Weil sich der Müll in den Straßen von Beirut und anderen Städten des Libanon türmt, protestierten Tausende während des Sommers. Doch mittlerweile geht es nicht mehr nur um das Versagen der Politiker in der Müllkrise. Die Bewegung wächst und in Beirut sprechen einige schon von »Revolution«. Von Nora Berneis
Seit Wochen protestieren Zehntausende wegen des ungelösten Müllproblems im Libanon. Mittlerweile ist aus den spontanen Protesten in den ärmeren Stadtteilen Beiruts und einer kleinen Kampagne von Umweltaktivistinnen und -aktivisten eine breite Bewegung gegen die politischen Eliten geworden. Mit Teilnehmendenzahlen von 30.000 bis 80.000 sind es die größten Proteste seit der Zedernrevolution des Jahres 2005 (zum Vergleich: Gemessen an der Gesamtbevölkerungszahl entspricht das zwischen 650.000 und über einer Million Menschen, die in Berlin auf die Straße gehen). Damals erzwangen die Demonstrationen das Ende der unmittelbaren syrischen Einflussnahme auf die libanesische Politik und den Rückzug der syrischen Truppen aus dem Land. Heute richten sie sich gegen die libanesischen Eliten.
Neben der Entlassung von Umweltminister Mohammed Matschnuk verlangen die Demonstrierenden, dass die Müllentsorgung von der Zentralverwaltung auf die Kommunen übertragen wird. Ferner fordern sie, dass die Verantwortlichen für Gewalt bei vorangegangenen Kundgebungen zur Rechenschaft gezogen werden, allen voran Innenminister Nahad Matschunk. Außerdem kämpfen sie für die Neuwahl von Präsident und Parlament.
Die Korruption stinkt zum Himmel
Die Müllkrise steht exemplarisch dafür, wie libanesische Politiker mit den Nöten der Bevölkerung umgehen. Nachdem die 1997 eröffnete Mülldeponie Naameh im Juli bereits die fünffache Menge ihrer ehemals veranschlagten Kapazität aufgenommen hatte, blockierten Anwohnerinnen und Anwohner die Zufahrt. Sie erzwangen damit die vorläufige Stilllegung. Der Hauptgrund war nicht der Gestank, sondern die von der Deponie ausgehende erhöhte Gesundheitsgefahr und insbesondere das gestiegene Krebsrisiko.
Weil sich aber niemand um eine Alternative bemüht hatte, konnte der Müll aus Beiruts Straßen nicht mehr abtransportiert werden. Als Übergangslösung eröffneten die Kommunalverwaltungen provisorische Deponien unter Brücken, an Berghängen und auf anderen freien Flächen. Einige Lokalpolitiker nutzten diese Situation aus und meldeten Deponien in ihren Kommunen an. Denn für die Müllentsorgung zahlte der Staat bis zu 180 US-Dollar pro Tonne. Doch letztendlich lagerten sie den Unrast dann andernorts ab, ließen ihn verbrennen oder ins Meer kippen.
Ende August lehnte das Kabinett einen Vorschlag des Umweltministers zur Privatisierung der Müllwirtschaft ab. Der offizielle Grund sind die hohen Kosten. Allerdings liegt der Verdacht nahe, dass man sich vor allem uneinig darüber ist, welche Firmen die Verträge bekommen. Üblicherweise werden Regierungsaufträge zu künstlich überhöhten Preisen von Ministern an Firmen vergeben, die ihnen politisch oder verwandtschaftlich nahestehen. Stattdessen versprach die Regierung eine Soforthilfe in Höhe von einhundert Millionen US-Dollar für die verarmte Akkar-Region, in der Hoffnung, dass sich dort eine Deponie finde. Zwei Tage später protestierten auch dort die Bewohnerinnen und Bewohner.
