Karl Kautsky: Die Lohndrückerei des Auslandes und die Internationale

Karl Kautsky und Emanuel Wurm schrieben 1907 als Redaktion der SPD-Theoriezeitschrift »Die Neue Zeit« den Beitrag »Die Lohndrücker des Auslandes und die Internationale«. Darin entwickeln sie, warum die Sozialdemokratie gegen jegliche Einwanderungskontrollen agieren sollte

Über diesen Gegenstand veröffentlichen wir im Einvernehmen mit dem Parteivorstand eine Arbeit von Schippel als Beilage, da sie für einen Artikel zu umfangreich und für eine Broschüre zu sehr bloße Materialiensammlung ist ohne alle theoretischen und praktischen Schlussfolgerungen. Ihre Ergänzung findet sie in den Arbeiten, die wir in dieser Nummer veröffentlichen, eine Ergänzung nicht bloß nach der theoretischen Seite hin durch das Aufdecken der tieferen Zusammenhänge der Frage mit der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung, das allein das tote Material lebendig und fruchtbar macht, sondern auch durch Erweiterung des Schippelschen Material selbst, das namentlich für die Vereinigten Staaten von den Auffassungen der Sozialisten völlig absieht, die uns in erster Linie interessieren.

Die erste Internationale und die Einwanderung

Das Material könnte wohl noch dahin vervollständigt werden, dass auch die Anschauungen der ersten Internationale mitzuteilen wären. War doch diese nicht zum wenigsten gerade dazu gegründet worden, den schädlichen Wirkungen der Konkurrenz ausländischer niedriger Löhne auf die englischen Arbeiterverhältnisse entgegenzuarbeiten und die Herabdrückung der Löhne durch Einwanderung bedürfnisloser Arbeiter hintanzuhalten. Es fiel aber der Internationale und ihrem von Marx beeinflussten Generalrat nie ein, das Heilmittel dagegen im Kampfe der Arbeiter des höher stehenden Landes gegen die des rückständigen, in Einwanderungsverboten und Schikanierungen der Ausländer und ähnlichen Produkten eines zünftigen Monopolgeistes zu sehen. Sie verfiel auch nicht der Illusion, der Klassenkampf des Proletariats könne dadurch gefördert werden, dass man die unterdrückenden Befugnisse der Staatsgewalt, also seines Gegners, gegen einen Teil des Proletariats vermehre. Sie sah nur ein wirksames, mit den dauernden Klasseninteressen des Gesamtproletariats und seinem Emanzipationskampf vereinbares Mittel: die internationale Solidarität der Arbeiter, ihre gegenseitige Unterstützung, die Hebung der rückständigen Arbeitermassen durch die Hilfe der vorgeschrittenen.

Der Genfer Kongress 1866

Auf dem Genfer Kongress 1866 wurde eine Resolution angenommen, in der es hieß: »Eine der besonderen Ausgaben der Assoziation, die bereits bei verschiedener Gelegenheit mit großem Erfolg erfüllt wurde, geht dahin, den Intrigen der Kapitalisten entgegenzutreten, die stets bereit sind, in Fällen von Arbeitseinstellungen und Aussperrungen die Arbeiter fremder Länder als Werkzeuge zur Vereitelung der Forderungen der Arbeiter des eigenen Landes zu missbrauchen. Es ist einer der größten Zwecke der Assoziation, dass die Arbeiter der verschiedenen Länder sich nicht allein wie Brüder fühlen, sondern auch als vereinte Teile der Emanzipationsarmee zu handeln wissen.«

