Tausende Demonstrierende fordern einen radikalen politischen Wandel im Libanon. Doch die Herrschenden weigern sich, gemeinsam mit den imperialen Großmächten das religiös-sektiererische System abzuschaffen und sie arbeiten daran, die Krise auf die Bevölkerung abzuwälzen. Zum Jahrestag der libanesischen Oktoberrevolution ein Beitrag von Karim Khoury
»Revolution! Revolution! Revolution!«, die wuterfüllten Rufe von Tausenden Demonstrierenden durchdringen wieder einmal die Straßen im Libanon. Seit Herbst 2019 können die Regierenden die Protestbewegung der Menschen, die sie »Oktoberrevolution« nennen, nicht mehr zum Schweigen bringen. Die Bewegung trotzte der massiven Repression seitens der Polizei und des Militärs sowie den Angriffen von Milizen der Hisbollah und der Amal-Bewegung.
Nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Saad Hariri im Oktober 2019 und der Neubesetzung der Ministerien unter Premierminister Hassan Diab im Januar 2020 flachten die Proteste zwar ab. Doch im Frühjahr und Sommer 2020 gewann die Bewegung trotz Ausbruch von Covid-19 und der einhergehenden staatlich angeordneten Ausgangssperre wieder an Dynamik. Nach der Explosion im Hafen von Beirut Anfang August 2020, mit mehr als 190 Toten und rund 6000 Verletzten, brach sich die Wut erneut Bahn: Menschen errichteten Blockaden, verbarrikadierten das Parlament, nahmen Ministerien ein und forderten die Auflösung der Regierung. Nach sechs Tagen anhaltender Proteste verkündete die Regierung unter Hassan Diab, nach nicht einmal einem Jahr im Amt, ihren Rücktritt.
»Alle heißt Alle«
Die Menschen im Libanon begehren auf gegen ein neoliberales, ausbeuterisches System, das ihnen öffentliche Räume, Bildung, Arbeitsplätze, Ersparnisse, Renten, soziale und politische Teilhabe raubt. Das an konfessionellen Linien ausgerichtete Herrschaftssystem aus der französischen Kolonialzeit wollen sie abschaffen. Die gesamte politische Klasse soll aus der Regierung verbannt werden. Die allbekannte Parole »Alle heißt Alle« richtet sich nicht nur gegen die etablierten Parteien, sondern auch gegen die Hisbollah.
Hintergrund der anhaltenden Protestbewegung ist, dass die Herrschenden die verheerenden sozialen Auswirkungen der Wirtschaftskrise nicht unter Kontrolle bekommen. Die libanesische Wirtschaft befindet sich nach Jahren der Stagnation und einer schweren Krise des Bankensystems im freien Fall. Das Ausmaß des Elends, das den einfachen Menschen bereits zugefügt wurde, ist immens. Ende Juli warnte Save the Children, dass sich fast eine Million Menschen im Großraum Beirut in einer Situation befinden, in der die Grundbedürfnisse nicht gedeckt werden können. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Kinder. »Wir werden noch vor Ende des Jahres damit beginnen, Kinder an Hunger sterben zu sehen«, sagte Jad Sakr, der amtierende Landesdirektor der Wohltätigkeitsorganisation, gegenüber Reportern.
Die Explosion im Hafen von Beirut hat die Situation weiter verschärft. Hunderttausende in der Hauptstadt sind obdachlos, zusätzliche 70.000 Arbeiterinnen und Arbeiter verloren ihren Job und damit ihr Einkommen. Außerdem wurde das größte Getreidesilo des Landes zerstört.
Armut, Hunger und Widerstand
Die Vereinten Nationen (ESCWA) schätzen: Mehr als die Hälfte der libanesischen Bevölkerung kann Ende des Jahres ihre Nahrungsmittelgrundversorgung nicht mehr sicherstellen. Durch die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte ist der Libanon auf den Import von jeglichen Grundgütern angewiesen. Nahrungsmittelimporte machen 85 Prozent der Lebensmittelversorgung aus. Mehr als 55 Prozent der libanesischen Bevölkerung ist in Armut gefangen und kämpft um das Allernötigste. Die Preise für Fleisch- und Milchprodukte haben sich in den letzten Monaten verdrei- bis vierfacht, die Trinkwasserpreise wurden verdoppelt, während die Lebensmittelpreise täglich steigen und die ohnehin schon rationierte Elektrizitätsversorgung sich in weiten Teilen des Landes auf mittlerweile drei Stunden am Tag beschränkt.