Solche Versuche libanesischer Politiker, sich an den Problemen der Bevölkerung bereichern, stellen keine Ausnahmen, sondern die Regel dar. Umweltverschmutzung, unverhältnismäßig teure Autobahnen und zahlreiche gescheiterte Infrastrukturprojekte sind das Ergebnis. Die öffentliche Infrastruktur ist – insbesondere in armen Gegenden mit mehrheitlich schiitischer und sunnitischer Bevölkerung – völlig unzureichend. Das betrifft sowohl die Wasser- und Stromversorgung als auch den Straßenbau, öffentliche Verkehrsmittel, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen.
Von der Müllkrise zur Massenbewegung
Die Initiative für die »Ihr-Stinkt-Bewegung« (Talaat Richatkun) kam von der gleichnamigen Grassroots-Organisation von Umweltaktivistinnen und –aktivisten aus der Mittelklasse, die sich für Recycling und nachhaltiges Müllmanagement auf kommunaler Ebene einsetzen. Sie kritisierten zwar Korruption und Misswirtschaft und forderten den Rücktritt des Umweltministers, waren aber nicht darauf aus, Proteste gegen das Regime zu provozieren. Bei ihren ersten Demonstrationen tauchten auch Politiker und Vertreter privater Müllfirmen auf, die ihre Lösungsvorschläge kundtun wollten.
Nach dem harschen Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen eine Demonstration Mitte August, die auch zum Bekanntheitsgrad der Bewegung beitrug, schlossen sich immer mehr Menschen an. Die Kampagne wurde zu einer Bewegung, die Basis verbreiterte sich auf die Arbeiterklasse und der Forderungskatalog wuchs. Zwar ist die Müllkrise nicht das größte Problem im Libanon, doch alle Bewohnerinnen und Bewohner Beiruts sind, unabhängig von Religion und Klasse, davon betroffen.
Insgesamt richtet sich die Bewegung gegen Misswirtschaft – wobei von den Teilnehmenden je nach individueller Betroffenheit und politischen Überzeugungen Strom- oder Wasserknappheit, Korruption oder das religiöse Proporzsystem in den Mittelpunkt gestellt wird. Einigkeit besteht in der Ablehnung konfessioneller Spaltungen und der Überzeugung, dass es so nicht weitergehen kann. Daraus ergeben sich einerseits Forderungen nach Neuwahlen und der Abschaffung der Machtteilung nach Religionszugehörigkeit. Gleichzeitig werden radikale Forderungen nach dem Sturz des Regimes lauter und insbesondere Jugendliche aus der Arbeiterklasse, wie auch kleine linke Jugendorganisationen rufen den berühmten Slogan: »Die Menschen wollen den Sturz des Regimes!«
Die Ihr-Stinkt-Bewegung weist in ihrer Geschlossenheit, ihrer Ablehnung von Klassenspaltung, ihrer Breite, ihren Slogans und Forderungen große Ähnlichkeiten zum Arabischen Frühling auf, der im Libanon bislang nicht wirklich Einzug erhalten hatte. Allerdings hat die Bewegung aus den Erfahrungen von 2011 gelernt: Die bloße Forderung nach einem Sturz der Regierung ohne Vorschläge für alternative Regierungs- und Gesellschaftsformen, lehnen viele ab. Bisher hat die Bewegung in dieser Hinsicht keine klare Führung und es wird noch entschieden werden, ob sie sich in eine revolutionäre oder reformistische Richtung entwickelt. Diese Auseinandersetzung, die in den Bewegungen 2011 oft zu kurz kam, bietet eine gewaltige Chance für die libanesische Linke. Zum ersten Mal seit Langem gibt es eine Diskussion über linke Strategien, die verschiedenen Gruppen sind gezwungen über reine Mobilisierung hinaus zu gehen und gesellschaftliche Alternativen zu formulieren. Auch die landesweite nationale Gewerkschaftsvereinigung solidarisierte sich mit der Ihr-Stinkt-Bewegung und rief ihre Mitglieder in einem Statement zur Beteiligung an den Protesten auf. Dass es mindestens eine grundlegende Reformierung des libanesischen Staates braucht, dem stimmen große Teile der Bevölkerung zu.
