Der palästinensischer Aktivist Majd Kayyal aus Haifa erklärt die Grenzen der Massenproteste in Israel sowie die Möglichkeiten des palästinensischen Widerstandes
Die rechte Regierung in Israel treibt ihre Pläne zur Abschaffung der gerichtlichen Kontrolle der Regierung voran. Seit Wochen verteidigen Israelis ihre »Demokratie« mit Demonstrationen, die immer mehr Zulauf erhalten. Jetzt weigern sich sogar Reservist:innen der Armee, sich zum Dienst zu melden. Doch obwohl es bei dieser sich verschärfenden Krise der israelischen Gesellschaft auch um die Besetzung Palästinas und deren Handhabung geht, wird den Stimmen von Palästinenser:innen und ihrem Widerstand wenig Beachtung geschenkt. Wir sprachen mit dem palästinensischen Journalisten und Aktivisten Majd Kayyal über die Protste.
Was sagst du zu den Protesten für »Demokratie« in Israel?
Unsere Sicht auf die derzeitigen Ereignisse geht nicht allein von der Frage aus, ob es hier Demokratie gibt oder nicht. Und es geht auch nicht nur darum, ob von der Bewegung auch palästinensische Fragen angesprochen werden. Die Proteste und der dahinter stehende Konflikt gehen sehr viel tiefer.
Inwiefern?
Die derzeitigen Konfliktparteien in Israel kämpfen um die Kontrolle über ihren Staat, was die Kontrolle über die Mittel unserer Unterdrückung mit einschließt. Es ist ein interner Konflikt über die Mittel, die Palästinenser:innen zu unterdrücken. Beide Seiten sind fest verankert in der israelischen Siedlergesellschaft in Palästina. Die ganze Schaffung dieses Staats stützte sich auf einen einzigen Ethos: die Kolonisierung dieses Orts und die Zerstörung palästinensischen Lebens. Wir sehen heute zwei Seiten, die sich über die Methoden zur Unterdrückung der Palästinenser streiten.
Wir können in den jetzigen Ereignissen und Protesten überall eine starke Präsenz und die laute Stimme der Armee wahrnehmen. Okay, es gibt diese Demonstrationen, aber was wirklich den Druck auf die Regierung erzeugt, ist die Drohgebärde der Generale, der Piloten und der Armee, die sich weigern, an militärischen Einsätzen teilzunehmen.
Gibt es dafür Beispiele?
In Zeitungen wie der Ha’aretz und bei anderen Nachrichtendiensten sind Interviews mit israelischen Soldaten erschienen, die den Einsatz verweigern. Sie alle sind stolz auf ihre Kriegsverbrechen. Aber sie sagen: »Das haben wir im Rahmen eines Abkommens mit einem demokratischen Staat getan und wir wussten, dass ein Gericht die Aufsicht darüber hat, also haben wir nur unsere Arbeit getan.«
Plötzlich gibt es Piloten, Soldat:innen und Generale, die jetzt alle schockiert sind über Siedler:innen, die Häuser und Geschäfte in Hawara niedergebrannt haben.
Was stört dich daran?
Das sind jedoch dieselben Soldat:innen, die Hunderte Gebäude in Gaza und im Westjordanland zerstört haben. Einige dieser Leute sprechen jetzt über die von ihnen verübten Kriegsverbrechen, um zu demonstrieren, dass ihnen der Dienst für ihre Demokratie wichtig ist. Ein Soldat spricht in der Ha’aretz darüber, wie sie bei Zusammenstößen im Westjordanland Krankenwagen zur Verstärkung von Checkpoints eingesetzt haben. Und wie sie das Krankenwagenzeichen abgedeckt haben, damit das nicht auffliegt. Aber ja, sagt er, wie haben das im Rahmen einer Demokratie getan. Jetzt will die Regierung die Besetzung ohne gerichtliche Aufsicht fortsetzen und dieselben Verbrechen begehen.
Mit anderen Worten können sich die Palästinenser:innen zurücklehnen und zusehen, wie Israels Krise sich entwickelt, oder eröffnet sie neue Möglichkeiten für den Widerstand?
