Aus kollektivem Schwarzfahren ist eine Protestbewegung entstanden, die ganz Chile erfasst und das Wirtschaftsmodell der letzten 40 Jahre herausfordert. marx21 sprach mit der Abgeordneten Gael Yeomans
marx21: Die aktuellen Proteste haben sich an einer Erhöhung der Fahrpreise für die Metro in der Hauptstadt Santiago entzündet. Von außen betrachtet erscheint diese Erhöhung nicht besonders hoch. Warum hat sie zu derartigen Protesten geführt?
Gael Yeomans: Tatsächlich begann die Mobilisierung mit der Erhöhung des U-Bahn-Tarifs, aber das war eher der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Proteste stehen in Zusammenhang mit den hohen Lebenshaltungskosten, die für Grundbedürfnisse aufzubringen sind, wie Wasser und Strom. Die Strompreise wurden gerade erst erhöht. Dazu kommt, dass es keine garantierten Grundrechte gibt, um überhaupt überleben zu können. Die Gesundheitsversorgung beispielsweise ist ein privatisiertes System, für das man viel bezahlen muss, um es sich leisten zu können. Der Staat ist an dieser Stelle abwesend, wie auch bei der Bildung und den Renten. Für die Renten gibt es private Fonds, aus denen Gewinne entnommen werden, während miserable Renten gezahlt werden. Diese Situation der Ungerechtigkeit ist explodiert und hat zu den großen Mobilisierungen geführt.
Wer hat die Proteste gegen die Erhöhung der Fahrpreise organisiert?
Es gibt nicht die eine spezielle Organisation. Die Menschen gehen auf die Straße für Veränderungen, die von vielen sozialen und linken Organisationen seit Jahren eingefordert werden. Wie das Ende der AFP (des Rentensystems), das Ende des Bildungsmarktes, der Privatisierung unserer Ressourcen, das Ende der Prekarisierung der Arbeit und für eine neue Verfassung.
Welche gesellschaftlichen Gruppen beteiligen sich daran?
Die sozialen Gruppen, aus denen sich die Bewegung zusammensetzt, sind sehr verschieden: Familien, Erwachsene, Kinder und Jugendliche.
Die Berichte in Deutschland sind stark von Bildern der Gewalt geprägt. Sind sie repräsentativ für die Bewegung?
U-Bahn-Stationen sind angesteckt worden, und es gab auch Plünderungen. Meiner Meinung nach hat dies mit dem System zu tun, das ich beschrieben habe, und mit der unangemessenen Reaktion der Regierung auf die Proteste. Sie hat die Lage verschärft und den Konflikt zugespitzt.
Wir waren praktisch eine ganze Woche auf der Straße gewesen. Immer mehr Menschen kamen dazu. Schülerinnen und Schülern benutzten die Metro, ohne sich Fahrkarten zu kaufen. Erst als die Polizei gegen sie vorging, eskalierte die Situation.
Ausnahmezustand in Chile
Nach diesen Ereignissen beschloss der Präsident, den Ausnahmezustand zu verhängen und Militär auf die Straßen zu bringen. Das hat mindestens 15 bestätigte Todesopfer gefordert. Und da spreche ich noch gar nicht von den Verhafteten, den Übergriffen und den Menschenrechtsverletzungen, die während dieser Zeit aufgetreten sind.
Die Proteste haben sich sehr schnell verbreitet. Was sagt das aus?
Sie haben sich über alle Regionen ausgedehnt. Am 23. Oktober hatten wir große Demos an verschiedenen Orten des Landes. Das zeigt, dass es sich um eine soziale Krise auf Landesebene handelt. Diese Proteste sind die größten der letzten 30 Jahre, weil sie einen landesweiten Charakter haben. Sie betreffen nicht nur das Zentrum von Santiago, sondern verschiedene Regionen, Städte und Gemeinden. Auch Mittelschicht protestiert, das geht quer durch die Bevölkerung. Solche Mobilisierungen haben wir seit vor der Diktatur nicht mehr erlebt, so dass wir davon sprechen können, dass dies eine sehr wichtige Krise für Chile darstellt.
Chile gilt als Mutterland des Neoliberalismus. Was bedeuten mehr als 40 Jahre Neoliberalismus für die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der arbeitenden Bevölkerung?
An den Protesten kann man sehen, was für Folgen und Auswirkungen der Neoliberalismus hat. Sie sind absolut negativ für die Menschen. Der Neoliberalismus in Chile ist total extrem: Absolut alles wurde privatisiert, selbst das Wasser. Wir haben keine Gemeingüter mehr, um Grundbedürfnisse zu decken, die nicht privatisiert sind. Dies erzeugt eine Situation, in der jeder Einzelne auf sich gestellt ist und seine eigenen Probleme lösen muss. Was offensichtlich ungerecht ist, denn die Menschen zahlen Steuern, bekommen aber nichts. Dazu kommt, dass wir ein sehr regressives Steuersystem haben, denn fast alle Steuern sind Konsumsteuern, und nicht Einkommenssteuern. Das meiste Geld holt sich der Staat also von der arbeitenden Bevölkerung.
