Angela Merkel tröstet ein weinendes Flüchtlingskind. So viel Menschlichkeit hat auch marx21-Redakteurin Nora Berneis berührt. Umgehend hat sie der Kanzlerin einen Brief geschrieben
Liebe Frau Merkel,
Bestimmt würden Sie sich gern verkriechen und sich erstmal von dem gestrigen Shitstorm erholen. Ich hätte da einen Vorschlag: Wie wäre es mit einer Rundreise durch die schönen palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon? Nebenbei könnten Sie sich schon mal nach einem neuen Zuhause für Reem umschauen, den kleinen Fauxpas wieder gut machen und Flüchtlinge streicheln so viel Sie wollen.
Vielleicht möchten Sie zuerst Schatila besuchen, denn das ist wohl das bekannteste Camp. Die Geschichte von Sabra und Schatila können Sie sich dort aus erster Hand erzählen lassen. Sie ist so traurig, dass sie sicherlich viele Gelegenheiten für Streicheleinheiten beschert.
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Die Geschichten aus dem libanesischen Bürgerkrieg (1975–1990) sind immer traurig. Aber damit man jeden mal streicheln kann, werden sie von den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen immer anders erzählt. Die palästinensische Erzählweise ist eine besondere, denn hier sind die Palästinenser ausnahmsweise mal nicht Schuld am Bürgerkrieg. In den anderen Versionen sind sie es. Denn das erleichtert es den Menschen im Libanon, den Palästinensern Berufsverbote zu erteilen, ihnen zu verbieten, Grundstücke außerhalb der Camps zu besitzen, und sie auf verschiedene andere Weisen vor zu viel Integration zu beschützen. Das ist schlau von den Libanesen: Integration ist schließlich eine zweischneidige Sache, das haben Sie ja auch bei Reem bemerkt. Wenn sich Flüchtlinge zu gut integrieren, dann kommen sie noch auf die Idee, ihnen stünden dieselben Privilegien zu wie den anderen. Aber das können die Palästinenser Ihnen ganz prima selbst erzählen. Die meisten haben sich daran gewöhnt und falls einer doch heult: einfach mal streicheln.
Landestypische Baukunst zu bewundern
Zurück zur Reiseroute: Sie fahren durch Sabra, einen ärmlichen Stadtteil im Süden Beiruts. Wenn Sie den billigen Gemüsemarkt sehen, wo so viele Menschen einkaufen wollen, dass Sie kaum zwischen den Ständen durchgehen können, dann sind Sie am Eingang angekommen. Von hier aus müssen Sie leider zu Fuß weiter, denn die Straßen sind teils unbefestigt und viel zu eng für Ihre Limousine. Wenn Sie nach oben schauen, dann können Sie die typisch libanesisch-palästinensische Baukunst bewundern: Rohe Backsteine, unverputzt, gespickt mit verschiedensten recycelten Baumaterialien, oft unterschiedlichen Fenstern und Türen – alles sehr kreativ. Die libanesischen Palästinenser erweitern ihre Häuser ständig, bauen immer neue Wohnungen auf das Dach des jeweils obersten Stockwerkes. Dieser besondere Baustil rührt daher, dass die Palästinenser im Libanon nur innerhalb der Camps bauen dürfen und da ist nur in eine Richtung genug Platz: nach oben. Bestimmt fallen Ihnen die vielen Stromkabel auf, wild zusammengebastelt und notdürftig verbunden. Für Ausländer sehen die manchmal gefährlich aus. Aber keine Angst: Sie können die Kabel ruhig anfassen, da fließt allerhöchstens sechs Stunden am Tag Strom durch.
Am wichtigsten sind Ihnen ja die Sorgen der Menschen. Sprechen Sie sie ruhig an, egal unter welchem Vorwand. Wenn Ihnen zum Beispiel auf der Straße jemand begegnet, der übernächtigt aussieht, dann fragen Sie einfach mal nach: »Was hast Du denn?« Möglicherweise wird er die langweilige Antwort geben, dass es mit fünf, acht, vielleicht zehn Erwachsenen und Kindern in einem Raum einfach zu laut und zu stickig zum Schlafen ist. Aber vielleicht haben Sie auch Glück und erhalten eine interessantere Antwort – etwa, dass er in der vergangenen Nacht in eine Schießerei geraten ist. Das kommt hier schon mal vor… Aber auch das ist nicht gefährlich, Sie wissen ja, der Libanon ist ein sicheres Land.