Im Libanon zeigen sich klassische Merkmale einer revolutionären Situation: Die Beherrschten wollen nicht mehr und die Herrschenden können nicht mehr so weitermachen wie bisher. Die Oktoberrevolution, die sich vertiefende Wirtschaftskrise, der Finanzcrash und die daraus resultierende weitere Verarmung der Mehrheit der Bevölkerung haben die Autorität und Legitimität der herrschenden Elite und die althergebrachten religiös-klientelistischen Beziehungen geschwächt. Doch es gibt keine Garantie dafür, dass in dieser Situation die Massenbewegungen von unten zu einer tieferen und dauerhafteren Konfrontation mit der herrschenden Klasse angespornt wird. Noch fehlt es der Bewegung an Einheit und Radikalität. Sie hat nur in embryonaler Form demokratische Institutionen der Bewegung entwickelt – Arbeiterinnenräte, Nachbarschaftskomitees, breite Widerstandsorganisationen. Ebenso gibt es noch keine in der Arbeiterklasse und der Protestbewegung verankerte organisierte revolutionäre Führung.
Imperiale »Stabilisierung«
Unter diesen Bedingungen versucht die herrschende Elite ihre Köpfe zu retten. Gleichzeitig üben die ehemalige Kolonialmacht Frankreich und andere imperiale Großmächte ihren Einfluss aus, um »Ordnung« und »Stabilisierung« nach ihrem Interesse herzustellen. Nach der Explosions-Katastrophe reiste, als einer der Ersten, der französische Präsident Emmanuel Macron nach Beirut. Er erklärte, wie die »Welt« das Vertrauen in die herrschende Elite des Libanon verloren habe und warnte selbige eindringlich, dass ernsthafte »Reformen« innerhalb weniger Monate umgesetzt werden müssten, andernfalls riskiere die libanesische Regierung Strafmaßnahmen, einschließlich Sanktionen. Es sei »die letzte Gelegenheit für das System«. Im Gepäck hatte der französische Präsident dann noch eine Machtdemonstration: Während seiner Rede bei seinem zweiten Besuch innerhalb eines Monats überflogen französische Kampfjets in Formation das libanesische Staatsgebiet: Sie versprühten die Farben der libanesischen Flagge. Die Vertreter anderer »westlicher« Länder stoßen ins selbe Horn. Frankreich, USA, Deutschland und Großbritannien bieten »Hilfe« beim Wiederaufbau an. Doch die Hilfe ist geknüpft an harte Bedingungen.
Macron gibt nicht mal vor, das religiös-klientelistische System im Libanon beenden zu wollen und stellt sich damit gegen die Protestbewegung. Das System wurde von Frankreich selbst eingeführt, um die Kontrolle über seine Kolonie aufrechtzuerhalten.
Gleichzeitig ist das libanesische politische Proporzsystem tief in den wirtschaftlichen Strukturen des Landes verwurzelt. Große Teile der herrschenden politischen Elite sind gleichzeitig auch direkt in Wirtschaftstätigkeiten involviert. Der ehemalige Ministerpräsident Saad Hariri ist Generaldirektor von Saudi Oger, einem Mischkonzern mit 35.000 Angestellten. Er gilt als einer der jüngsten Milliardäre und steht auf der Forbes-Liste der reichsten Menschen der Welt. Hariri besitzt zahlreiche Beteiligungen an Konzernen der arabischen Welt und wird seit Jahrzehnten vom Elysée Palast gestützt. Die Beziehungen der politischen Klasse zum Bankensektor sind im Libanon besonders ausgeprägt. Der Ökonom Jad Chaaban von der Amerikanischen Universität Beirut zeigte in einer 2016 veröffentlichten Studie auf, dass die Hauptaktionäre von 18 der 20 größten Banken des Landes im Jahr 2014 enge Verbindungen zu Politikerinnen und Politikern hatten. In 15 dieser 20 Banken waren die Vorstandvorsitzenden selbst oder mit ihnen Verbündete in der Politik aktiv. 43 Prozent der Vermögenswerte standen unter politischer Kontrolle.
Wer bezahlt die Krise?