Präsident Sebastián Piñera hat die Erhöhung der Fahrpreise bereits zurückgenommen. Sind die Pläne damit endgültig vom Tisch?
Mir scheint, dass der Präsident versucht, den Forderungen Grenzen zu setzen. Gleichzeitig tritt die Polizei jetzt repressiv auf und wird alle Maßnahmen ergreifen, um die Proteste zu beenden. Seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 hat es keine solche Entscheidung gegeben, das Militär auf die Straßen zu rufen.
Bis jetzt haben wir keine angemessene Antwort auf die Forderungen der Menschen bekommen.
Der Präsident hat zwar eine Art von Maßnahmen signalisiert, aber nichts Genaues. Sie werden auch nicht reichen und sind völlig ungenügend gegenüber den Forderungen, die die Menschen heute gegenüber dem Staat erheben.
Wie hat die Protestbewegung auf Piñeras scheinbares Entgegenkommen reagiert?
Nachdem er die Erhöhung der Fahrpreise zurückgenommen hatte, war die Reaktion der Bewegung nicht ein Rückgang der Proteste, sondern sie wurde sogar noch stärker.
Die Demo am 23. war riesig und stellte Forderungen nach vorne, welche sich strukturell gegen das neoliberale Modell richten.
Bewegung gegen den Neoliberalismus
Das ist jedenfalls das, was hinter den Forderungen steht, obwohl es nicht so gesagt wird, sondern so formuliert wird, dass man mehr Schutz seitens des Staates braucht, dass er mehr mehr Rechte garantieren soll, um nicht alles individuell bezahlen zu müssen, sondern auch etwas vom Staat zu bekommen. Zudem geht es gegen die Ungleichheit.
Wie wird es mit den Protesten weitergehen?
Die Rücknahme der Fahrpreiserhöhung ist ein Sieg, auch wenn sie völlig unzureichend ist, aber es ist ein Erfolg und Erfolge sind wichtig für diese Bewegungen und deren Zukunft. Es zeigt, was möglich ist. Wir werden sehen, wie diese sozialen Bewegungen in soziale Organisationen münden können, um die Forderungen der Gesellschaft aufzugreifen. Es geht einerseits um Politisierung und den Aufbau eines demokratischen Mechanismus der Menschen in der Politik. Andererseits geht es um konkrete strukturelle Maßnahmen.
Ich würde es eine Veränderung der Form nennen, in der der Staat mit den Menschen in Beziehung tritt.
Gibt es Verbindungen zwischen den Protesten jetzt und der Bewegung der indigenen Bevölkerung?
Die indigene Bewegung ist nicht im ganzen Land sichtbar. Aber ich glaube, dass die angestaute Wut der Menschen mit Ungerechtigkeit zu tun hat. Und eine Form davon ist auch der Umgang, den der Staat mit den indigenen Menschen pflegt.
Gibt es Verbindungen zwischen den Protesten jetzt und den letzten Studierendenbewegungen?
Das Unbehagen, das aktuell zum Ausdruck kommt, kam auch schon in den Studierendenmobilisierungen 2006 und 2011 zum Ausdruck. Es gab all die Jahre nur negative Antworten auf ihre Forderungen. 2006 wurde der Konflikt beendet mit einer Vereinbarung, die zwischen Politikern im Hinterzimmer im Kongress geschlossen wurde, die aber nicht erfüllte, was gefordert wurde. 2011 war es die erste Regierung des gleichen Sebastián Piñera, die den Konflikt ebenfalls nicht löste, und nicht auf die Bewegung reagierte. Danach hatten wir die Regierung der Präsidentin Michelle Bachelet, und einer ihrer wichtigsten programmatischen Vorschläge war, etwas für die Bildung zu tun. Auch sie griff zu kurz für den strukturellen Wandel, der gefordert wurde. Eine Stärkung der öffentlichen Bildung herbeizuführen, das ist auch heute eine der wichtigsten Forderungen.
Vielen Dank für Deine Zeit und viel Erfolg!
(Die Fragen stellte Jan Maas. Übersetzung: Franziska Wöckel)
Zur Person:
Gael Yeomans ist Abgeordnete im chilenischen Abgeordnetenhaus und Mitglied der Partei Convergencia Social im linken Parteienbündnis Frente Amplio.
Schlagwörter: Chile, Lateinamerika, Neoliberalismus