstunternehmen.
Das Recht, diese Ländereien auszubeuten und damit die Mapuche von ihrem Land zu vertreiben, wurde durch eine Aufhebung der Agrarreform des früheren Präsidenten Salvador Allende während der Militärdiktatur unter Pinochet ermöglicht.
Wie muss man sich die Region La Araucanía vorstellen?
Chile besteht aus 16 Regionen. La Araucanía ist eine davon im Süden Chiles. Dort leben heutzutage die meisten Mapuche. Diese Region wurde in der Kolonialzeit nie erobert, da die Mapuche sich immer erfolgreich verteidigt haben. Erst nach Gründung der Republik 1881 konnte der chilenische Staat sich in der Region etablieren. Der chilenische Staat hat die Mapuche aktiv von ihren Ländereien vertrieben und sie an Siedlerinnen und Siedler aus Europa und Chile vergeben.
Warum ist diese Region für Energie- und Forstunternehmen interessant?
Der Süden Chiles ist reich an Rohstoffen, besonders im Vergleich zum Norden, der größtenteils aus Wüste besteht. La Araucanía verfügt über große Landgebiete, die sich für die massenhafte Produktion von Holz eignen und auch über große Wasservorkommen durch die Gletscher in den Anden. Unternehmen, die Agrar- und Forstwirtschaft betreiben und Wasserkraftwerke bauen möchten, verbreiten sich daher in der Region immer weiter. Der Staat und die Unternehmen nehmen keinerlei Rücksicht auf die Mapuche, die dort leben. Wenn Gebiete überschwemmt werden müssen, um Energie zu produzieren, oder wenn die Forstwirtschaft zu Wasserknappheit führt, wird das alles im Namen der wirtschaftlichen Entwicklung hingenommen.
Ist da rein chilenisches Kapital beteiligt oder sind internationale Konzerne im Spiel?
Beides. Die Produktion von Energie ist hauptsächlich in den Händen ausländischen Kapitals, etwa aus Spanien, Österreich, Frankreich, Italien und den USA. Sie war 2015 zu 67 Prozent in den Händen internationaler Konzerne. Historisch gesehen verlief die Entwicklung des Sektors vom staatlichen Besitz vor den 1980er-Jahren hin zur Privatisierung zugunsten einheimischen Kapitals und ausländischer Investitionen in den 1990ern. Die Forstwirtschaft wird, soweit ich weiß, hauptsächlich von chilenischen Unternehmen betrieben.
Warum organisiert der chilenische Staat Spezialeinheiten für die Gebiete der Mapuche?
Vor allem, um die Mapuche zu unterdrücken. Dies hat aber natürlich auch einen ökonomischen Grund. Chile ist ein Land, in dem wirklich fast alles privatisiert ist. Ich wohne dort schon seit einer Weile und merke auch im täglichen Leben, wie der Staat eigentlich quasi als Beobachter und Verwalter der privaten Unternehmen agiert. Wenn jemand zum Beispiel ein Problem mit der Dienstleistung eines Unternehmens hast, etwa Betrug, muss man sich durch eine elende Bürokratie kämpfen und meistens kommt dabei nichts heraus. Außerdem gibt es keine Sozialversicherung, keine staatliche Rente und das Gesundheitswesen ist auch privat. Wenn also die Mapuche die Solidarität der restlichen Bevölkerung gewinnen könnten und ihr Kampf zu einem allgemeinen Kampf gegen die Privatisierung würde, könnte es für die chilenischen und ausländischen Unternehmen teuer werden.
Und wie reagiert die restliche Gesellschaft auf die Proteste der Mapuche?
Da einige Medien und Politiker den Kampf der Mapuche andauernd als Terrorismus bezeichnen, ist es leider so, dass viele Chilenen glauben, die Mapuche wären einfach nur Unruhestifter. Viele verstehen auch nicht, worum es wirklich geht. Andere verteidigen das Recht der großen Landbesitzer und Unternehmen auf Privateigentum, obwohl es sich um gestohlenes Land handelt. Andere glauben an die Vorteile einer wirtschaftlichen Entwicklung. Natürlich zeigen sich einige Menschen auch solidarisch mit dem Kampf, vor allem junge Menschen. Es wäre interessant zu wissen, wie sich die Meinungen zu dem Konflikt über alle Regionen des Landes verteilen. Das Land ist so lang, dass die Menschen im Norden nicht wirklich etwas von den Protesten mitbekommen, außer durch die Nachrichten, wo die Mapuche ja ständig als Terroristen bezeichnet werden.
Wie reagiert die chilenische Linke auf die Proteste der Mapuche?
Die Linke reagiert, in dem sie im Parlament und in den Medien den jüngsten Mordfall verurteilte, den Rückzug der Spezialeinheit verlangte und einige Verantwortliche zum Rücktritt aufforderte. Leider hielten gewählte linke Politiker es nicht für wichtig, sich vor Ort zu zeigen. Sie verkündeten ihre Solidarität über die Medien. Das ist meines Erachtens ein großer Fehler. Es ist wichtig, mediale Unterstützung zu zeigen, es ist aber für die Betroffenen und die Familie von Camilo Catrillanca nichts wert, wenn keiner zum Begräbnis auftaucht. Abgesehen davon dürfen wir nicht vergessen, dass unter den Regierungen der Sozialistin Michelle Bachelet (Mitte-links) vier Mapuche-Aktivisten ermordet wurden. Unter Sebastián Piñera bis heute zwei.
In Deutschland gilt Chile seit dem Ende der Diktatur Pinochets 1990 als funktionierende Demokratie. Wie siehst Du das?
