Mitglieder der LINKEN sind allerorten aktiv, um Geflüchteten zu helfen. Wir haben mit drei Aktivistinnen und Aktivisten darüber gesprochen, was sie erlebt haben und wie sie die Solidaritätsbewegung unterstützen. Interview: Jan Maas
Lucia Schnell: »Der Staat kann Wohnraum beschlagnahmen«
Lucia, DIE LINKE in Neukölln fordert im Zusammenhang mit der steigenden Zahl von Geflüchteten Wohnungen für alle. Woher sollen diese Wohnungen so schnell kommen?
Reiner Wild vom Berliner Mieterverein schätzt, dass es in Berlin bis zu fünftausend nicht verkaufte Eigentumswohnungen gibt oder solche in Gebäuden, die auf eine Luxussanierung warten. Also Spekulationsobjekte. Das Berliner Sozialgipfel-Bündnis aus Sozialverbänden, Gewerkschaften und Mieterverein hat bereits gefordert, diese Wohnungen für Geflüchtete und Geringverdienende zu beschlagnahmen.
Kann der Staat einfach Wohnraum beschlagnahmen?
Ja, er kann. Das hat er in den 1990er Jahren auch schon getan, als viele Menschen vor dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien geflohen sind. Damals sind unter anderem noch nicht bezogene, aber fertige Hotels beschlagnahmt worden.
Im Jahr 2014 standen 907.000 Quadratmeter Büroflächen in Berlin leer. Außerdem hat der Bund eine Menge Immobilien in Berlin, die auf Leerstand überprüft werden können.
Die Grünen haben bereits einen Antrag auf Beschlagnahmung von Wohnraum in die Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung eingebracht. Wir bereiten einen entsprechenden Antrag in Neukölln vor.
Bis jetzt bewegt der Berliner Senat sich nicht. Wie wollt ihr ihn dazu bringen?
Indem zwei Bewegungen zusammenkommen: die Solidarität mit den Geflüchteten und die Bewegung für bezahlbaren Wohnraum. In den letzten Jahren haben Geflüchtete zunächst auf dem Kreuzberger Oranienplatz campiert und dann eine leer stehende Schule besetzt. Viele Menschen haben das unterstützt, Schüler sind in einen Solidaritätsstreik getreten.
In diesem Frühling hat die Initiative für einen Mietenvolksentschied die erste Hürde für ein Gesetz genommen, das den Senat zwingen soll, für bezahlbaren Wohnraum zu sorgen. Wir können an diese Erfolge anknüpfen.
Der Mietenvolksentscheid wird vielleicht gar nicht stattfinden, weil der Senat auf die Initiative zugegangen ist. Nimmt euch das nicht den Wind aus den Segeln?
Im Gegenteil, das zeigt, dass wir einen wunden Punkt getroffen haben. Es ist ein Riesenerfolg, wenn der Senat jetzt einige Verbesserungen für Mieter umsetzt. Aber damit ist der Mietenvolksentscheid als Ganzes noch lange nicht umgesetzt. Der Senat hat noch keine einzige neue Sozialwohnung gebaut, und die Mieten steigen auch noch weiter.
Wenn bezahlbarer Wohnraum in der Vergangenheit bereits knapp war und jetzt zusätzlich Geflüchtete nach Berlin kommen, besteht nicht die Gefahr, dass Menschen gegeneinander ausgespielt werden?
Die Gefahr besteht. Aber wir sind der Meinung, dass Wohnraum für alle geschaffen werden kann, wenn die Reichen dafür bezahlen. Außerdem versuchen wir, Gewerkschaften, Sozialverbände und Mietervereine mit ins Boot zu holen und so der Spaltung entgegenzuwirken.
Colin Turner: »Ein aktives Verhältnis zu Geflüchteten«
Colin, der Münchener Hauptbahnhof war für anderthalb Wochen ein zentrales Drehkreuz für die Ankunft und Verteilung von Menschen auf der Flucht. Wie hast du das Verhältnis von staatlicher und privater Hilfe vor Ort wahrgenommen?
Die ersten, die sich zum Hauptbahnhof aufgemacht haben, waren mehrheitlich Leute, die schon in der Geflüchtetenhilfe aktiv waren. Sie haben sich spontan entschlossen zu helfen und die Situation war entsprechend chaotisch. Die meisten Spenden zur Erstversorgung kamen von Privatpersonen, teils aber auch von Geschäften – palettenweise Essen von Dönerläden zu Beispiel. Ehrenamtliche haben die Verteilung in die Hand genommen. Der Staat dagegen hat anfangs so gut wie nichts organisiert außer natürlich den Polizeieinsatz. Es gab sogar kurzzeitig den Versuch, die Hilfswilligen zu entfernen. Es fand dann wohl angesichts der großen Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ein Sinneswandel statt. Selbst in den offiziellen Lagebesprechungen waren wir vertreten.