Der Staat schützt die Privilegien der Eliten
In den Beschreibungen des libanesischen politischen Systems heißt es oft, dass der Staat quasi nicht existiere. Das ist irreführend, denn der Staat funktioniert als Instrument der herrschenden Klasse, zum Schutze ihres Eigentums und ihrer Privilegien viel besser, als in den meisten anderen Ländern. Zustimmung in den unteren Klassen gewinnen die libanesischen Eliten durch die tief verwurzelten Feindschaften zwischen den Bevölkerungsgruppen. Der überkonfessionelle Charakter der Ihr-Stinkt-Bewegung stellt dieses eingefleischte Konzept der Machtsicherung erstmals kraftvoll in Frage.
Nach dem Ende des Bürgerkrieges 1990 transformierten die ehemaligen Warlords ihre Milizen zu politischen Parteien und behielten so ihre Machtstellungen bei. Ihre Unterstützung ergibt sich daher nicht aus politischen Programmen. Die Religionszugehörigkeit und die Verbindungen der eigenen Familie zu bestimmten Milizen im Bürgerkrieg nimmt den meisten Libanesinnen und Libanesen die Wahlentscheidung ab. Seit 2005 gruppieren sich die Parteien in zwei Lager: 8. März und 14. März. Die Parteien im Lager des 8. März, unter ihnen Hisbollah, haben gute Beziehungen zu den syrischen Eliten, werden teils von Iran unterstützt und geben sich anti-imperialistisch.
Auf der anderen Seite steht das pro-westliche, von Saudi-Arabien unterstützte Lager des 14. März, zu dem auch die sunnitische »Zunkunftsbewegung« gehört.
Was beide Lager bisher zusammenhielt, ist das religiöse Proporzsystem. Sowohl die Sitze im Parlament als auch die Regierungsämter werden nach Religionszugehörigkeit vergeben. (Die prozentuale Aufteilung zwischen Christen, Sunniten, Schiiten und Drusen basiert dabei auf einer Volkszählung von 1932. Daraus ergibt sich eine deutliche Überrepräsentation der christlichen Bevölkerung, die ihren relativen Wohlstand innerhalb der libanesischen Klassengesellschaft widerspiegelt und sichert.) Zu Beginn des syrischen Bürgerkrieges verständigten sich 2011 alle Parteien auf die Nichteinmischung. Die Hisbollah überschritt diese Vereinbarung, als sie ihre Truppen zur Unterstützung des Assad-Regimes nach Syrien schickte. Infolgedessen brachen die Machtkämpfe innerhalb der herrschenden Klasse offen aus. Die Abgeordneten können sich seit Mai 2014 nicht auf einen Präsidentschaftskandidaten einigen, denn für dieses Amt kommt verfassungsgemäß nur ein maronitischer Christ infrage, der zwangsläufig zu einem der beiden Lager gehörte. Obwohl die Regierung nur eingeschränkt handlungsfähig ist, haben die Abgeordneten ihre Amtszeiten bereits zweimal verfassungswidrig verlängert, zuletzt bis 2017. Ihre obersten Prioritäten sind: Machterhalt, Zugang zu finanziellen Mitteln und Vorteilen für die jeweils anderen Seite zu verhindern. Die wichtigsten Machtinstrumente – Korruption, Vetternwirtschaft und die Spaltung der unterdrückten Klassen – funktionieren auch so, während außenpolitische Entscheidungen ohnehin innerhalb der Lager getroffen werden. Damit sind die zentralstaatlichen Herrschaftsinstrumente weiter geschwächt, während Politiker und Oligarchen keine Profite einbüßen.
Der Kampf um die Bewegung und in der libanesischen Linken
Die Ihr-Stinkt-Bewegung stellt libanesische Sozialistinnen und Sozialisten vor große Herausforderungen. Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse unterscheiden sich grundlegend von denen in den arabischen Nachbarländern. Im Libanon gibt es keine oppositionelle islamistische Organisation, die bedeutende Teile der Bewegung vereinnahmen könnte. Die Muslimbrüder waren in der Ägyptischen Revolution eine breit anerkannte politische Kraft und die einzigen landesweiten Repräsentanten der sunnitischen Mehrheitsreligion. Im Libanon gibt es keine vergleichbare Kraft, denn die Bevölkerung teilt sich in drei große religiöse Gruppen: Sunniten, Christen und Schiiten.
