Seit Monaten gibt es in Mazedonien Massenproteste gegen die rechtskonservative nationalistische Regierung von Ministerpräsident Nikola Gruevski. marx21 sprach mit Adela Gjorgjioska, Aktivistin der linken Bewegung Solidarnost aus Skopje, über die Hintergründe und warum es nicht ausreichen wird, lediglich die korrupte Regierung zu beseitigen.
marx21: Zehntausende protestierten in den vergangenen Wochen gegen die Regierung. Kannst du uns etwas über die Hintergründe erzählen?
Adela Gjorgjioska: Die Menschen in Mazedonien sind wütend. Das Land gehört zu den ärmsten Staaten Europas. 30 Prozent der Einwohner sind arbeitslos, fast jeder dritte Einwohner lebt unterhalb der Armutsgrenze. Vor allem viele Albaner und Roma sind bettelarm. Der Protest richtet sich gegen das Regierungsbündnis VMRO-DPMNE und vor allem gegen den Premier Nikola Gruevski. Er regiert Mazedonien seit 2006. In seine Regierungszeit fallen viele Privatisierungen. Die jetzige Regierungen und auch ihre Vorgänger bedienen vor allem die Interessen der Banken und Konzerne. So hat Mazedonien einen der niedrigsten Steuersätze für Unternehmen und gleichzeitig den niedrigsten Lohn in der Region. Der Durchschnittslohn beträgt gerade einmal 143 Euro, was dazu führt, dass Mazedonien die höchste Ungleichheit in der Einkommensverteilung in Europa hat. Die rechtskonservative Regierung ist unsozial und korrupt. Dagegen wehren sich die Menschen.
Wie haben die Proteste angefangen?
Den Anfang machten die Studierenden im Herbst 2014. Sie wehrten sich gegen die neoliberale Bildungsreform der Regierung. Diesen Protesten folgten Demonstrationen gegen die Steuerreformen, Einschränkung der Pressefreiheit, die Gesundheitsreform und weitere Proteste gegen das nationalistische Prestige-Projekt »Skopje 2014«. Die Proteste weiteten sich jedoch im Mai 2015 massiv aus, als Beweise auftauchten, dass die mazedonische Regierung direkt in die Vertuschung eines Mordes verwickelt war.
Wie kam es dazu?
Der Abhörskandal oder »die Bomben« wie er in Mazedonien genannt wird, begann schon im Februar 2015, als Zoran Zaev, der Führer der größten Oppositionspartei der Sozialdemokratische Bund (SDSM), damit begann, eine Reihe von abgehörten Unterhaltungen zu veröffentlichen. Die Bänder, von denen Zaev behauptete, er habe sie von einem Whistleblower der Regierung erhalten, sind Teil einer vom Premierminister Gruevski und dem Chef der Spionageabwehr, Mijalkov, angeordneten illegalen Überwachungsoperation. Private Unterhaltungen von 20.000 Personen wurden aufgezeichnet. 30 Sätze von zugespielten Bändern, die bisher veröffentlicht wurden, legen Gespräche zwischen hohen Regierungsfunktionären, darunter auch der Premierminister, und engsten Mitarbeitern aus der Regierungspartei VMRO DPMNE und ihrem Koalitionspartner, der albanischen DUI Partei, offen.
Was genau haben sie enthüllt?
Aus den Gesprächen geht hervor, wie Ministerpräsident Gruevski und seine engsten Vertrauten ihrerseits die politische Gegner in Mazedonien flächendeckend abhören ließen, die Medien steuerten, die Inhaftierung von Kritikern planten und Korruptionsaffären vertuschten. Sie enthüllen damit weitgehende Rechtsverstöße in Justiz und Medien, Veruntreuung von öffentlichen Geldern, Korruption im kolossalen Stil und vieles mehr. Sie illustrieren den Mechanismus der Übernahme des Staates durch Gryveski und sein clan-ähnliches Netzwerk von Parteikollaborateuren im Verlauf von 9 Jahren, seit VMRO-DPMNE im Jahr 2005 die Wahlen gewonnen hat. Eines dieser Tonbäder, das am 5. Mai veröffentlicht wurde, legt die direkte Beteiligung des Premierministers und des Innenministers an der Vertuschung der Wahrheit über den Mord an einem 22jährigen, der von einem Polizisten im Juni 2011 zu Tode geprügelt wurde, offen.
Welche Arten von Protesten finden statt? Wer steht hinter den Protesten gegen die Regierung?
