2011 begann in Syrien eine Revolution gegen das diktatorische Regime unter Präsident Baschar Assad. Dieser reagierte mit brutaler militärischer Gewalt. Er trieb das Land in einen nicht enden wollenden Bürgerkrieg. Der dschihadistische „Islamische Staat“ (IS) konnte diese Situation nutzen und hat Gebiete des Landes unter seine Kontrolle gebracht. Nun droht US-Präsident Obama mit Luftangriffen.
Gibt es zu diesem düsteren Szenario eine Alternative? Der syrische Revolutionär Joe Daher* hat auf dem Kongress „Marx is Muss 2014“ im vergangenen Juni beschrieben, dass es neben dem IS und dem Regime nach wie vor Kräfte in Syrien gibt, auf die sich die Linke orientieren kann. Wir dokumentieren Auszüge aus seinem Vortrag.
Seit nunmehr fast drei Jahren hat die Mehrheit der Beobachter den syrischen revolutionären Prozess durch ein geopolitisches und konfessionelles Prisma analysiert. Diese Sichtweise blickt auf die Gesellschaft von oben. Dabei wird die von unten, vom Volk ausgehende politische und sozioökonomische Dynamik ignoriert. In dieser Lesart wird der Konflikt in Syrien auf zwei sich gegenüberstehende Lager reduziert: die westlichen Staaten und die Golf-Monarchien auf der einen Seite; Iran, Russland und die libanesisch-schiitische Hisbollah auf der anderen. Die Gefahr einer westlichen Intervention hat diese Wahrnehmung noch verstärkt.
Aber wir lehnen es ab, zwischen diesen beiden Lagern zu wählen; wir lehnen die Logik des „geringeren Übels“ ab, die nur zur Niederlage der syrischen Revolution und ihrer Ziele führen wird: Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Absage an religiöse Spaltung.
Die syrische Revolution ist immer noch sehr lebendig, aber sie ist von vielen Gefahren bedroht und konterrevolutionäre Kräfte sind gegen sie am Werk.
Die bedeutsamste Kraft der Konterrevolution sind die bewaffneten Kräfte des Regimes unter Baschar Assad und seine Verbündeten. Assads Regime ist in der Lage gewesen, die Initiative auf militärischem Gebiet zurückzuerlangen. Dies wurde jüngst sichtbar an der Eroberung von Yabrud im März 2014. Die militärische Überlegenheit des Regimes ist hauptsächlich auf die Unterstützung seiner Verbündeten zurückzuführen. Iran und Russland haben das Assad-Regime militärisch, politisch und ökonomisch massiv unterstützt.
Zum Beispiel gewährte Iran dem Assad-Regime im Juli 2013 einen Kredit von 3,6 Milliarden Dollar. Im Dezember 2013 unterzeichnete das russische Öl- und Gas-Unternehmen Soyuzneftegaz ein Abkommen mit Syriens Öl-Ministerium zur Erschließung einer über 2.190 Quadratkilometer großen Erdöl-Lagerstätte vor der syrischen Mittelmeerküste. Im Januar 2014 erhöhte Russland den Lieferumfang von militärischer Ausrüstung an das syrische Regime, einschließlich Panzerkraftwagen, Drohnen und ferngesteuerte Bomben.
Wir sollten auch nicht den steigenden Anteil auf militärischem Gebiet, insbesondere der libanesisch-schiitischen Hisbollah und irakisch-schiitischen Milizen auf der Seite des Regimes vergessen. Die Anzahl ausländischer schiitischer Kämpfer an der Seite des Assad-Regimes wurde zu Beginn des Jahres auf 40.000 geschätzt.
Die Hisbollah hat ihre Beteiligung am Krieg ständig erweitert, angefangen mit Interventionen im Frühjahr 2012, die meist an der Grenze zwischen Libanon und Syrien stattfanden. Seit Mai 2013 agierte die Hisbollah als Speerspitze für eine Offensive gegen Kusseir und Homs. Schließlich war sie die treibende Kraft bei der Besetzung der Stadt Yabrud, wodie Truppen des syrischen Regimes nur eine unterstützende Rolle spielten.
Die Streitkräfte des Assad-Regimes und ihre Verbündeten bleiben die wichtigste konterrevolutionäre Kraft. Aber der Einfluss der dschihadistischen reaktionären Kräfte, die den Zielen der Revolution entgegenstehen und eine neue Diktatur aufbauen wollen, ist ebenfalls gewachsen, besonders auf militärischem Gebiet. Sie werden massiv finanziert von privaten und staatlichen Sponsoren der reaktionären Golfstaaten.