Wie bewertest du die große ehrenamtliche Hilfsbereitschaft?
Ich finde es gut, dass sich so viele Leute beteiligen, weil das auch eine gewisse Öffentlichkeit herstellt und eine gewisse Kontrolle des staatlichen Umgangs mit den Geflüchteten.
Außerdem führt die Einbindung der Bevölkerung dazu, dass mehr Menschen ein aktives Verhältnis zu Geflüchteten haben. Aufgrund der Abschottung durch das Dublin-System kannten viele Geflüchtete bisher nur aus den Medien. Das hat sich jetzt geändert. Andererseits haben wir als Ehrenamtliche schon von Anfang an gefordert, dass der Staat bestimmte Leistungen übernehmen muss. Zufällig eintreffende Nahrungsmittelspenden dürfen keine Dauerlösung sein. Es ist Aufgabe der Regierung von Oberbayern, die Erstversorgung zu gewährleisten. Inzwischen klappt das auch besser, aber wir mussten immer wieder Engpässe in der staatlichen Versorgung mit Spenden überbrücken.
Was denken die Ehrenamtlichen, wie der Staat mit den Geflüchteten umgehen soll?
Nachdem die ersten größtenteils politisch Aktive waren, haben wir jetzt eine sehr vielfältige Gruppe von der Hausfrau bis zum Händler. Wir sind politisch nicht immer einer Meinung und sind stolz darauf, überparteilich und überkonfessionell zu sein. Bei uns arbeiten Menschen sowohl aus der muslimischen als auch der katholischen wie auch der jüdischen Gemeinde mit oder eben auch ich als Atheist.
Die Schließung der Grenze zu Österreich lehnen wir genauso ab wie das Aufhalten der Menschen in Ungarn. Wir sind alle der Meinung, dass das keine Lösung ist. Wir haben uns auch gemeinsam dagegen gewehrt, dass Ministerpräsident Seehofer behauptet hat, die Grenze sei auch zu unserem Schutz geschlossen worden. Wir wollen nicht als Ausrede herhalten. Kritisch betrachten wir ebenfalls, das Drehkreuz München wegen des Oktoberfestes zu schließen. Drehkreuze in der Provinz bedeuten weniger Öffentlichkeit und sie sind schwieriger mit Ehrenamtlichen zu unterstützen. Aufgrund unserer Erfahrung der letzten Wochen trauen wir dem Staat nicht zu, die Versorgung dort selber gut sicher zu stellen.
Darüber, wie es jetzt weitergeht, müssen wir diskutieren.
Du bist auch Mitglied der LINKEN. Was ist aus Deiner Sicht jetzt nötig?
Ich habe den Eindruck, die meisten Menschen gehen aufgrund von Äußerungen beispielsweise von Angela Merkel davon aus, dass die Geflüchteten, die das wollen, auch hier bleiben können. Und sie finden das wohl auch richtig, sonst hätten wir nicht Tausende registriert und selbst nach drei Wochen täglichen Zulauf von Personen, die mit anpacken wollen.
Das bedeutet, dass die Bundesregierung eine echte Willkommenskultur schaffen muss.
Das bedeutet, die Grenzen wieder zu öffnen und koordinierten Transport von den europäischen Außengrenzen direkt nach Deutschland. Das bedeutet eine menschenwürdige Unterbringung einschließlich Versorgung und Hilfen zur Integration. Wir brauchen zum Beispiel einen neuen sozialen Wohnungsbau, um der Konkurrenz unter den Menschen um Wohnraum entgegenzuwirken. Nicht zuletzt bedeutet das auch, endlich das unmenschliche und unsoziale Dublin-System zu beseitigen und den Geflüchteten wieder die freie Entscheidung zu geben.
Irmgard Wurdack: »Wir übernehmen keine Aufgaben des Staates«
Irmgard, in Berlin sind in den ersten neun Monaten des Jahres mehr als 20.000 Geflüchtete angekommen. Wie reagiert der Bezirk Neukölln, in dem du aktiv bist?
In Neukölln soll jetzt eine zweite reguläre Unterkunft gebaut werden. Bisher gibt es eine. In der geplanten Unterkunft soll es Platz für 300 Menschen geben. Auf dem Gelände ist außerdem eine Kita geplant, die für alle zugänglich sein soll.