Die Proteste, die am 5.Mai begannen, waren Basisproteste. Minuten nachdem die Abhörbänder veröffentlicht wurden, erstellte die »Bewegung gegen Polizeibrutalität« einen Facebook-Event »Gerechtigkeit für Martin Neskovski« und rief zu Demonstrationen vor der Regierung als Antwort auf die Enthüllungen auf. Diese Bewegung stand auch hinter einer Reihe von Protesten im Jahr 2011, die die offiziellen Einlassungen der Regierung den Mord an dem 22jährigen bezweifelten und eine Vertuschung annahmen. Die Tonbänder bestätigten diese Vermutungen und veranlassten viele Einzelpersonen und Mitglieder anderer Bewegungen dazu, sich den Massen vor der Regierung anzuschließen. Hunderte bewaffnete Polizisten von Sondereinheiten fielen jedoch brutal über die Proteste her, was zu vielen Verletzten und Dutzenden Inhaftierten führte. Als die Polizeibrutalität mehr und mehr zunahm weiteten sich die Proteste in den folgenden aus, die dem Banner #Protestiram (ich protestiere) folgten.
Und wie ging es danach weiter?
Am 17. Mai wurde der größte anti-Regierungsprotest in Mazedonien organisiert, zu dem sich 60.000- 100.000 Menschen versammelten. Im Gegensatz vom 5. Bis 16. Mai war es die größte Oppositionspartei SDSM, die zu den Protesten am 17. Mai um 14.00 Uhr aufrief, um eine möglichst große Plattform zu schaffen, die von eigenen Anhängern über unabhängige Einzelpersonen, NGOs zu unabhängigen Bewegungen reichte. Diejenigen, die an den früheren Protesten von #Protestiram teilgenommen hatten, versammelten sich vor dem zuständigen Gericht Skopje 1, um die inhaftierten Demonstranten vom 5. Mai zu unterstützen. Das Studentenplenum, die Studentenbewegung hinter einer Reihe von Massenprotesten gegen Reformen im Bildungssystem im Herbst 2014, organisierte einen Studierendenmarsch. Neben denen, die sich als Teil von #Protestiram versammelt hatten, marschierten Bürgergruppen, die gegen das Heizungs-Versorgungssystem Toplifikacija protestierten und viele unabhängige Bürger und sie schlossen sich schließlich den Protestierenden vor der Regierung an.
Im Anschluss an die Proteste vom 17. Mai errichteten die Protestierenden ein »Freiheitscamp« vor dem Regierungsgebäude. Kannst du uns mehr darüber erzählen?
Im Camp vor dem Regierungsgebäude gibt es jeden Tag Diskussionen und andere Aktivitäten. Seit der Platzbesetzung vor dem Regierungsgebäude hat der Protest unterschiedliche Formen angenommen. So organisierte #Protestiram beispielsweise eine Blockade des Flughafens. Mit Plakaten, auf denen »WANTED« stand, alarmierten die Aktivistinnen und Aktivisten die Öffentlichkeit, dass Mitglieder der Regierung, die durch den Skandal kompromittiert wurden, das Land frei verlassen und sich der Rechtsprechung der Gerichte entziehen könnten. Auch wenn sich nicht alle Gruppen und Bewegungen aus dem Protestbündnis an dem Camp beteiligen, haben wir dennoch ein gemeinsame Ziel: Das Ende der Gruevski Regierung.
Was ermöglicht es Gruesvki an der Macht zu bleiben, wenn die Bevölkerung in Mazedonien sich gegen ihn vereinigt hat?
Er beansprucht immer noch Legitimität, in dem er sich auf die große Masse beruft, die ihn immer noch unterstützt. Er organisierte beispielsweise einen große Aufmarsch am 18. Mai zur Unterstützung der Regierung, um genau dies zu demonstrieren. Die Fähigkeit Gruevskis, trotz der Enthüllungen durch die Tonbänder, so große Unterstützung anzusammeln, ist sowohl ein Symptom als auch eine Konsequenz seiner Aneignung des Staates und zweier zusammenhängender Mechanismen. Der erste Mechanismus ist der Klientelismus, der so tief in die Gesellschaft eingedrungen ist, dass es nun eine Gleichheit gibt zwischen der Regierungspartei auf der einen und dem Staat auf der anderen Seite. In einem Staat, in dem die Arbeitslosigkeit bei 30 Prozent liegt und die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung (ca. 170.000 oder 25 Prozent) Angestellte des Staates sind, bedeutet dies, dass die Partei der größte Arbeitgeber geworden ist. Der Parteiausweis, und nicht Qualifikation und Erfahrung, sind das Hauptkriterium für die Einstellung im öffentlichen Dienst. In den Tagen vor den Protest berichteten Leute überall im Land wie die Partei Menschen die sich an den Protesten beteiligen wollten unter Druck setzte und ihnen mit Entlassung, Disziplinarmaβnahmen und anderen Erpressungen drohte, sollten sie sich an den Protesten beteiligen. Der zweite Mechanismus ist der kombinierte Effekt von Nationalismus und Medienpropaganda. Die Regierungspartei VMRO-DPMNE kontrolliert nahezu alle Medien im Land, einschließlich des nationalen Senders MRTV. Alle politischen Widersacher und kritischen Bürger werden in den Staatsmedien als Verräter und ausländische Agenten gebrandmarkt. Gleichzeitig versucht die Regierung Gruevski nationalistische Konflikte zu provozieren. Anfang Mai lieferten sich Polizei und Militär zwei Tage lang Feuergefechte mit albanischen »Terroristen« …