In der Ihr-Stinkt-Bewegung sind Angehörige aller drei Konfessionen zu etwa gleichen Teilen vertreten und sie alle stellen sich explizit gegen konfessionelles Sektierertum. Jede islamistische Kraft hat in der Ihr-Stinkt-Bewegung mehr Feinde als Sympathisanten. Zwar nimmt die Basis von islamistischen Organisationen, einschließlich der Hisbollah, an den Protesten Teil, doch riskierte sie die eigene Ausgrenzung oder die Spaltung der Bewegung, wenn sie mit einem islamistischen Programm intervenierte. Während sunnitische Islamisten aufspringen können, aber nicht mehrheitsfähig sind, wird die schiitische Hisbollah nicht geduldet. Generell lehnt die Ihr-Stinkt-Bewegung alle etablierten Parteien ab. »Einige kleine Organisationen agieren als Marionetten der Hisbollah in der Bewegung und versuchen Konflikte anzuzetteln, um sie zu zerstören. Aber bisher ist ihnen das aber nicht gelungen«, berichtet Bassil Othman, ein Mitglied der libanesischen revolutionär-sozialistischen Organisation »Linke Bewegung«. Seine Gruppe ist Teil der Proteste. Die Genossinnen und Genossen warnen in ihren Statements auf Facebook davor, dass die Ihr-Stinkt-Bewegung ihre eigenen Ziele verraten könnte, indem sie sich mit einem Austausch der führenden Politiker begnügt. Ein marxistisches Verständnis von Staat und »herrschender Klasse« sind deshalb das Herzstück ihrer Intervention.
Die Linke und »Ihr Stinkt«
Die libanesische Linke ist stark an »Ihr Stinkt« beteiligt, wie Bassil Othman aufzeigt: »Unter den Linken, die sich beteiligen, befinden sich die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei, die nasseristische ›Volkspartei‹, die angeblich der Hisbollah nahesteht, die trotzkistische Organisation ›Sozialistisches Forum‹ (Al Montada Al Ishteraki) und wir von der ›Linken Bewegung‹ (Hirak Jisar). Außerdem gibt es verschiedene kleine linke und anarchistische Gruppen.«
Innerhalb der Ihr-Stinkt-Bewegung formieren diese Organisationen neue Jugendgruppen, die den Charakter von Bündnissen oder Aktionsgruppen haben. Diese Bündnisse sind wichtig, um unorganisierten Jugendlichen, die den Großteil der Bewegung ausmachen, eine Orientierung und politische Plattform zu geben, sie aufzubauen und neue Aktivistinnen und Aktivisten für die langfristige politische Praxis zu gewinnen.
Bassil erklärt: »Jedes Bündnis hat quasi eine politische ›Farbe‹. Hinter der Initiative ›Wir verlangen Rechenschaft‹ (die in libanesischen Medien oft neben ›Ihr Stinkt‹ als Hauptorganisator der Bewegung genannt wird, Anm. d. Red.) stehen die Kommunistische Partei und die nasseristische ›Volkspartei‹. Ebenso gründen auch NGOs, Liberale und Grüne ihre Aktionsgruppen. Das Bündnis, das den revolutionären Linken am nächsten steht, heißt ›die Menschen wollen…‹ (Al-Shaab jurid).«
All diese Bündnisse koordinieren sich gut untereinander, doch Spaltungslinien innerhalb der Linken sorgen zunehmend für Konflikte: Die einen, zu denen auch Bassils »linke Bewegung« gehört, lehnen jede Art des Imperialismus ab und stehen auf der Seite der arabischen Revolutionen. Die anderen stehen auf der Seite der Hisbollah und des Assad-Regimes. Bassil berichtet: »Die Gruppe ›auf die Straße‹ (aa Schaaria) hatte Fotocollagen veröffentlicht, auf denen jeder libanesische Parteivorsitzende in eine Mülltonnen fällt – darunter natürlich auch Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah. Daraufhin wurden nicht nur einige Aktivisten persönlich von der Hisbollah bedroht, zudem ernteten sie Kritik innerhalb der Bewegung: Es sei nicht der richtige Zeitpunkt diesen Konflikt (um die Positionierung zur Hisbollah und damit auch zum Assad-Regime, Anm. d. Red.) zu führen.