Seit mehreren Wochen wehren sich die Menschen in Palästina vermehrt gegen die Besatzung durch Israel. Saeed Amireh berichtet auf einer Veranstaltungstour durch Deutschland von dem gewaltfreien Widerstand in seinem Heimatdorf Ni’lin.
marx21.de: Ist in den letzten Wochen in Palästina eine »dritte Intifada« ausgebrochen?
Saeed Amireh: Sie wird »Al-Quds-Intifada« genannt, die Bezeichnung ist jedoch nicht so wichtig. Ähnlich wie die erste Intifada 1987 hat dieser Aufstand die palästinensische Bevölkerung im ganzen Land erfasst – Jerusalem, das Westjordanland und den Gazastreifen am stärksten, aber auch auf israelischem Gebiet wie in Haifa, Nazareth oder Umm al-Fahm, wo Palästinenserinnen und Palästinenser zu Protesten gegen den Staat Israel aufgerufen haben.
Der Aufstand hat sich langsam angebahnt und ist Anfang Oktober schließlich ausgebrochen. Die Repression ist massiv. Allein im Oktober hat die israelische Besatzungsarmee weitere 1650 Palästinenserinnen und Palästinenser gefangen genommen, unter ihnen 60 Prozent Minderjährige.
Im März hatte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu im Rahmen seines Wahlkampfes bekräftigt, es werde keinen palästinensischen Staat geben, sollte er wiedergewählt werden. Wie ist diese Nachricht in Palästina angekommen?
Damit war klar: Israel will uns nicht das geringste Stück Land abtreten. Unseren Protesten begegnete die Armee mit Tötungen, Verhaftungen und Hauszerstörungen. Auch die Gewalt der Siedler nahm zu. Bei einem Brandanschlag am 31. Juli verbrannte eine ganze Familie, dabei starb Ali Dawabscha, ein 18 Monate altes Baby, später erlagen seine Eltern den Verletzungen. Von der Familie bleibt nur noch ein Kind. Wir als Palästinenser sind der Siedlergewalt tagtäglich schutzlos ausgesetzt.
Oft greift die israelische Armee auch auf Seite der Siedler ein. Diese Brutalität liegt in der Natur des Siedlerkolonialismus. Mitte August machte die israelische Armee innerhalb von einer Woche 63 Häuser dem Boden gleich, wodurch 132 Personen zwangsvertrieben wurden, unter ihnen 82 Kinder. Das Jordantal traf es wie gewöhnlich am heftigsten.
Die israelische Politik zielt darauf ab, über kurz oder lang alle Palästinenserinnen und Palästinenser obdachlos zu machen. Am 22. September erschoss ein Angehöriger der Besatzungskräfte ein 16-jähriges palästinensisches Mädchen in Hebron unter dem Vorwand, es habe ein Messer in der Hand gehabt. Danach erließ Israel ein neues Gesetz, das den Einsatz von scharfer Munition gegen Steinewerfer erlaubt.
Auch die Strafen für Steinewerfer wurden drastisch verschärft: Richter dürfen nun bis zu 20 Jahre Haft anordnen. Wie ist dieses Gesetz zu bewerten?
Dieses Gesetz ist Teil einer weitergehenden Strategie. Kurz darauf begannen die Angriffe auf die muslimischen Gläubigen auf dem Tempelberg. Nur Muslime dürfen den Tempelberg betreten, fundamentalistische jüdische Gruppen wollen dieses Gesetz aber ändern. Die vermehrten Einmärsche israelischer Streitkräfte auf dem Tempelberg zur Begleitung jüdischer Extremisten und die damit einhergehenden Einschränkungen für Muslime haben die Palästinenserinnen und Palästinenser in Angst und Wut versetzt.
Wir haben Angst, dass Israel in Jerusalem das gleiche macht wie in Hebron: eine Teilung der Moschee in einen muslimischen und einen jüdischen Teil. Wenn das passiert, wären jüdischen Fundamentalisten Tür und Tor geöffnet, die Al-Aqsa-Moschee mit dem Felsendom jederzeit zu stürmen und zu zerstören. Als der Widerstand in Palästina aufgeflammt ist, hat Netanjahu angekündigt, den Status quo nicht ändern zu wollen. Unterdessen aber werden die Ausgrabungen unter der Altstadt immer weiter getrieben.
