Eine Neuköllner Sozialarbeiterin erklärt, welche Auswirkungen die Maßnahmen der Corona-Krise auf ihre Arbeitsbedingungen und die auf Angebote sozialer Einrichtungen angewiesenen Familien hat – ein Gespräch über fehlende Masken, die Tücken des »Homeschoolings« und das Versagen der Politik, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter angemessen zu unterstützen
Wo arbeitest du?
Ich arbeite in einer sozialen Einrichtung in Neukölln, die sich an verschiedene Zielgruppen richtet (Kinder und Jugendliche, Familien sowie ältere Menschen oder Menschen mit Behinderung). Es handelt sich sozusagen um einen Ort, in dem sich die Menschen der Nachbarschaft treffen, um gemeinsam ihre Lebensumstände zu verbessern. Daher variieren auch die thematischen Schwerpunkte unserer Projekte, an denen ca. 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tätig sind. Mein Schwerpunkt z.B. ist die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.
Wie viele Kinder und Jugendliche betreust du?
Da die Teilnahme an den Projekten freiwillig ist, gibt es keine feste Zahl. Man kann aber von ungefähr 40 Kindern ausgehen. In den Schulferien steigt die Anzahl der Teilnehmenden deutlich, auf 60 oder 70, da es viele Familien gibt, die sich Urlaub mit ihren Kindern nicht leisten können.
Was sind eure Aufgaben? Was macht ihr mit den Kindern und Jugendlichen?
In erster Linie dient unsere Einrichtung als Begegnungsort für die Kinder und Jugendlichen, die sich dort mit ihren Freundinnen und Freunden nach der Schule treffen. Man muss sich es so vorstellen: Wenn eine lebenswürdige Wohnung heutzutage aufgrund des Mietenwahnsinns als Luxus gilt, suchen die Menschen nach Entspannung außerhalb der Wohnung. Unsere Einrichtung ist eine Art Oase für die Kinder und Jugendlichen, die meistens in sehr kleinen Wohnungen wohnen und ein Zimmer mit zwei oder drei Geschwistern teilen. In unserer Einrichtung bekommen sie Unterstützung in ihrem täglichen Leben, von Hausaufgabenbetreuung bis zur Thematisierung von gesellschaftlichen Problemen, wie Diskriminierung und Rassismus.
Hast du während des »Lockdowns« noch gearbeitet? Warst du in Kurzarbeit und was hat das bedeutet?
Laut den Beschlüssen des Berliner Senats mussten alle sozialen Einrichtungen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus geschlossen bleiben. Daher mussten wir auf die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen vor Ort verzichten und von zu Hause aus digitale Angeboten entwerfen. Das war eine ziemliche Herausforderung.
Wie ging es den anderen Kolleginnen und Kollegen bei dir im Betrieb?
Es war für alle schwierig zu wissen, dass die Kinder und Jugendlichen Unterstützung benötigen und man nur wenig tun kann, um ihre Situation zu verbessern. Die meisten waren sehr überfordert mit der Situation. Wir haben uns Sorgen um die Familien und die Kinder gemacht. Gleichzeitig hatten wir den Eindruck, dass wir nichts tun können sind, da uns die Mittel fehlten. Außerdem hatten einige Kolleginnen und Kollegen privat keine Geräte für die digitale Arbeit und waren daher von Fachdiskussionen und Teamsitzungen ausgeschlossen. Auch wenn sie nicht die Mehrheit bilden, darf man ihre schwierige Situation nicht übersehen.
Eure Arbeit ist von Kontakten mit Menschen abhängig. Seid ihr vom Senat mit PSA (Masken) versorgt worden?
Nein. Jede soziale Einrichtung musste Desinfektionsmittel und Masken selbst beschaffen..
Wie hat der Lockdown deine Arbeit verändert?
Radikal. Soziale Arbeit basiert auf dem Kontakt mit Menschen. Vor allem, wenn es sich um Kinder und Jugendliche handelt. Wie soll man eine vertrauensvolle Beziehung mit den Kindern unter diesen Umständen pflegen und wirklich da sein, wenn sie uns brauchen? Aber vor allem hat der Lockdown mir noch deutlicher gemacht, unter welchen Umständen diese Familien leben und wie wenig für sie getan wird.
Du betreust viele arme Familien in Neukölln. Wie nimmst du ihre Situation wahr?
In solchen Krisensituationen werden die gesellschaftlichen Klassenverhältnisse sichtbarer. Die Schließung der Schulen betrifft eben nicht alle Familien gleich. Während manche Kinder ihre medialen Kompetenzen ausprobieren können, sind viele Kinder aus ärmeren Familien benachteiligt. Sie stehen vor großen Herausforderungen
Wieso?