« Trotzdem haben die Aktivistinnen und Aktivisten der Gruppe sich bei der Großdemonstration wieder klar positioniert. Sie riefen: »Von Bagdad bis Libanon, Revolution überall!« und »Von Duma (Stadt im Süden Syriens, Anm. d. Red.) bis Beirut, ein Volk, das nicht sterben wird.«
Gemessen an der syrischen Einwohnerzahl Beiruts ist ihr Anteil in der Bewegung eher kein, dennoch befinden sich unter den Demonstrierenden auch syrische Aktivistinnen und Aktivisten. Eine Gruppe von Ehrenamtlichen in einer syrisch-palästinensischen NGO, die tagsüber Hilfsprojekte wie den Lebensmittelanbau im abgeriegelten Yarmouk-Camp in Damaskus organisieren, geht abends in Beirut gemeinsam auf die Straße. Abed sagt: »Der Müll ist für uns kein Problem, wir gehen für die Revolution auf die Straße. Es gibt eine neue Hoffnung, dass der Arabische Frühling eine zweite Chance hat. Dieses Mal müssen wir es besser machen.«
Libanon zwischen Krawall und Staatsgewalt
Neben den Konflikten in der Linken hatte zu Beginn der Bewegung auch das Zusammentreffen von Umweltaktivisten aus der Mittelklasse mit frisch politisierten Arbeiterklasse-Jugendlichen für Reibereien gesorgt. Bei den Protesten vor einer Woche warfen einige Jugendliche Müll, Steine und Molotow-Cocktails auf die Sicherheitskräfte. Daraufhin wurden sie als unwillkommene Provokateure von anderen Demonstrierenden aus der Menge ausgeschlossen, zum Teil von der Polizei verprügelt oder festgenommen. Die meisten von ihnen waren jedoch einfach wütende Jugendliche aus den ärmeren Außenbezirken, deren Protestvorstellungen sich nicht mit denen der Umweltaktivistinnen und Aktivisten deckten. Im Nachhinein gestanden die Organisatorinnen und Organisatoren ihren Fehler öffentlich ein und entschuldigten sich für ihr (wörtl.) »klassistisches Sektierertum«.
Allerdings berichten viele libanesische Medien mittlerweile übereinstimmend von einigen bezahlten Krawallmachern der schiitischen, mit Hisbollah verbündeten Amal-Partei (dt.: Arbeiterpartei), die versuchen die Proteste zu diskreditieren. Zurzeit gibt es jeden Abend Kundgebungen in Beirut und nach Einbruch der Dunkelheit immer wieder Attacken auf Polizei und Armee, die brutal durchgreifen. An einem Abend bildeten daraufhin Aktivistinnen und Aktivisten eine schützende Menschenkette um eine Gruppe von Sicherheitskräften. Sie riefen »Friedlicher Protest!« und sangen dann die libanesische Nationalhymne. Bei der Demo am Samstag bekam die Armee sogar Beifall als sie ein riesiges Transparent an einer Hauswand entrollte, auf dem stand: »Wir sind zu eurem Schutz hier!«.
Solche Reaktionen erklären sich weniger durch Nationalismus, sondern hängen mit der allgegenwärtigen Kriegsgefahr zusammen. Der Zusammenhalt der libanesischen Sicherheitskräfte wird als wichtigster Garant für den Frieden dargestellt, der immer wieder durch bewaffnete Konflikte und das Überschwappen des syrischen Bürgerkrieges in den Grenzregionen bedroht ist.