Alles nette Leute
Ihnen wird schnell auffallen, welch sympathische Menschen die Palästinenser sind, genau wie Reem. Sicherlich wird Ihnen »Welcome, welcome!« zugerufen, vielleicht lädt sie jemand zum Tee oder zum Essen ein. Denken Sie sich nichts dabei, das hat nichts mit Ihnen zu tun. Das macht man hier so, selbst wenn man in Armut lebt. Nutzen Sie doch die Gelegenheit und fragen Sie die Leute einfach nach ihren Lebensgeschichten. Das ist sehr spannend, denn hier haben viele Menschen in Ihrem Alter nicht nur eine, sondern gleich zwei oder drei Fluchtgeschichten zu erzählen. Aber was erzähle ich Ihnen das? Sie wissen ja selbst, weshalb die meisten hier sind: »Die Araber und die Israelis können sich bis heute nicht einigen…« Deshalb haben die Alten oft noch immer die Schlüssel ihrer Häuser in Palästina. Sie wünschen ihren Enkelkindern, dass die eines Tages zu diesen Häusern zurückgehen können. Ich kann das nicht ganz verstehen, wo doch andauernd Häuser in Palästina kaputt gemacht werden. Entweder werden sie zerstört, um neuen israelischen Siedlungen Platz zu machen oder es fällt eine Bombe rein, wenn die israelische Armee mal wieder versucht, Gaza dem Erdboden gleichzumachen.
Tja, die israelische Politik ist eben manchmal hart. Die meisten Palästinenser haben sich daran gewöhnt, aber manche tun sich immer noch damit schwer. Mein Tipp: Betonen Sie daher einfach wie stabil und sicher die Häuser in Schatila doch sind. Und erzählen Sie besser nicht so viel von ihren Freunden in Israel – und wer denen die Waffen schenkt.
Araber können nicht so gut abschieben
Um ein anderes Thema anzuschneiden: Fragen Sie beim Teetrinken mal in die Runde, wer als letztes geflüchtet ist. Da finden sich bestimmt Leute, die gerade erst aus Syrien gekommen sind. Spätesten jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo Sie unbedingt noch einmal daran erinnern sollten, dass man hübsch trennen muss zwischen den verschiedenen Sorten von Flüchtlingen. Außerdem sollten Sie darauf hinweisen, dass sie sich in einem palästinensischen und nicht in einem syrischen Flüchtlingslager befinden.
Das kommt sicher gut an. Denn mit solchen Unterscheidungen sind die Flüchtlinge im Libanon vertraut, dort wird auch hübsch getrennt. Die syrischen Flüchtlinge bekommen Hilfe vom UNHCR in den syrischen Flüchtlingslagern, während die syrische-palästinensischen und libanesisch-palästinensischen Flüchtlinge in den palästinensischen Lagern von UNRWA betreut werden.
Auch die libanesische Regierung trennt zwischen syrischen und syrisch-palästinensischen Flüchtlingen. Die syrischen dürfen rein, die syrisch-palästinensischen nicht mehr. Die bleiben jetzt in Syrien, weil auch Jordanien und Ägypten die doppelten Flüchtlinge nicht aufnehmen wollen. Zu Recht: Schließlich könnten die ja auf die Idee kommen, für immer bleiben zu wollen. Sie müssen wissen: Araber sind nicht so gut im Abschieben wie die Deutschen. Deshalb lassen sie manche Flüchtlinge lieber erst gar nicht rein.
So muss man das eben machen, wenn das Boot voll ist: Aussortieren. Politik ist manchmal hart. Neuerdings besteht auch die libanesische Regierung darauf, dass sie nicht mehr alle aufnehmen können. Sie meint, eine Million Flüchtlinge in vier Jahren sei bei vier Millionen Einwohnern zu viel (rechnen Sie besser gar nicht erst nach, wie viele Flüchtlinge Deutschland aufnehmen müsste, damit das Verhältnis so wäre wie im Libanon. Hier geht es schließlich ums Prinzip). Jedenfalls ist es vielleicht ganz gut für Reem, dass nicht mehr Palästinenser aus Syrien kommen, dann ist vielleicht noch ein Zimmer für ihre Familie frei.