Deshalb steht die Altstadt Jerusalems mitsamt der Grabeskirche und dem Tempelberg auf der Unesco-Liste des gefährdeten Welterbes. Warst du schon einmal in Jerusalem?
Nein, nie. Ich wohne 27 Kilometer von Jerusalem entfernt, habe es aber noch nie gesehen. Die meisten Palästinenserinnen und Palästinenser aus dem Westjordanland haben keinen Zugang zu Jerusalem.
Wie gestaltet sich dein Aktivismus in Ni’lin?
Ni’lin wird stark von den umliegenden Siedlungen sowie der Mauer beeinträchtigt. Wir organisieren uns in Volkskomitees, um unsere Dörfer und Ressourcen vor den Siedlern und der Besatzungsarmee zu schützen. Sobald Siedler das Feld eines Bauern betreten, gehen wir in einer Gruppe hin, um sie zu vertreiben. Dabei werden aber manchmal Leute getötet, weil die Siedler bewaffnet sind.
Wir organisieren auch Touren für internationale Aktivisten. Wenn Ausländer unter uns sind, halten sich das israelische Militär und die Siedler eher zurück. Aus Deutschland kam 2013 eine Gruppe von Aktivisten während der Olivenernte und pflanzte mit uns Olivenbäume wieder an, die Siedler ausgerissen hatten. In den letzten fünf Jahren haben wir 3500 Olivenbäume verloren. Im Juni wurden 250 Bäume in einer Nacht abgebrannt. Mit unserer Arbeit versuchen wir, den Bauern Hoffnung zu geben.
Ende September wurde die palästinensische Fahne vor der Uno gehisst. Aber macht ein Staat Palästina in den Grenzen von 1967 überhaupt Sinn? Die Mehrheit der Palästinenserinnen und Palästinenser lebt ja ohnehin nicht dort, sondern innerhalb Israels oder im Exil.
Die Palästinensische Autonomiebehörde soll auf 22 Prozent des ursprünglichen Palästinas einen Staat repräsentieren. 8 Prozent wurden aber schon von Siedlungen vereinnahmt und weitere 7 Prozent durch die Mauer. Damit bleiben noch 7 Prozent. Wo ist da die »Zwei-Staaten-Lösung«?
Das Allerwichtigste ist, dass alle Menschen in Sicherheit und Frieden leben können. Ein, zwei oder drei Staaten, darum geht es nicht, sondern es geht um unsere Existenz. Nach der zionistischen Idee sollen wir Nichtjuden alle aus dem ehemaligen Palästina vertrieben werden. Entsprechend handelt der israelische Staat, der verschiedene Strategien der Unterdrückung anwendet. Israel trennt uns durch Mauern, Checkpoints und Siedlungen, immer mehr Dörfer werden isoliert.
Wir leben in großen Freiluft-Gefängnissen. Wir werden in immer kleinere Zonen gepfercht, ähnlich den Bantustans in Südafrika zur Zeit der Apartheid. Deshalb benötigen wir eure Solidarität. Die EU und die USA geben Israel nicht nur Geld, sondern unterstützen es auch politisch. Wenn sie ihm politische Straflosigkeit gewähren, fühlt sich Israel ermutigt, noch mehr Verbrechen an Palästinenserinnen und Palästinensern zu begehen.
In Deutschland wird die Kampagne für Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen gegen Israel (BDS) oft mit der Nazi-Parole »Kauft nicht bei Juden« gleichgesetzt. Wie fühlst du dich, wenn du hierzulande auf Tour bist?
Bei meiner letzten Tour in Deutschland wurde ich sehr herzlich empfangen, sei es in Freiburg oder Berlin. Vielleicht gerade weil in Deutschland Kritik an Israel heikel ist und oft als Rassismus gegen Juden missverstanden wird, spürte ich vom Publikum bei meinen Vorträgen umso mehr Solidarität.
BDS heißt nicht, dass Juden diskriminiert werden sollen. BDS ist ein Werkzeug mit dem Ziel, Israel unter Druck zu setzen, damit es die militärische Besatzung beendet und das internationale Recht respektiert und anwendet. Es geht nicht darum, Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer zurückzuerobern. Aber Israel repräsentiert die jüdische Gemeinschaft nicht. Viele Juden sind gegen Israels Verbrechen und boykottieren es von innen oder außen. Sie lassen Israel seine Verbrechen nicht in ihrem Namen begehen.