Die Position der revolutionär-sozialistischen »Linken Bewegung« im Libanon ist allerdings eine andere: Sie sehen die Armee nicht als Garant für Frieden, sondern für das Regime. Die Hisbollah ist die dominante Kraft im Staat und auch die Sicherheitskräfte sind in erster Linie als ihr Instrument anzusehen. Eine konfessionell-sektiererische Gruppe, die von einem Teil des Staates unterstützt wird oder ihn kontrolliert, ist eine Bedrohung für den Frieden. Was den Frieden auf nationaler Ebene sichert, ist hingegen eine große, revolutionäre Bewegung.
In den letzten Wochen wurde die Armee von der Hisbollah zur Repression der Ihr-Stinkt-Bewegung eingesetzt. Der einzige Grund, warum die Sicherheitskräfte nicht mehr ganz so brutal vorgehen wie zu Beginn ist, dass die Bewegung so groß geworden ist. Arabische Herrschende haben 2011 gelernt, dass brutale Polizeigewalt gegen eine solche Bewegung zu ihrer Mobilisierung und Radikalisierung beiträgt.
Die Ihr-Stinkt-Bewegung stellt eine große Bedrohung für die herrschende Klasse dar, weil die Bewegung die Trennlinien zerrissen hat, auf denen ihre Macht beruht. Die Hilflosigkeit der Politiker zeigte sich vor einer Woche, als Innenminister Nuhad Maschnuk eine Mauer aus Betonblöcken (die gewisse Ähnlichkeit mit der Berliner Mauer hatte) um die Regierungsgebäude errichten ließ. Einen Tag später wurde sie auf Anweisung des Ministerpräsidenten Tammam Salam wieder entfernt. In der Zwischenzeit hatten Aktivistinnen und Aktivisten die »Mauer der Schande« mit Karikaturen und Aufrufen zur Revolution bemalt.
Vereint gegen den Gestank!
Eine solche Einheit, wie sie die Ihr-Stinkt-Bewegung verkörpert, hätte niemand ausgerechnet im Libanon erwartet. Wenn die Bewegung ihre Mobilisierungskraft behält und sich nicht vereinnahmen lässt, dann werden die Proteste Folgen haben. Allerdings hat der Kampf um die interne Ausrichtung der Bewegung gerade erst begonnen. Sie wird sich wirklich gegen alle Teile der herrschenden Klasse richten müssen, einschließlich Hisbollah. Auch darf sie keinesfalls die Sicherheitskräfte unterschätzen.
Was sie schon jetzt erreicht hat ist, dass libanesische Politiker sich in Zukunft mehr Mühe zur Rechtfertigung ihres Handelns geben müssen. Ob sie allerdings so großen Druck aufbauen kann, dass das Proporzsystem verändert oder sogar die Regierung gestürzt wird, hängt von ihren Mitteln und der Einigkeit in ihren Forderungen ab. Es liegt an den libanesischen Aktivistinnen und Aktivisten, ob sie es schaffen, linke und revolutionäre Forderungen innerhalb der Bewegung zu etablieren. Und es liegt an den Gewerkschaften ihre Solidarität auch mit ökonomischen Druckmitteln zu unterstreichen. Ob man hier schon von einem neuen Arabischen Frühling oder einem Libanesischen Herbst sprechen kann, bleibt abzuwarten.
Falls es zur Revolution kommt, wird sie grundlegend anders verlaufen als 2011 in den Nachbarländern, denn weder eine islamistische Kraft, noch eine etablierte politische Partei kann die Führung übernehmen. Es bedarf daher einer neuen politischen Kraft, die sich nur aus der Bewegung selbst formieren kann.
Bisher ist die wichtigste Errungenschaft der Bewegung die Erkenntnis, dass es sich lohnt für die eigenen Ziele zu kämpfen und die gesellschaftlichen Spaltungen zu überwinden. Die Libanesinnen und Libanesen haben sich aus der Schockstarre der politischen Frustration befreit, die sich nach den herben Niederlagen der Arabellionen in der gesamten Region breitmacht. Sofern sie (Teil-)Erfolge erreicht und nicht mit Waffen niedergeschlagen wird, könnte die Bewegung für Aktivistinnen und Aktivisten in der Region einen neuen Hoffnungsschimmer aufzeigen.
Foto: Victor Choueiri / CC BY-NC
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