Das geschieht parallel zu den äußerst brutalen Einsätzen der Polizei gegen die Palästinenser:innen. Zwischen der israelischen Polizei und dem israelischen Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, gibt es eine Auseinandersetzung. Dieser Konflikt bezieht sich hauptsächlich auf die israelischen Proteste, aber auch auf Ben-Gvirs Einfälle in Jerusalem, wie sein demonstrativer Besuch auf dem unter islamischer Verwaltung stehenden Tempelberg, und auf den Umgang mit palästinensischen Aktivist:innen und Demonstrationen.
Ich denke, um die Gunst des Ministers zu gewinnen, setzt die Polizei mehr Gewalt gegen Palästinenser:innen ein, insbesondere in Jerusalem. Sie ist jetzt noch aggressiver.
Wie äußert sich das?
Das geht so seit dem palästinensischen Aufstand von 2021. Aber kürzlich hat die Regierung verboten, die palästinensische Flagge in Israel zu zeigen. Jede kleine Demo, selbst mit hundert Leuten, wäre vor einem halben Jahr noch stillschweigend durchgegangen. Jetzt gibt es schon im Vorfeld Zusammenstöße, wenn vermutet wird, dass eine palästinensische Fahne gezeigt wird, und die Polizei besteht darauf, sie herunterzunehmen.
Aktivist:innen wissen, dass es nicht gut ausgehen wird, wenn sie zu einer Demonstration gehen. Ich erinnere nur daran, dass noch heute Leute unter der nach den Massendemonstrationen vor zwei Jahren ausgeübten Repression leiden. Sie bekommen jetzt Haftstrafen. Alle paar Tage hörst du von jemandem, der acht Jahre Gefängnis, zehn Jahre Gefängnis, zwei Jahre Gefängnis bekommen hat. Die Polizei nimmt auch Aktivist:innen ins Visier und ich denke, es ist ihnen gelungen, viele Bewegungen zu sabotieren.
Was passiert im Westjordanland?
Gleichzeitig muss ich aber erwähnen, dass es immer zentrale Gegenden in Palästina gibt, die im Mittelpunkt des Widerstands stehen. Im Jahr 2021 waren alle gemeinsam auf der Straße, aber nicht im Westjordanland. Jetzt richten sich alle Augen auf das Westjordanland, auf Dschenin oder Nablus. Es hat sich etwas im Bewusstsein der Menschen verändert. Das ist sehr gut, denn damit wird die von Israel und den USA geschaffene Illusion zerstört, die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) habe volle Kontrolle über das Westjordanland.
Jetzt bricht die Kontrolle der PA vor ihren Augen zusammen.
Warum ist das deiner Meinung nach ein Fortschritt?
Wir haben immer auf die Brutalität der Besetzung und der PA im Westjordanland geschaut und uns gefragt, ob es wirklich möglich ist, dieses sehr komplizierte Regime, das mit Israel zusammenarbeitet, loszuwerden. Deshalb ist es eine große Überraschung, dass der bewaffnete Widerstand im Westjordanland stattfindet und nicht aufhört. Es ist ein sehr populärer Widerstand. Er ist bewaffnet, aber nicht wie eine formelle militärische Organisation. Anstelle von Steinen und Molotowcocktails haben sie jetzt eben Gewehre. Dabei gibt es keine Taktik und keine Hierarchie. Es ist das Ergebnis des allgemeinen und individuellen Widerstands, der die Form von Angriffen angenommen hat. Die Leute kämpfen aus ihren Häusern heraus, und jedes Stadtviertel hat eine eigene Gruppe Bewaffneter.
Durch die Unterstützung dieser Art des Widerstands werden wieder soziale Bindungen geschaffen, damit die Kämpfer sich in einer sicheren Gemeinschaft bewegen können. Du spürst, dass sich das neu entwickelt. Das heißt nicht, dass wir uns die jetzigen Ereignisse nicht kritisch ansehen. Aber es gibt etwas Faszinierendes an der Fähigkeit von Menschen, Widerstand zu entwickeln und neu aufleben zu lassen, egal was geschieht, egal was die PA oder Israel tun. Diese Fähigkeit, Widerstand neu zu beleben, ist eine Lehre für die Menschheit, denke ich.
Zum Text: Das Interview erschien zuerst bei der britischen Zeitung Socialist Worker. Das Interview führte Nick Clark. Für die deutsche Fassung würde der Text leicht überarbeitet. Übersetzung aus dem Englischen von Rosemarie Nünning.
Zum Autor: Majd Kayyal ist palästinensischer Journalist.
Bild: Flickr
Schlagwörter: Israel, Palästina