Ich betreue teilweise Familien, die mit vier, sechs oder noch mehr Kindern und Erwachsenen in einer zwei-Zimmer Wohnung die Zeit des Lockdowns verbringen mussten, während die Spielplätze geschlossen waren. Die meisten Kinder, die ich betreue, haben weder ein eigenes Zimmer noch einen eigenen Schreibtisch und schon gar keinen eigenen Computer. Besonders betroffen von der Coronavirus-Krise sind Rom*nja und Sinti*zze. Ihre Lage hat sich mit der Ausbreitung des Virus verschlimmert. Neben den oben beschriebenen Schwierigkeiten erleben diese Kinder und Jugendliche oft rassistische Angriffe, da sie als »Überträger des Virus« betrachtet werden. Es ist kein deutsches Phänomen, sondern europaweit zu sehen.
Wie nehmen diese Kinder denn am »Homeschooling« teil?
Die meisten benutzen das Handy ihrer Eltern oder ihrer älteren Geschwister. Aber mit einem Smartphone am Homeschooling teilzunehmen, funktioniert nicht sehr gut. Vor allem, wenn sich mehrere Kinder ein Handy teilen müssen. Für einige ist das auch deswegen unmöglich, weilsie keinen Internetzugang besitzen. Seit einiger Zeit holen die Kinder Arbeitsblätter in der Schule ab und müssen diese nach einigen Wochen ausgefüllt zurückbringen.
Wie ist es für die Eltern?
Manche sind sehr verzweifelt. Sie wissen nicht, wie sie ihre Familie in Zukunft versorgen sollen. Wenn sie Arbeit finden, sind es Jobs im Niedriglohnsektor. Es ist harte Arbeit, mit null Perspektive. Einige, die ich betreue, wurden wegen des Coronavirus entlassen und für andere fällt der Deutschkurs aus, dessen Teilnahme als Voraussetzung für den Zugang zum Arbeitsmarkt gilt. Es ist eine katastrophale Situation.
Aber die rot-rot-grüne Regierung hat doch versprochen, sich um die Menschen zu kümmern. Besonders um die Ärmsten. Was ist mit den Hilfsmaßnahmen des Senats?
Die unterstützenden Maßnahmen vom Senat erreichen diese Familien überhaupt nicht. Zum Beispiel sind Menschen, die vom Jobcenter abhängig sind, von allen »Extra-Maßnahmen« ausgeschlossen. Auch die Erhöhung des Kurzarbeitergelds reicht nicht aus, weil sie viel zu niedrig ist und außerdem erst nach dem vierten Monat greift. Wenn das Geld weg ist, wovon sollen Miete und andere Rechnungen bezahlt werden? Wie sollen diese Eltern ihre Kinder angemessen unterstützen, wenn sie sich so viele Sorgen um die Zukunft machen?
Aber hat Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) sich nicht bereit erklärt, um »digitale Schuldistanz« in der Corona-Krise zu vermeiden besonders sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern in Berlin 9500 Tablets zur Verfügung stellen?
Unsere Kinder zumindest haben von diesen Tablets noch kein einziges gesehen.
Fühlst du dich allein gelassen von der Politik?
Ich denke, dass der Staat mit der Situation anders hätte umgehen müssen. Ich kann verstehen, dass die neue Situation anfangs eine große Herausforderung darstellte, aber es sind inzwischen zwei Monate vergangen und die Kinder und Jugendlichen, die ich betreue, haben immer noch dieselben dieselben Probleme. Gleichzeitig fühlt man sich als pädagogische Fachkraft nutzlos, weil man die Situation der Kinder und Jugendlichen nicht verbessern kann. Seitens des Staats wird an Kreativität und Fantasie in der pädagogischen Arbeit appelliert, aber diese haben auch ihre Grenze, wenn es an der Ausstattung fehlt.
Wie reagiert ihr als Kolleginnen und Kollegen auf diese Situation?
Viele, die ich kenne,versuchen mit allen Mitteln, die Kinder und Familien zu unterstützen.
Was meinst du mit »alle Mittel«?
Der pädagogische Auftrag änderte sich während des »Lockdowns« völlig. Wir haben als Lehrkräfte und Sozialpädagogen die Aufgaben des Staats übernommen. Unsere grundlegende Aufgabe war, die Kinder und Familien materiell zu unterstützen, damit sie nicht total vom Schulunterricht ausgeschlossen sind. Wir haben versucht, digitale Endgeräte als Spenden zu bekommen sowie Zugang zum Internet mindestens für einige Wochen sicherzustellen. Einige haben die Familien mit Bastelmaterial versorgt, damit die Eltern irgendwie ihre Kinder zu Hause beschäftigen können, und andere haben mit den Kindern Hausaufgabenbetreuung über die sozialen Medien gemacht.
Wie hättest du Dir deine Arbeit während des »Lockdowns« idealerweise vorgestellt?