Der Betreiber verfolgt nach eigenen Angaben ein integratives Konzept und will vermeiden, dass die Unterkunft wie so oft als Fremdkörper im Kiez wahrgenommen wird. Zugleich ist er jedoch durch die Tagessätze, die der Staat pro Person zahlt, extrem eingeschränkt, denn diese dienen der Abschreckung und nicht der Integration.
Wie sind die Geflüchteten in Neukölln untergebracht, solange gebaut wird?
Derzeit sind rund 250 Menschen in zwei so genannten Notunterkünften untergebracht. Eine der Notunterkünfte besteht aus Containern, die einmal als Ersatzklassenzimmer für eine Schule mit Raumnot gedient haben. Dort leben rund 100 Leute mit bis zu 15 Personen in einem Raum. Die Menschen haben keinerlei Privatsphäre und keinen angemessenen Gemeinschaftsraum. Die zweite Notunterkunft ist in einer Turnhalle, in der derzeit 150 Menschen leben. Weitere solche Notunterkünfte sollen demnächst entstehen.
Du bist aktiv in dem antirassistischen Bündnis Neukölln. Wie geht ihr mit dieser Situation um?
Wir haben eine AG Flucht und Asyl gegründet, sobald die Pläne für die zweite reguläre Unterkunft bekannt geworden sind. Es haben sich etwa fünfzig Personen dafür gemeldet. Diese AG hat dann eine öffentliche Informationsveranstaltung organisiert, auf der sich noch einmal über fünfzig Personen eingetragen haben, die helfen wollen. Als in der Zwischenzeit die Notunterkünfte eingerichtet worden sind, haben wir angefangen, die Menschen dort zu unterstützen. Wir haben zum Beispiel Deutschkurse und Sprachcafés organisiert, Kinderbetreuung sowie Begleitung für Behördengänge oder Arztbesuche und bei der Wohnungssuche.
Wäre es nicht Aufgabe des Staats, beispielsweise Deutschkurse zu organisieren?
Wir hatten eine Diskussion im Bündnis über die Grenzen unserer Hilfe. Wir übernehmen keine Aufgaben, die Aufgabe des Staates oder des Betreibers sind, die also in den Tagessätzen enthalten sind. Wir helfen nicht dabei, Wäsche zu waschen und wir holen auch keine Brötchen. Wir sehen unseren Job darin, ein nachbarschaftliches Miteinander herzustellen.
Lässt sich die Grenze zwischen ehrenamtlicher Hilfe und staatlichen Aufgaben immer so klar ziehen?
Ja. In einer akuten Notsituation hat uns ein Betreiber gebeten, bei der Essensausgabe zu helfen. Wir haben dann eine Frist von anderthalb Wochen gesetzt. Wenn die zugewiesenen Mittel nicht ausreichen, um genug Leute anzustellen, dann muss der Betreiber eben Alarm schlagen. Wir helfen gerne bei der Öffentlichkeitsarbeit.
Wir haben auch schon Missstände wie die Unterbringung in den Containern an die Öffentlichkeit gebracht. Wir verteidigen zwar die Sammelunterkünfte gegen Angriffe von Nazis, aber eigentlich brauchen die Menschen richtige Wohnungen.
Mobilisieren die Nazis in Neukölln denn gegen die Unterkünfte?
Wir hatten in letzter Zeit keine erneuten Übergriffe in Neukölln. Das werten wir auch als Erfolg früherer erfolgreicher Proteste gegen Neonazi-Kundgebungen. Bisher kamen dort immer mehr Menschen als zu den Nazis. Einmal haben wir auch ein Picknick mit Anwohnern und Geflüchteten vor der betreffenden Unterkunft organisiert.
Du bist auch in der LINKEN aktiv. Welchen speziellen Beitrag kann sie leisten?
Wir haben zum Beispiel dafür argumentiert, neben der bloßen Hilfe auch Flyer im Kiez zu verteilen, die darüber aufklären, wo die Menschen herkommen und warum.
Das führt dann zu Themen wie Kriegen und Waffenexporten und zur Verantwortung der Bundesregierung.
Außerdem setzen wir uns dafür ein, dass wir als Bündnis die Proteste gegen die Verschärfung des Asylrechts unterstützen. Viele Ehrenamtliche sehen diesen Widerspruch: Wir bemühen uns um eine echte Willkommenskultur, und gleichzeitig schränkt die Regierung das Asylrecht ein.
Auch einfach nur nach außen zu treten und sichtbar zu werden ist wichtig. Wir haben zum Beispiel ein Sommerfest gefeiert. Das mag auf den ersten Blick unpolitisch wirken, aber es holt die Geflüchteten aus der Isolation und überwindet Schranken.
Foto: Leif Hinrichsen
Foto: Leif Hinrichsen
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