Die Proteste in Chile gegen Neoliberalismus und Unterdrückung halten an. Wie geht es weiter und welche Rolle kann die Linke spielen? Fragen an Nicole Möller Gonzalez
marx21: Die chilenische Protestbewegung bleibt auf der Straße. Gibt es inzwischen politische Kräfte, die diese Bewegung anführen?
Nicole Möller González: Niemand führt diese Bewegung bis jetzt. Sie hat sich spontan entwickelt. Die Menschen in Chile sind mit allen Politikern unzufrieden. Das führt dazu, dass verschiedene Forderungen erhoben werden, die aber nicht einer spezifischen Seite zugeordnet werden können. Das hat auch damit zu tun, dass in den letzten Regierungen linke Akteure mitgewirkt, aber an der Lage der Menschen wenig geändert haben.
Welche Forderungen sind die populärsten?
Die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung gewinnt Zustimmung. Sonst geht es vor allem um die hohen Lebenshaltungskosten, einen höheren Mindestlohn, bessere Gesundheitsversorgung, höhere Rente, niedrigere Löhne der Abgeordneten und gegen die Straflosigkeit der Politiker und Reichen.
Wie ist es zu erklären, dass die chilenische Linke von dem Ausbruch der Proteste überrollt worden zu sein scheint?
Ich glaube, das liegt hauptsächlich daran, dass es keine starke sozialistische Partei gibt, die erstens nicht schon einmal in einer Koalition war und zweitens eine starke Basisarbeit betreibt.
Parlamentarismus in Chile
Die linken Parteien, die wir haben, konzentrieren sich hauptsächlich auf die parlamentarische Arbeit, so dass Projekte und Kampagnen bei den Aktiven in Santiago und den Regionen hauptsächlich um Wahlen und Kandidaten kreisen.
Aber im Wahlkampf hat man doch haufenweise Kontakt mit Menschen auf der Straße.
Die starke Abhängigkeit von den gewählten Abgeordneten, die mangelnde Basisarbeit und der rigide Fokus auf Parlamentsarbeit führen dazu, dass die meisten linken Parteien die Stimmung und Forderungen in der Bevölkerung jetzt zum Beispiel nicht richtig interpretieren können. Sie sehen das Potenzial einfach nicht. Die Linke ist daher überfordert und hat anfangs versucht, die Forderungen in kleine und momentan irrelevante Reformen zu übersetzen. Nach fast drei Wochen Mobilisierungen fangen die linken Parlamentarier langsam an, an ein Amtsenthebungsverfahren zu denken.
Was sind denn die wesentlichen linken Gruppen und Parteien in Chile?
Ich bin Mitglied des Bündnisses Frente Amplio (FA). Es besteht aus mehreren linken, aber auch liberalen Parteien. Sie haben 20 Abgeordnete im Parlament und einige Bürgermeister. Dann gibt’s noch die sozialistische Partei, die schon mehrmals in der Regierung war und eigentlich Sozialdemokraten sind. Zuletzt gibt’s die kommunistische Partei, die auch Abgeordnete und Bürgermeister besitzt. Sie sind aber schon seit Jahren im Parlament verankert und betreiben eigentlich auch nur parlamentarische Arbeit.
Und wie reagieren diese linken Parteien auf die Proteste?
Die Reaktionen waren zumindest von Seiten der kommunistischen Partei und des Frente Amplio okay. Sie haben sich gegen die Ausgangssperre und Militarisierung ausgesprochen. Leider sind diese Antworten aber nicht ausreichend und das merken die Menschen auch.
Wie positioniert sich die chilenische Linke jetzt gegenüber der Regierung?
Es gibt in Chile ein sehr besonderes Phänomen. Zum Beispiel sprachen vor einigen Tagen einige linke Bürgermeister mit dem Gewerkschaftsdachverband CUT. Es ging darum, einen Dialog der Regierung mit den Massen zu ermöglichen. Als wäre es die Aufgabe der Linke, das Desaster der Rechten wiedergutzumachen. Sie forderten auch einige minimale Reformen. Aber schon die Tatsache, dass der Fokus einiger Parteien auf den Reaktionen der Rechten liegt und nicht auf den Massen, ist erbärmlich.
Was findest Du daran problematisch?
In der chilenischen Linken gibt es die Idee, dass man sich nach außen regierungs- und dialogfähig zeigen muss, um bei den Menschen gut anzukommen. Wobei das bei den Menschen eben nicht so gut ankommt. Da die meisten linken Parteien begierig sind zu regieren, geht es oft einfach darum, sich neutral und nicht radikal zu zeigen.
