Die Verteilung der Impfstoffe gegen Corona wird durch Patente reguliert. Daher nehmen soziale und globale Ungerechtigkeit zu, erklärt Anne Jung von Medico International
marx21: Seit einigen Wochen wird in der EU gegen Covid-19 geimpft. Wann werden die ersten Menschen in Ländern des Globalen Südens geimpft?
Anne Jung: Es ist wirklich super, dass es jetzt die Impfstoffe gibt. Sich auf eine Zeit ohne Angst vor einer Infektion mit Covid-19 zu freuen, ist völlig legitim und nachvollziehbar. Wenn man sich aber die Verteilung der Impfstoffe anschaut, kann man global betrachtet eine ziemlich klare Linie ziehen: Auf der einen Seite stehen Europa, die USA, Kanada, Russland, China, Indien und wenige südamerikanische Länder. Die bekommen die Impfstoffe viel schneller, weil sie bilaterale Verträge mit den Pharmakonzernen gemacht haben, oder weil sie, wie Indien, pharmaproduzierende Industrie im Land haben.
Die Welt ist gespalten
Für die meisten anderen Länder wird deutlich: Hier können sich die Menschen nicht so bald darauf freuen, die Corona-Gefahr zu reduzieren. Das gilt für viele asiatische und lateinamerikanische Länder, sowie für Länder auf dem afrikanischen Kontinent. Die Welt ist gespalten. Und das ist auf tödliche Weise ungerecht. Und aus epidemiologischer Perspektive der falsche Weg, um das Virus wirksam einzudämmen.
Im öffentlichen Diskurs wird die Bundesregierung vor allem dafür kritisiert, nicht genug Impfstoffdosen für ihre Bürgerinnen und Bürger ›gesichert‹ zu haben. Teilst du diese Kritik?
Die Kritik ist schlichtweg falsch. Deutschland hat sich ca. 400 Millionen Impfdosen gesichert, weit mehr als für die Impfung aller hierzulande lebenden Menschen erforderlich wäre. Warum die Verteilung der Impfstoffe teils nur schleppend verläuft, ist eine andere Frage.
Bigott und nationalistisch
Dass ausgerechnet Politiker wie Bayerns Ministerpräsident Söder (CSU) von einer »Not-Impfstoffwirtschaft« mit klaren Vorgaben des Staates spricht und sein Parteifreund Manfred Weber ins Spiel brachte, »zugelassene Impfstoffe als Gemeingut zu betrachten, dessen Bedeutung in Zukunft weiter zunehmen wird«, ist bigott und nationalistisch. Hier geht es nur darum, dass Biontech und Co. nicht zu viele Impfstoffe ins Ausland verkaufen und den hiesigen Markt bedienen. Jegliche internationale oder gar globale Dimension wird ausgeblendet. Aus epidemiologischer Sicht ist das fatal: Es müsste darum gehen, die Lizenzen insgesamt aufzuheben. Der globalen Pandemie kann nur durch einen weltweiten Zugang zu den Impfstoffen Einhalt geboten werden.
Wie sind denn die Rechte an den Covid-19-Impfstoffen global geregelt? Und wie steht es mit der Produktion und der Verteilung im globalen Maßstab?
Da sind wir bei der Frage der Patente. Es gab schon im Frühjahr 2020 eine Initiative von Costa Rica, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgegriffen wurde – nicht zufällig ein Land des Südens. Die sieht vor, mit dem sogenannten C-TAP-Modell einen Pool für den Zugang zu Covid-19 relevanten Technologien einzurichten. In diesen Pool sollten die Ergebnisse der Impfstoffforschung von Universitäten und Pharmaunternehmen eingespeist werden, um so einen Wissens- und Technologietransfer zu ermöglichen.
Ignoranz der Industrienationen
Der Hintergrund dieses Vorschlags sind die positiven Erfahrungen mit einem Medikamentenpool im Kampf gegen HIV/AIDS.
Dennoch haben sich faktisch alle Industrienationen, darunter auch Deutschland, sofort geweigert, dieses Erfolgsmodell auch auf die Covid-19-Pandemie anzuwenden. Diese Ignoranz fällt der Welt jetzt auf die Füße – vor allem den Bevölkerungen im Süden. Denn der Technologietransfer, den so ein Pool auch ermöglicht hätte, wäre die Grundlage dafür gewesen, wirksame Impfstoffe dezentral herstellen zu können – auch im globalen Süden. Und das hätte zu mehr verfügbaren Impfstoffdosen und niedrigeren Preisen geführt.
Was tun die Industrienationen denn überhaupt?