Und immer wieder streicheln, Frau Merkel
Das zweite palästinensische Flüchtlingslager, das Sie sich unbedingt ansehen sollten ist Baddawi. Das liegt in Tripoli, der zweitgrößten Stadt ganz im Norden des Landes. Auf dem Weg dorthin fährt man die Syrische Straße entlang. Auf der einen Seite liegt der sunnitische Stadtteil Bab al-Tabbaneh, auf der anderen Jabal Mohsen, der mehrheitlich von Alawiten bewohnt ist. Schauen sie sich die Hauswände zur Straße hin genau an. Bestimmt entdecken Sie frische Einschusslöcher, ein, zwei oder drei Jahre alt. So nah am Krieg ist man nicht alle Tage. Überhaupt: Von hier aus sind es auch nur dreißig Kilometer bis nach Syrien.
Im Camp angekommen – der Baustil wird Sie gleich wieder an Schatila erinnern – sollten Sie unbedingt die Leute fragen, was sich dort in den letzten Jahren abgespielt hat. Man wird Ihnen bestimmt erzählen, dass es immer wieder Schießereien zwischen Assad-Anhängern in Jabal Mohsen und Assad-Gegnern in Bab al-Tabbaneh gegeben hat. Die beiden Lager sind im Libanon schon viel länger klar als in Syrien. Das Land war nämlich 29 Jahre lang, bis 2005, von syrischen Truppen besetzt. Seit 2011 sind diese Streitereien wieder aufgeflammt, insbesondere an der Syrischen Straße in Tripoli, aber auch an anderen Orten im Libanon. Manchmal landete eine Kugel im Baddawi-Camp, auch hier konnten die Bewohner oft nicht schlafen – nicht vergessen, immer streicheln, wenn jemand beim Erzählen losheult.
Es kommt nämlich noch schlimmer: Die Palästinenser aus Baddawi müssen Syrische Straße immer entlangfahren, um in die Stadt, zur Arbeit, zur Schule oder zur Uni kommen.
Aber machen Sie sich keine Sorgen wegen Ihrer eigenen Fahrt, seit einem Jahr ist es relativ ruhig geblieben, es brodelt nur unter der Oberfläche. Sie wissen ja: »Der Libanon gilt jetzt nicht als ein Land, das direkt einen Bürgerkrieg hat.« Nur ab und zu mal eine Schießerei, hier und da mal eine Autobombe und manchmal schwappen die Kämpfe aus Syrien ein Stückchen über die Grenze. Pessimisten prophezeien seit 2011, dass bald ein neuer Bürgerkrieg ausbricht. Aber die übertreiben.
In Baddawi nehmen die Konflikte zwar zu, aber da gewöhnt man sich schnell dran. Die Armut wächst, die Hilfsorganisationen haben viel zu knappe Budgets und die Konkurrenz im Niedriglohnsektor steigt durch die vielen syrischen Arbeitskräfte. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau: Schließlich verhungert hier keiner und die Leute machen das prima, die kommen schon irgendwie durch.
Ein Job für Reems Vater
Wenn Sie schon mal dort sind, dann fragen Sie doch mal nach, ob hier vielleicht jemand Reems Vater einen Job als Schweißer vermitteln könnte. Und melden Sie Reem schon gleich in der Schule an, damit sie dort noch einen Platz ergattern kann, die sind nämlich ziemlich begehrt. Wäre doch eh für alle das Beste, wenn Reems Familie ruckdizuck wieder zurück in den Libanon geht und Sie schon alles organisiert hätten. Den Palästinensern und ihren Verwandten aus Syrien, die sie in ihren Wohnungen aufgenommen haben, geht es schließlich auch sehr gut hier.
Und denken Sie immer daran, deren Situation mit jener der syrischen Flüchtlinge zu vergleichen. Das ist sehr wichtig, denn es verschönert die Lebensumstände der Palästinenser ungeheuerlich. In solche Verhältnisse können Sie Reems Familie guten Gewissens abschieben. Gerade jetzt, wo das libanesische Boot für syrische Palästinenser voll ist, findet sich auch wieder Platz für palästinensische Flüchtlingskinder, die versehentlich zu lange in Deutschland bleiben durften.
Und falls Reem sich am Anfang schwer tut mit der Reintegration: einfach nochmal streicheln. Sie ist ja ein unheimlich sympathisches Mädchen und hat das ja auch in Deutschland schon so prima gemacht.
Ihre Nora Berneis
Foto: Glyn Lowe Photoworks.
Schlagwörter: Abschiebung, Flüchtlinge, Israel, Libanon, Merkel, Palästina, Syrien