…nach diesem Vorfall sprachen die Medien in Deutschland von zunehmenden ethnischen Spannung und der Angst vor einem neuen Bürgerkrieg …
Wer so etwas behauptet, macht es sich viel zu einfach. Die Zusammenstöße zwischen der Polizei und der »Terrorgruppe« in Kumanovo verfehlten das Ziel einen ethnischen Zusammenstoß anzufachen. Sie bestätigten im Gegenteil, dass Mazedonier und Albaner mehr denn je vereint sind in ihrem Kampf gegen eine korrupte Regierung. Das deutlichste Zeichen dafür war die große Beteiligung an den Protestaktionen gegen die Regierung unmittelbar nach den Kämpfen am 17. Mai. Dort demonstrierten Mazedonier und Albaner Seite an Seite gegen die Regierungskoalition. Die Konfliktlinien verlaufen nicht zwischen Mazedoniern und Albanern. Die Oppositionsbewegung mobilisiert die Menschen über die ethnischen Grenzen hinweg, die Regierung Gruevskis zu stürzen.
Siehst du ein Ende der Krise?
Im Moment finden Verhandlungen statt, die von der EU als Mediator begleitet werden. Regierung und Opposition einigten sich darauf, vorgezogene Parlamentswahlen im April 2016 abzuhalten. Die genauen Einzelheiten zum Ablauf sind jedoch noch nicht vereinbart und es bleibt unklar, ob Premierminister Nikola Gruevski jetzt zurücktreten und wer dann in dieser Zeit verantwortlich sein wird. Das ist höchst beunruhigend. Das Maß an Missbrauchsfällen zeigt, dass auch ein Rücktritt der Regierung nicht ausreichend ist. Gruevski und seine Kollaborateure müssen strafrechtlich verfolgt werden; alle Möglichkeiten den veruntreuten Besitz und das Vermögen zurückzuerlangen müssen ausgeschöpft werden. Jegliche Lösung, die es nicht schafft, die Klauen der VMRO von der politischen, juristischen und wirtschaftlichen Macht und der Macht über die Medien fernzuhalten, wird das Land in weiteren Zerfall führen.
Sind linke Gruppen an den Protesten beteiligt?
Aktivisten von Solidarnost und Lenka stehen an vorderster Front bei den Protesten die um #Protestiram entstanden sind. Zusammen mit anderen sozialen Bewegungen diskutieren und beschließen sie die Form und Inhalte des andauernden Widerstandes gegen das Regime. Sie verfolgen genau den Fortgang der von der EU begleiteten Verhandlungen zwischen der Regierungspartei und der sozialdemokratischen Opposition SDSM. Die Linke in Mazedonien kritisiert, dass diese Verhandlungen nicht transparent sind. Wir befürchten, dass die sozialdemokratische Partei einen »faulen« Kompromisse mit der Gruevski-Regierung eingeht. Das darf unter keinen Umständen passieren.
Wie könnt ihr das verhindern?
Die sozialen Bewegungen in Mazedonien sind der Schlüssel für Veränderungen. Zuerst müssen wir dafür kämpfen, das sich die soziale Bewegungen, andere zivilgesellschaftliche Akteure und Einzelpersonen in einer gemeinsamen Front gegen Gruevski vereinigen, um dafür zu sorgen, dass dieser seine Klauen aus dem Staat zieht. Aber auch das ist nicht das Ende der Geschichte. Es wird nicht ausreichen, lediglich die korrupte Regierung zu beseitigen und mit einer neuen zu ersetzen. Die einzige Möglichkeit eine nachhaltige Veränderung zu erreichen, ist die Einbeziehung der Bevölkerung in den gesamten politischen Prozess, um sicherzustellen, dass jede Regierung für ihr Handeln zu Verantwortung gezogen werden kann und die Kontrolle der Regierungspolitik durch die Menschen gegeben ist. Der einzige gangbare Weg aus der Krise ist eine systematische Umwandlung der Machtverhältnisse in der Gesellschaft.
Adela Gjorgjioska ist eine Aktivistin der linken Bewegung Solidarnost aus Skopje und Mitglied der Redaktion bei LeftEast.
Das Interview führte Daniel Kerekes.
Foto: FOSM
Schlagwörter: Analyse, Armut, marx21, Mazedonien, Protest, Roma, Studierende