Mahmud Abbas hat im Gegensatz zu seinem Vorgänger Jassir Arafat, der friedlichen mit militärischem Widerstand kombinierte, ausschließlich auf Diplomatie gesetzt. Hat der Verzicht auf militärische Mittel die Fähigkeit der Palästinenser nicht verringert, Israel glaubwürdig unter Druck zu setzen?
Militärisch können wir gegen eine Atommacht ohnehin nichts ausrichten. Gleichzeitig verdankt Israel seine Macht aber nicht den Atomwaffen, sondern vielmehr der politischen und finanziellen Unterstützung anderer Staaten. Erst wenn kein Geld mehr nach Israel fließt und Israel an der Besatzung nicht mehr verdient, wird es diese beenden. Deshalb bin ich überzeugt, dass die BDS-Kampagne – also der gewaltlose Widerstand – für uns der einzige Weg zu einem Leben in Freiheit und Würde ist.
Was soll von diesem langen Interview auf keinen Fall vergessen gehen?
Was derzeit in Palästina passiert, ist eine Reaktion, kein Angriff. Es ist eine Reaktion auf Jahrzehnte der Vertreibung, der militärischen Besatzung, des Siedlerkolonialismus, des Mordens, der Schikane. Das soll im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen. Die westlichen Medien haben die Tendenz, vor allem über die Messerattacken zu berichten, an denen Israelis gestorben sind.
Ist die EU-Kennzeichnungspflicht von Siedlerprodukten ein Schritt in die richtige Richtung?
Die Kennzeichnungspflicht ist ein ganz kleiner Schritt in die richtige Richtung. Aber wenn die israelischen Siedlungen im besetzten palästinensischen Gebiet völkerrechtswidrig sind, warum ist es dann nicht schlicht verboten, Siedlerprodukte überhaupt auf den Markt zu bringen?
Zur Person:
Der Palästinenser Saeed Amireh wurde 1991 in dem Dorf Ni’lin, westlich von Ramallah, geboren. Sein Dorf liegt in den C-Gebieten, den 62 Prozent des Westjordanlands, die unter voller israelischer Militärkontrolle stehen. Die Inhaftierung seines Vaters brachte ihn mit 17 Jahren dazu, sich durch soziale Medien an die Welt zu wenden. Im Selbststudium brachte er sich Englisch bei und mobilisierte internationale Unterstützung, um die Kaution für seinen Vater und andere politische Häftlinge zahlen zu können. Aufgrund der Teilnahme an Demonstrationen gegen die Besatzung und den Mauerverlauf wurde auch Saeed selbst inhaftiert. Als ehemaliger politischer Gefangener und Menschenrechtsverteidiger berichtete er auf Konferenzen und Vortragsreisen in Schweden, Norwegen, Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und Australien über das Leben der Palästinenser unter israelischer Militärbesatzung und die Rolle des gewaltlosen Widerstands. Zudem gibt er Workshops, in denen er anderen Dörfern und Gemeinden Formen des gewaltlosen Widerstands nahebringt. Im November und Dezember 2015 befindet sich Saeed Amireh auf Vortragsreise in Deutschland und Tschechien.
Veranstaltungen mit Saaed Amireh finden in den nächsten Tagen in den folgenden Städten statt:
- Montag, 23. November: Coburg
- Dienstag, 24. November: Neuss
- Mittwoch, 25. November: Duisburg
- Donnerstag, 26. November: Bielefeld
- Freitag, 27. November: Herford
- Sonntag, 29. November: Bonn
- Montag, 30. November: Göttingen
- Dienstag, 1. Dezember: Berlin
- Donnerstag, 3. Dezember: Prag
- Freitag, 4. Dezember: Bonn
- Montag, 7. Dezember: Kassel
- Dienstag 8. Dezember: Frankfurt/Main
Mehr Infos gibt es hier: https://nilindeutschland.wordpress.com
(Foto: Flickr.com/Mar is Sea Y, CC BY-NC-SA)
Schlagwörter: BDS, Intifada, Israel, Palästina, Palästinenser