Diese islamistischen Kräfte bilden jedoch kein geeintes Lager. Unterschiede und sogar Gegensätze existieren. Dies wurde besonders Anfang des Jahres deutlich, als ein Volksaufstand gegen die Miliz des Islamischen Staats in Irak und Syrien (ISIS, heute „Islamischer Staat“) ausbrach. Alle anderen Kräfte, darunter islamische Gruppen, haben ISIS militärisch bekämpft.
Volkskomitees, Wahlen und Zivilverwaltung
Das Assad-Regime und ISIS eint ihre Feindschaft gegen die Revolution. Wie ist diese Revolution organisiert? Seit Beginn der Revolution sind die Volkskomitees auf Dorf-, Stadt- und Regionalebene die wichtigste politische Organisationsform. Die Volkskomitees waren die wirklichen Speerspitzen der Bewegung, die die Menschen zum Protest mobilisierten. Danach entwickelten die Regionen, die sich vom Regime befreit hatten, Formen der Selbstverwaltung auf der Basis von Massenorganisationen.
Neu aufgebaute Zivilverwaltungen haben in vielen der vom Regime befreiten Regionen den zusammengebrochenen Staat ersetzt. Sie organisieren Schulen, Krankenhäuser, Straßenbau, Wasserversorgung, Elektrizität und Kommunikation. Diese Zivilverwaltungen wurden entweder durch Wahlen oder Konsensentscheidungen eingesetzt. In den Regionen, Nachbarschaften und Dörfern der befreiten Zonen fanden in diesem Zusammenhang überhaupt das erste Mal seit vierzig Jahren freie Kommunalwahlen statt. Das war zum Beispiel in der Stadt Deir ez-Zor im Februar 2013 der Fall.
Die Bildung dieser Gemeinderäte reflektiert das Verantwortungsbewusstsein und die Fähigkeit der Einwohner, Eigeninitiative zu ergreifen, um ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. … Das bedeutet nicht, dass diese Gemeinderäte nicht auch Defizite haben, wie z. B. die mangelnde Beteiligung von Frauen oder von bestimmten Minderheiten. Es geht nicht darum, die Realität zu beschönigen, sondern Tatsachen darzustellen.
Ein weiteres, ebenso wichtiges Element in der Dynamik der Revolution ist das Aufblühen eines unabhängigen Pressewesens durch die Volksorganisationen. Die Anzahl der Zeitungen stieg von drei vor der Revolution – alle in den Händen des Regimes – auf mehr als sechzig. Sie werden von zivilen Gruppen herausgebracht.
In der Stadt Deir ez-Zor starteten lokale Aktivisten im Juni eine Kampagne, die die Einwohner dazu aufruft, die Praktiken der Gemeinderäte zu kontrollieren und zu dokumentieren. Die Kampagne steht für die Verankerung einer Kultur der Menschenrechte in der Gesellschaft.
Das Beispiel von ar-Raqqa
Ein herausragendes Beispiel der Selbstverwaltung der Massen bietet die Stadt ar-Raqqa . Ar-Raqqa ist die einzige Provinzhauptstadt, die seit März 2013 vollständig vom Regime befreit wurde, bevor ISIS sie besetzt hat.
In den ersten Monaten nach der Befreiung der Stadt war ar-Raqqa vollständig autonom. Ungeachtet des fortdauernden Beschusses durch die Regierungstruppen organisierte die lokale Bevölkerung alle Dienstleistungen für die Gemeinschaft.
Volksorganisationen, die oft von jungen Leuten angeführt wurden, entwickelten sich schnell und vervielfachten sich. Ende Mai 2013 waren mehr als 42 soziale Bewegungen offiziell registriert. Diese organisierten verschiedene Kampagnen. Die „revolutionäre Fahne repräsentiert mich“-Kampagne bestand darin, die revolutionäre Fahne in den Nachbarschaften und Straßen der Stadt zu malen, um sich dem Versuch der Islamisten zu widersetzen, allen die schwarze Fahne des Dschihadismus aufzuzwingen. An der kulturellen Front wurde Anfang Juni ein Stück, das Assads Regime verspottet, im Stadtzentrum aufgeführt.
Kulturorganisationen führten Ausstellungen für Kunst und lokales Handwerk durch. Zentren wurden eingerichtet, um Jugendlichen Beschäftigungsmöglichkeiten zu verschaffen und die psychischen Schäden aus dem Krieg zu behandeln. Prüfungen für das syrische Abitur wurden im Juni und Juli von Freiwilligen organisiert. Diese Erfahrungen der Selbstverwaltung lassen sich in vielen befreiten Regionen finden.