Macron stellt dieses System nicht grundsätzlich infrage. Gleichzeitig ist klar, was Macron und die anderen westlichen Politikerinnen und Politiker meinen, wenn sie von »Reformen« sprechen. In den letzten Jahren hat der IWF auf massive Kürzungen im Staatshaushalt bestanden: Lohnkürzungen für die Beschäftigten des öffentlichen Sektors, Einstellungsstopp, Abschaffung der Stromsubventionen, Mehrwertsteuererhöhungen und Rentenkürzungen waren die Folge. Der IWF und die mit ihm verbundenen imperialistischen Länder wollen die Arbeiterinnen und Armen für die Krise ihres Systems bezahlen lassen.
Dieser Beitrag ist eine Vorabveröffentlichung aus dem neuen marx21-Magazin mit dem Titel: »Alle reden vom Regieren. Wir nicht.« (Das Heft erscheint am 20. Oktober 2020). Bestelle jetzt Dein Jahresabo und Du erhältst die neue Ausgabe inklusive toller Prämien frei Haus
Nach Aussage des im Juni zurückgetretenen Generaldirektors des Finanzministeriums, Alain Bifani, gegenüber dem in Beirut beheimateten Thinktank »Carnegie Middle East Center« sind bis zu sechs Milliarden US-Dollar außer Landes gebracht worden, während die »normale« Bevölkerung nicht mehr als 100 US-Dollar pro Monat von ihren Konten abheben durfte.
Es ist nicht die Korruption, die das Land in den Bankrott trieb. Das war die Folge des Neoliberalismus, in dessen Rahmen die Wirtschaft Libanons globalen Institutionen wie dem IWF und der Welthandelsorganisation zum Opfer fiel.
Gesellschaftliche Spaltungen überwinden
In manchen Beschreibungen des libanesischen politischen Systems heißt es, dass der Staat nicht funktioniere. Das ist irreführend, denn der Staat funktioniert als Instrument der herrschenden Klasse im In- und Ausland, zum Schutze ihres Eigentums und ihrer Privilegien sehr wohl. Zustimmung in den unteren Klassen gewinnen die libanesischen Eliten durch Spaltung der Bevölkerungsgruppen entlang der Religion. Schiiten, Sunniten, Christen und Drusen wählen, zementiert durch das Abkommen von Taif aus dem Jahr 1989, nur ihre jeweiligen religiösen Vertreterinnen und Vertreter der insgesamt 18 Konfessionen im Libanon in die Regierung. Sowohl die Sitze im Parlament als auch die Regierungsämter werden nach Religionszugehörigkeit vergeben. Weil die konfessionelle Zugehörigkeit damit auch im politisch-institutionellen Rahmen in Stein gemeißelt ist, fällt die gesellschaftliche Spaltung den Machthabern im Libanon besonders leicht.
Doch im Zuge der Protestbewegung sind die eigentlichen Klassenspaltungen viel deutlicher geworden. Weder Macron noch irgendeine andere imperialistische Macht haben ein wirkliches Interesse an einem politischen Wandel, der die Bedürfnisse der Menschen im Libanon ins Zentrum stellt. Es sind dieselben Mächte von Innen und Außen, die seit Jahrzehnten die Kriegsherren, Bankiers und Politiker im Libanon unterstützen, mit einem sich ständig wandelnden Geflecht von Loyalitäten. Der Status quo im Libanon ist auch darauf zurückzuführen, dass diese Mächte um die Kontrolle des Landes wetteifern. Die Bewegung kann von ihnen keine Unterstützung erwarten, denn das käme einem Pakt mit dem Teufel gleich. Das Ausmaß der Mobilisierung und des Widerstands von unten und die politischen Formen, die dieser Widerstand angenommen hat, zeigen, dass immer mehr Menschen im Libanon zu begreifen beginnen, dass das Problem bei der herrschenden Klasse als Ganze liegt. Es mehren sich die Stimmen, dass die Krise nicht einfach dadurch gelöst werden kann, dass das eine oder andere Mitglied des Parlaments durch weniger korrupte und gewalttätige Alternativen ersetzt wird. Einer der Sprechchöre, die die Menschenmengen im Libanon skandierten, fasst dies treffend zusammen: »Wir sind die Revolution des Volkes, ihr seid der Bürgerkrieg!«
Schlagwörter: Imperialismus, Libanon