Stattdessen unterstützen die Industrienationen die sogenannte COVAX-Facility. Das ist ein an die WHO angedocktes Gebilde aus Pharmaindustrie, Regierungen und philanthro-kapitalistischen Stiftungen wie der Gates Foundation, um auf Spendenbasis Impfstoffe für Länder des Südens zu kaufen. Die Hilfe legitimiert also die Verweigerung von Menschenrechten! Ohne die Blockadepolitik der Industrienationen bei der Patentfrage bräuchte es dieses neoliberale Gebilde gar nicht. Absurderweise begründet die Bundesregierung ihre Weigerung hinsichtlich der Lockerung des Patentschutzes ausgerechnet damit, dass dies COVAX gefährden würde. Hinzu kommt, dass derzeit von den 38 Milliarden Euro, die notwendig wären, um genug Impfstoffdosen zu kaufen, noch 28 Milliarden fehlen.
Dieser Pakt zwischen Industriestaaten und Pharmakonzernen ist natürlich empörend. Wie lässt sich diese Empörung in politische Konflikte übersetzen? Kennst du gesellschaftliche Akteure, die das versuchen?
Ermutigende Initiative
Auch wenn wir noch weit davon entfernt sind, dieses falsche Patentsystem zu überwinden, gibt es auf jeden Fall bereits ermutigende Entwicklungen – vor allem in einigen Länder des Südens. In Südafrika gibt es zum Beispiel die C19 People‘s Coalition, die im Übrigen auch ein Vorbild für uns wäre. Diese Coalition besteht aus einem breiten Zusammenschluss von Hilfsorganisationen, Gewerkschaften, Basisgruppen und auch einigen Parlamentarierinnen und Parlamentariern und macht auch auf die sozio-ökonomischen Folgen der Pandemie aufmerksam.
Was machen sie konkret?
Sie kämpfen zum einen für eine gerechte und konkrete Pandemiepolitik in Südafrika. Wer kann sich es leisten zu Hause zu bleiben? Welchen Schutz brauchen die, die sich das nicht leisten können? Wie könnte eine Grundabsicherung, ein allgemeines Bürger*inneneinkommen aussehen? In Südafrika, wie in vielen anderen Regionen des Südens, sind ca. 50 Prozent der Bevölkerung im informellen Sektor tätig. Sie sind in der dramatischen Situation, dass sie ihre Lebensgrundlage gefährden, wenn sie sich vor Covid-19 schützen. Das hat bereits jetzt zu starker Verschuldung und Verarmung geführt. Da wurde eine richtige Lawine losgetreten durch die Pandemie. Und hier setzt die Coalition an. Mit der Frage, welche Prioritäten setzt eigentlich unsere Regierung? Warum läuft etwa der Bergbau weiter, obwohl dort das Infektionsrisiko so hoch ist?
Patente auf Medikamente abschaffen
Aber die C19 People‘s Coalition hat nicht nur eine nationale Perspektive, sondern auch eine globale Perspektive. So unterschiedlich die Pandemie in ihren Ausprägungen und Folgen ist: Sie ist ein globales Problem. Darauf kann jede nationale Antwort nur falsch sein. Deshalb fordert die Coalition mit Blick auf das Patentsystem einen viel schnelleren Zugang zum Impfstoff, und zwar global, nicht nur für Südafrika. Und sie formuliert die Notwendigkeit, den Patentschutz auf Medikamente und Impfstoffe vollständig abzuschaffen.
Was müsste denn deiner Meinung nach hier in Deutschland und Europa passieren? Siehst du zum Beispiel in der Bewegung der Pflegekräfte, die ja in Deutschland besonders unter der Coronakrise leiden und vorher schon organisiert waren, einen Anknüpfungspunkt?
Ja, auf jeden Fall. Das Motto der Pflegestreiks »Mehr von uns ist besser für alle« ist wirklich phantastisch und zeigt die Richtung, in die wir gehen müssen. Wir müssen klar machen, dass die marktwirtschaftliche Organisierung von Gesundheitsversorgung gegen das Menschenrecht auf Gesundheit steht. Das gilt für die Situation in den Krankenhäusern, genauso wie für die Impfstoffentwicklung. Der Impfstoff muss öffentlich sein, das Gesundheitssystem muss öffentlich sein. Jede Form von Marktinteresse muss hier rausgehalten und die politischen Verantwortlichen in diesem Sinne verpflichtet werden. Darin liegt eine Verpflichtung für die politisch Verantwortlichen. Alles andere ist schlicht lebensgefährlich.
Das Interview führte Lukas Hoffmann. Eine ungekürzte Version des Interviews erschien zuerst bei https://www.zeitschrift-luxemburg.de/
Aktuelle Kampagne von medico: https://www.patents-kill.org/
Zur Person:
Anne Jung ist Politikwissenschaftlerin und ist Gesundheitsreferentin bei der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international.
Foto: flickr.com/Tim Reckmann (CC BY 2.0)
Schlagwörter: Corona