Proteste gegen Neoliberalismus
Im Moment kommt es aber darauf an, sich klar und hart gegen die Regierung zu stellen und mit ihr auf keinerlei Weise zu kooperieren. Vor allem jetzt, wo die Armee auf den Straßen Menschenrechtsverletzungen begangen hat. Innerhalb des FA gab es sogar eine riesige Diskussion, weil Piñera alle Abgeordneten zu einem Treffen aufgerufen hatte, um Lösungen zu finden. Eine linke Partei des FA wollte unbedingt teilnehmen, denn sie glauben tatsächlich, so Reformen zu erreichen. Das ist ein Armutszeugnis.
Welche Forderungen hältst Du denn für die richtigen?
Wenn man nur die Nachrichten über Proteste in Chile sieht, etwa schon 2011 diejenigen der Studierenden, hat man den Eindruck, dass die Linke in Chile sehr stark und gut organisiert ist. Das ist leider nicht so. Es gibt sehr viele gut organisierte soziale Bewegungen, diese wollen aber leider und auch verständlicherweise nichts von Parteien wissen. Da es also keine zentralisierte linke Kraft gibt, würde ich sagen, dass die besten Forderungen jetzt die Amtsniederlegung von Piñera und der Aufruf zu einer verfassunggebenden Versammlung sind. Es haben sich in einigen Städten Cabildos (Räte) gebildet, die über Feminismus, Ökologie, Produktion, Gesundheit und anderes diskutieren. Das ist ein guter erster Schritt, um der verfassunggebenden Versammlung Kraft zu geben. Viele linke Aktive sind dabei. Leider wollen wiederum einige linke Parteien erst ein Referendum über eine verfassunggebende Versammlung durchsetzen, dabei ist es doch klar, dass wir eine neue Verfassung brauchen. Das wäre meiner Ansicht nach ein Schritt zurück.
Warum eine neue Verfassung?
Die Verfassung stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur und ist entsprechend undemokratisch und neoliberal. Die linken Parteien stehen seit Jahren hinter der Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung. Dass sie jetzt angesichts der Proteste keine einheitliche Forderung ist, zeigt die Schwäche der linken Parteien in Chile. Ich komme also wieder zum vorherigen Punkt: Die chilenische Linke hinkt den Massen hinterher und setzt gleichzeitig den Forderungen eine Bremse. Solch eine Forderung könnte die progressiven Kräfte zusammenbringen und würde das neoliberale System, worum es hier ja eigentlich geht, umwerfen. Die Massen auf den Straßen werden so eine Forderung auch unterstützen. Je länger man wartet, desto größer sind aber die Gefahren, dass die Massen an Kraft und Moral verlieren.
Inwiefern haben sich 40 Jahre Neoliberalismus auf die Linke ausgewirkt?
Durch meine Erfahrung in unterschiedlichen Ländern habe ich festgestellt, dass die Menschen in Chile durch das grausame System oft gezwungen sind, egoistisch und individualistisch zu handeln. Alles ist privatisiert, es gibt kein gemeinnütziges Denken und das hat auch starke Auswirkungen in der linken Praxis. Natürlich sind sich einige Aktivisten dessen bewusst und versuchen, es zu ändern. Ich würde aber sagen, dass die meisten Strukturen oft undemokratisch und sogar hinterlistig funktionieren. Die Entscheidungen kommen oft von oben und Versuche demokratischer Verfahren werden oft nicht wahrgenommen. Das macht die Arbeit erstmal schwer und trägt eben genau dazu bei, dass Menschen Parteien nicht trauen.
Und welche Anzeichen siehst Du für eine Reorganisierung einer lebendigen, in Protesten verankerten antikapitalistischen Linken?
Für linke Chilenen sehe ich eine harte und lange Arbeit voraus. Es braucht viel Geduld und einen radikalen Fokus auf Basisarbeit. Die Parteien brauchen eine starke Basis, um demokratischer und weniger von Kandidaten und Einzelpersonen abhängig zu sein. Nur wenn demokratische Strukturen durchgesetzt und tatsächlich respektiert werden, kann die Linke wieder das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen und wachsen. Außerdem braucht es eine klare sozialistische Linie. Die Linke in Chile hat sich stark dem System angepasst und ist dadurch nach Rechts gerutscht. Solche Möglichkeiten wie die Revolten in den letzten Wochen wird es vielleicht nicht so bald wieder geben.
(Die Fragen stellte Jan Maas.)
Foto: .:nando:. (Auf dem Plakat steht sinngemäß: Der Neoliberalismus ist in Chile geboren und dort wird er auch sterben.)
Schlagwörter: Chile, Lateinamerika, Neoliberalismus, Parlamentarismus, Proteste