Diese Idee herrscht fälschlicherweise auch im Rest des Kontinents. Ich würde sagen, dass Chile im Vergleich zu einigen anderen Ländern – Mexiko zum Beispiel – noch recht sicher für Aktivistinnen und Aktivisten ist. Aber wenn wir nicht Länder vergleichen, läuft ziemlich viel in Chile falsch. So leben wir noch unter der Verfassung von 1980, die das neoliberale System in Chile festnagelt und auch das Anti-Terror-Gesetz beinhaltet.
Außerdem erleben wir häufig Verfolgung und sogar Mord an politisch aktiven Menschen, für die entweder der Staat selbst oder Unternehmen verantwortlich sind. Neben Camilo Catrillanca, der es in die Nachrichten schaffte, haben wir vor zwei Monaten den Tod des Gewerkschafters Alejandro Castro erlebt. Die Presse und die Regierung behaupten, es sei Selbstmord gewesen, er habe sich mit seinem Rucksack erhängt. Dabei sagen alle, die ihn kannten, dass er Morddrohungen bekommen hatte und dass er nicht depressiv war.
Polizeigewalt in Chile
Vor einigen Wochen wurde zudem Alex Múñoz, ein anderer Gewerkschafter, tot aufgefunden, auch angeblich ein Selbstmord. Er war gerade dabei, das Energieunternehmen Panales Arauco zu verklagen.
Vor zwei Jahren hatten wir den Fall von Macarena Valdés, eine Umweltaktivistin und Mapuche, die auch tot aufgefunden wurde, auch angeblich ein Selbstmord. Sie wurde mehrmals von Mitarbeitern eines österreichischen und chilenischen Unternehmens gemobbt. Vor einigen Wochen stellte sich heraus, dass eine neue Autopsie Suizid ausschließt.
Du bist Mitglied des linken Bündnisses Frente Amplio, zu deutsch: breite Front. Welche Organisationen und Parteien umfasst der Frente Amplio?
Der Frente Amplio umfasst 14 Parteien und soziale Bewegungen. Der FA entstand vor den letzten Wahlen 2017 als dritte große Alternative zu den traditionellen Parteien Mitte-links und rechts. Es besteht aus einer bunten Mischung von linken, grünen, humanistischen bis hin zu liberalen Parteien.
Welchen politischen Themen stehen sind dem Frente Amplio besonders wichtig? Womit geht Ihr in die Öffentlichkeit?
Ich bin in keiner Partei des Bündnisses. Ich habe eine eigene Gruppe gegründet, die aus sogenannten Unabhängigen besteht. Das sind vor allem Menschen, die von Parteien – leider – nichts wissen wollen, die den FA gewählt haben und Lust haben, aktiv zu sein. In meiner Gruppe gibt es junge und ältere Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie stehen hinter allen Prinzipien, die den FA zusammengebracht haben.
Solche Gruppen von Unabhängigen gibt es inzwischen im ganzen Land. Vor einigen Monaten hatten wir sogar unser erstes nationales Treffen in der Hauptstadt Santiago. Ich habe mich bewusst entschieden, nicht Mitglied einer Partei zu werden, denn ich habe gemerkt, dass viele Menschen Lust hatten, aktiv zu werden, sich aber von den Wörtern »Aktivismus« und »Partei« abschrecken ließen. In Chile muss man leider ganz von vorne anfangen. Das liegt zum Einen an dem Schaden, den die Diktatur hinterlassen hat, und zum Anderen an den Fehlern der Linken. Sie legt einen sehr starken Fokus auf Wahlen, Regierungsbeteiligung und Personenkult anstatt auf eine organisierte Basis. Daher müssen die Menschen erst wieder begeistert werden, in einer organisierten, demokratischen Struktur mitzumachen und dabei auch mal etwas zu erreichen.
Aber zurück zu den Themen des FA. Der FA fokussiert auf eine neue Verfassung, eine Dezentralisierung der Politik, denn in Chile laufen fast alle Entscheidungen über Santiago, eine Abschaffung der privaten Rentenfonds, denn 79 Prozent der Renten liegen unterhalb des Mindestlohns, LGBTQ-Rechte, Frauenrechte wie das Recht auf Abtreibung, Reichensteuer und damit Stärkung eines Sozialstaates. Grundsätzlich geht es darum, das neoliberale System direkt anzugreifen.
Wie ist das Verhältnis des Frente Amplio zu den Sozialisten, der ehemaligen Partei Salvador Allendes?
Der FA hat sich zusammengefunden, um sich als Alternative zu der sozialistischen Partei (PS) zu profilieren. Der PS ist in den letzten Jahrzehnten immer weiter nach rechts gerückt und hat sich somit auch dem wirtschaftlichen und politischen System angepasst. Die letzten Regierungen, in denen der PS mitgemacht hat, haben gezeigt, dass er den neoliberalen Status Quo einfach nur verwalten möchte. Es gibt einige Menschen innerhalb des FA, die trotzdem offen dafür sind, mit der PS zusammenzuarbeiten. Vor allem jetzt, wo beide in die Opposition gerückt sind. Meines Erachtens sind dies aber nicht die meisten im FA. Diejenigen, die das wollen, sind diejenigen, die eine alte Politik weiterführen und unbedingt mitregieren wollen. Sie haben anscheinend immer noch nicht verstanden, dass die meisten Menschen in Chile von dieser unehrlichen Politik nichts mehr wissen wollen. Deswegen gibt es ja auch so viele Unabhängige im FA. Aber um diese Position zu halten, muss im Bündnis noch diskutiert werden. Momentan läuft innerhalb des FA eine Fusion der linken Parteien zu einer großen linken Partei. Das ist ein Schritt in eine gute Richtung.
Die Fragen stellte Jan Maas.
Schlagwörter: Chile, Polizeigewalt, Privatisierung