Ich und viele meiner Kolleginnen und Kollegen hätten gerne unsere Arbeit fortgesetzt. Dafür brauchen wir Beschäftigte gesundheitlichen Schutz und materielle Unterstützung. Materielle Ausstattung für alle Kinder und Jugendliche in solchen Zeiten ist eine notwendige Voraussetzung. Dadurch könnten wir Kontakt mit den Kindern halten, sie richtig über Corona informieren, ihre Ängste diesbezüglich besprechen und sie bei den Hausaufgaben oder anderen Anliegen unterstützen. Gerade in einer Zeit, in der Verschwörungstheorien dominant werden, ist die Aufklärung von Kindern und Jugendlichen umso wichtiger. Darüber hinaus habe ich erwartet, dass wir Masken und Desinfektionsmittel vom Senat bekommen, um die Arbeit mit den Kindern und Familien sicherer zu ermöglichen. Kostenlose Masken für alle sehe ich nicht als eine übertriebene Erwartung in Corona-Zeiten in Deutschland. Wir sehen uns als Teil der sogenannten kritischen Infrastruktur und sagen: Soziale Arbeit ist systemrelevant!
Gab es eigentlich Unterstützung von Seiten deiner zuständigen Gewerkschaft?
Es bewegt sich gerade was. Wir befinden uns in Gesprächen. Aber da ist noch einiges zu tun. Ich würde mir wünschen, dass die Gewerkschaften sich mehr für eine Berufsgruppe einsetzen, die in den letzten Jahren immer stärker unter prekären Arbeitsverhältnissen leidet und wenig Wertschätzung genießt. Entlohnung nach Tarifverträgen, unbefristete Verträge sowie gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten im Bereich der sozialen Arbeit sollten ganz oben auf der Agenda der Gewerkschaften stehen. Dafür ist es wichtig, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Bereich der sozialen Arbeit ihre Erfahrungen sichtbar machen.
In Berlin gab es in den letzten Jahren im Bereich der Kinder- und Jugendsozialarbeit eine Welle von »Privatisierungen« und in diesem Zuge haben privatwirtschaftliche Träger den »Markt« erobert. Um wen handelt es sich da?
Das sind zumeist gemeinnützige Vereine, Kirchen und Wohlfahrtsverbände. Dabei sollte man die Rolle der freien Trägerschaft besonders unterstreichen, denn freie Träger sind das Bindeglied zwischen öffentlichem und privatem Sektor im Rahmen des »kooperativen Sozialstaats«, bei dem staatliche Aufgaben an privatwirtschaftlich geführte Einrichtungen übertragen werden. In den letzten Jahren war der Anteil der freien Träger im sozialen Bereich besonders groß. Allein im Jahr 2015 waren ca. 55.000 Beschäftigte im sozialen Bereich bei freien Trägern tätig. Dies führt auch zu einer zunehmenden Kooperation von Schulen mit sozialen Trägern. Im Berliner Landesprogramm »Jugendsozialarbeit an Berliner Schulen« waren es mindestens 75 freie Träger der Kinder- und Jugendarbeit, die über Kooperationsverträge bei den Berliner Schulen aktiv sind.
Hört sich doch nicht weiter schlimm an?
Naja, ich sehe hier ein Problem. Denn obwohl die Vereine »gemeinnützig« sind, erhält die marktwirtschaftliche Orientierung und die betriebswirtschaftliche Kostenrechnung dadurch Einzug in die Kinder- und Jugendarbeit.
Inwiefern?
Das fängt bei den Arbeitsbedingungen der Beschäftigten an und hört bei der Ausstattung auf. Es zeigt sich zum Beispiel ein überproportionaler Anstieg der Teilzeitbeschäftigung bei den privaten und freien Trägern. Zudem kommen auch niedrigere Löhne, exzessive Befristungspraxis oder die sogenannte Ein-Euro-Jobs. Davon sind insbesondere Frauen betroffen, da sie den größten Anteil der Beschäftigten stellen. Und alles das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Qualität der Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen.
Welche Lehren ziehst du aus der jetzigen Situation?
Die Schulen und Betreuungseinrichtung einfach so dicht zu machen, ohne ein Konzept zu haben, wie Schülerinnen und Schüler in der Zeit des »Lockdowns« betreut werden können, sehe ich als Hauptproblem. Das gilt für Schülerinnen und Schüler aus ärmeren Verhältnissen, aber auch für andere Familien. Es ist doch ein Skandal, dass diese Aufgabe während des »Lockdowns« einfach auf die Eltern abgeschoben wurde.
Welche Forderung ergeben sich daraus?
Ganz allgemein: Der Senat muss ein Schutzkonzept für Schülerinnen und Schüler in Pandemie-Zeiten erarbeiten, besonders für arme und benachteiligte Familien. Konkret: Kinder die keinen Computer, Schreibtisch oder ein ruhiges Zimmer zu Hause haben, müssen Teil der Notbetreuung werden. Tablets oder Laptops sowie kostenloses Internet für alle ist unsere Forderung in solchen online-Zeiten. Es kann doch nicht sein, dass die Regierung diese Kinder einfach ihrem Schicksal überlässt.
Vielen Dank für das Gespräch.
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Interview: Yaak Pabst
Foto: UsualRedAnt
Schlagwörter: Corona, Coronakrise, Coronavirus, Kinder, R2G