Es ist wichtig anzumerken, dass Frauen in diesen Bewegungen und bei den Protesten im Allgemeinen eine wichtige Rolle spielen. Zum Beispiel wurde am 18. Juni 2013 in der Stadt ar-Raqqa ein Massenprotest vor dem Hauptquartier der dschihadistischen Dschabhat an-Nusra von Frauen angeführt. Die Protestierenden forderten die Freilassung von Gefangenen. Sie riefen Slogans gegen Dschabhat an-Nusra und verurteilten deren Aktionen. Die Demonstranten zögerten nicht, jene Parole zu rufen, die ganz am Anfang der Revolution in Damaskus im Februar 2011 gerufen wurde: „Das syrische Volk weigert sich, erniedrigt zu werden“.
Die Gruppe „Haqquna“ („Unser Recht“), der viele Frauen angehören, hat auch viele Versammlungen gegen islamistische Gruppen in ar-Raqqa organisiert. Eine ihrer Parolen ist: „Ar-Raqqa ist frei! Nieder mit Dschabhat an-Nusra!“.
Während des Sommers 2013 wurden Solidaritätsversammlungen abgehalten, die die Freilassung von entführten Aktivisten aus islamistischen Gefängnissen forderten. Die Proteste erreichten die Befreiung einiger Aktivisten, aber andere sitzen bis heute im Gefängnis, wie z. B. der berühmte Pater Paolo. Oder auch Firas, der Sohn des Schriftstellers und Dissidenten Saleh.
Im September 2013, nach einem Angriff von ISIS auf die Kirche Mariä Verkündigung in ar-Raqqa, organisierten Jugendgruppen und Aktivisten eine Demonstration, in der sie den Angriff von ISIS verurteilten. Sie schwenkten ein großes Kreuz in Solidarität mit der syrischen christlichen Gemeinde der Stadt. In einer öffentlichen Stellungnahme forderten sie „Respekt für alle Religionen. Christen und Muslime sind eins. Wir haben als Brüder gelebt und wir werden als Brüder leben. Die Menschen, die diese Taten begangen haben, repräsentieren nur sich selbst; die islamische Religion ist nicht daran schuld.“
Gegen religiöse und säkulare Unterdrücker
Ähnliche Proteste, die die autoritären und reaktionären Praktiken der Islamisten angriffen, fanden unter anderem in Aleppo, al-Mayadin, al-Kusair und Kafranbel statt.
In der Nachbarschaft Bustan al-Qasr, in Aleppo, hatte die lokale Bevölkerung mehrfach gegen die Aktionen der Scharia-Verwaltung von Aleppo protestiert, die viele islamistische Gruppen umfasst. So haben Demonstranten am 23. August 2013 in Bustan al-Qasr, während sie die Giftgasangriffe des Regimes auf die Menschen in Ost-Ghouta [Umland von Damaskus] verurteilten, auch die Freilassung des berühmten Aktivisten Abu Maryam gefordert. Sie fordern bis zum heutigen Tag seine Freilassung. Ende Juni 2013 skandierten die Aktivisten in der gleichen Nachbarschaft „Scheiß auf den Islamischen Rat“ und protestierten gegen deren repressive und autoritäre Politik.
Massenhaft wurde Empörung geäußert, nachdem ausländische Dschihadisten des ISIS einen vierzehnjährigen Jungen ermordet hatten, der einen Witz über den Propheten Mohammed gemacht haben soll. Das Volkskomitee von Bustan al-Qasr organisierte Proteste gegen den Islamischen Rat und die islamistischen Gruppen. Die Aktivisten riefen: „Was für eine Schande, was für eine Schande, die Revolutionäre sind Schabiha geworden.“ Mit Schabiha bezeichnen die Syrer geheime Einheiten des syrischen Regimes.
Es gibt wöchentlich Freitagsdemonstrationen. Die LKK, die für die Revolution eine wichtige informative, aber auch unterstützende Rolle spielen und Essen, Waren und Dienstleistungen für Einwohner und Flüchtlinge bereitstellen, gaben am 28. Juli 2013 eine Stellungnahme heraus, in der das Regime und der Dschihadismus angegriffen wird. Sie trägt den Titel: „die Tyrannei ist dieselbe, ob im Namen der Religion oder des Säkularismus“…
Im September 2013 stellten sich elf zivile Gruppen, die die organisierten Strukturen der Revolution im Großgebiet von Damaskus repräsentieren, geschlossen hinter Razan Zaitouneh, eine Schlüsselfigur der Basisbewegung der Revolution. Die 36-jährige Rechtsanwältin wurde von Mitgliedern bewaffneter dschihadistischer Splittergruppen in Ost-Ghouta in Damaskus bedroht, belästigt und später entführt. Ein Aktivist erklärte: die Angriffe fanden allein deshalb statt, weil sie eine „unabhängige und unverschleierte Frau ist, die zu den Führungskadern der Basisbewegung unserer Revolution gehört“.
Im Januar 2014 fanden an vielen Orten Demonstrationen gegen ISIS statt und forderten ihren Abzug. Sprechchöre wie „Assad und ISIS sind eins“ oder „ISIS raus“, waren überall zu hören – obwohl ISIS in diesen Orten mit präsent war. In Aleppo riefen Demonstranten „Unsere Revolution richtet sich gegen alle Unterdrücker“ oder „Das syrische Volk wird sich nie unterwerfen“. [Diese Proteste gingen mit einem bewaffneten Aufstand einher, der ISIS aus Aleppo und anderen Orten vertrieb.]
Im Mai wurde in der Stadt Minbidsch ein Generalstreik durchgeführt, um gegen die Aktionen und die Besatzung durch ISIS zu protestieren. Eine Kampagne wurde innerhalb und außerhalb Syriens für die Freilassung der von Dschihadisten entführten Aktivisten Razan Zaitounah, Wael Hamadeh, Samira Khalil und Nazem Hammadi zu fordern. Demonstrationen wurden in verschiedenen Städten des Landes durchgeführt, auch in den Stadtteilen Duma und Salah ad-Din in Damaskus, wo die Protestierenden unter einem großen Banner mit der Aufschrift „Wer Revolutionäre entführt, ist ein Verräter“ marschierten.
Dritter Jahrestag der Revolution
Am 14. März wurden im ganzen Land viele Demonstrationen abgehalten, um den dritten Jahrestag der Revolution zu feiern, und in verschiedenen befreiten Gebieten wurden diverse Kampagnen organisiert. Das Motto war: „Es ist ein Volksaufstand und kein Bürgerkrieg«.
In Aleppo verteilten Aktivisten in den vom Regime kontrollierten Stadtteilen Flugblätter. Darin erklärten sie, dass die Revolution bis zum Sieg, bis zum Niedergang des Regimes weitergehen wird. Dies war Teil der Kampagne „Unser Widerstand geht weiter – trotz der Gewalt des Regimes“. Im freien Gebiet von Aleppo fanden Veranstaltungen statt, darunter eine Ausstellung mit Bildern und Zeichnungen von Kindern zum Andenken an die Märtyrer der Revolution, außerdem eine Theateraufführung über die Geschichte der Revolution.
Die Vereinigung der Freien Syrischen Studenten startete eine Kampagne unter dem Titel: „Schmerz und Hoffnung: Die Revolution geht weiter“. Auch in kurdischen Orten wie Amouda, Afrin und Qamichli fanden Veranstaltungen statt, im Gedenken an die zehn Jahre der kurdischen Intifada, die am 12. März 2004 begann. Am 8. März begann die Gruppe „Syrische Frauen-Initiative“ eine Kampagne, die einen demokratischen und pluralistischen Staat fordert, in dem die Rechte der Frauen garantiert sind.
Schlussfolgerung
Ein im Dezember 2013 in der Stadt Kafranbel erhobenes Banner fasste die Situation der syrischen Revolution sehr gut zusammen: „Wir haben viele Feinde… aber die Revolution ist vereint … und geht weiter“.
Trotz der Schwierigkeiten, der vielen Gefahren und Bedrohungen, der Toten und Zerstörungen geht das syrische Volk weiter auf seinem Weg hin zu Freiheit und Würde. Ein Banner drückte es am 14. März so aus: „Drei Jahre voller Hunger und Leiden, aber auch drei Jahre voller Stolz und Würde“. Diese vergangenen drei Jahre haben für das syrische Volk eine neue Ära eröffnet.
Es geht darum, eine dritte radikale Bewegung aufzubauen, die gegen Assad-Regime und Dschihadisten, aber für Demokratie und soziale Gerechtigkeit kämpft. Es kann keine Lösung erzielt werden, wenn soziale Forderungen von demokratischen Forderungen getrennt oder diesen untergeordnet werden. Beide gehen Hand in Hand.
Die syrische Revolution geht weiter, trotz aller Bedrohungen.
Übersetzung von Gabi Engelhardt
Foto: FreedomHouse
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