Der Kampf gegen die Lohndrückerei

In dem Bericht des Generalrats an den Kongress von Lausanne, 1867, heißt es: »Die zahlreichen Dienste, welche die Internationale Arbeiterassoziation in den mannigfachen Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit in den verschiedenen Ländern erwiesen hat, zeigen deutlich die Notwendigkeit einer derartigen Organisation. Wenn die Arbeiter die willkürlichen Bedingungen der Kapitalisten in England zurückwiesen, drohten diese, sie durch „Hände“ vom Kontinent zu ersetzen. Die Möglichkeit einer solchen Importation hat in mehreren Fällen genügt, die Arbeiter zum Nachgeben zu veranlassen. Die Wirksamkeit des Generalrats verhinderte, dass solche Drohungen zutage traten wie ehedem. So oft derartiges vorkommt, genügt ein Wink, um die Pläne der Kapitalisten zum Scheitern zu bringen. Bricht ein Streik oder eine Aussperrung unter den Vereinen aus, die zur Internationalen Arbeiterassoziation gehören, dann werden sofort die Arbeiter aller Länder von der Sachlage unterrichtet und vor den Werbeagenten der Kapitalisten gewarnt. Diese Wirksamkeit des Generalrats beschränkt sich übrigens nicht bloß auf die Vereine der Internationalen Arbeiterassoziation, die Unterstützung der Assoziation wird allen zuteil, die sie anrufen.«

Die gewerkschaftliche Organisation stärken

Vor allem half die Internationale den englischen Arbeitern dadurch, dass sie die gewerkschaftliche Organisation allenthalben außerhalb Englands aufs lebhafteste förderte. In der Einladung des Generalrats an die englischen Trade Unions zur Beschickung des Kongresses von Brüssel, 1868, erklärt er: »Das Grundprinzip der Assoziation sagt, dass das Produkt der Arbeit dem Arbeiter gehören, dass die Verbrüderung der Arbeit die Grundlage der Gesellschaft bilden und dass die Arbeiter aller Länder ihre kleinlichen Eifersüchteleien und nationalen Abneigungen abwerfen und gemeinsame Sache machen sollen in ihrem Kampfe gegen das Kapital. Die Arbeit hat kein Vaterland. Der Arbeiter hat überall die gleichen Übel zu bekämpfen. Das Kapital ist nur aufgehäufte Arbeit. Warum soll der Arbeiter der Sklave seines eigenen Produktes sein? Zu lange haben die Kapitalisten aus der nationalen Isolierung der Söhne der Arbeit Nutzen gezogen. Die auswärtige Konkurrenz liefert stets einen bequemen Vorwand zur Herabsetzung der Löhne. Lange genügten die Trade Unions dieses Landes, die Löhne aufrechtzuerhalten. Aber der Freihandel hat die Verhältnisse geändert. Die Arbeiter des Kontinent arbeiten länger und um geringeren Lohn als die Großbritanniens. Wenn trotzdem dies Land billiger produziert, dankt es dies nur der höheren Entwicklung seiner Maschinerie. Aber in dem Wettrennen zwischen dem britischen und dem kontinentalen Fabrikanten auf dem Weltmarkt schwindet der Vorsprung des ersteren rasch; noch ist der Brite an der Spitze, aber nur um eine Kopfeslänge. Diese Tatsachen sollten den britischen Arbeitern die Notwendigkeit der Internationalen Arbeiterassoziation zeigen. Sie hat überall auf dem Kontinent die Gründung von Gewerkschaften gefördert und deren gemeinsames einheitliches Vorgehen vermittelt.«

Durch Streiks die Arbeitszeit und Lohnhöhe auf ein Niveau bringen

Dies wird für die verschiedenen Länder illustriert, dann fährt der Generalrat fort: »Den britischen Gewerkschaften hat sie besondere Dienste erwiesen, indem sie ihnen Mitteilungen vom Auslande zukommen ließ, wenn es notwendig war, und auf dem Kontinent wahrheitsgetreue Darstellungen ihrer Differenzen mit den Kapitalisten verbreitete, wodurch sie diese verhinderte, ihre Leute durch ausländische Arbeiter zu ersetzen.«

Der Staatsanwalt konstatierte in seiner Anlage gegen das Pariser Komitee, dass einer der Hauptgründe, die Verurteilung der Komiteemitglieder zu verlangen, darin bestehe, dass sie nicht bloß auf alle Streiks in Frankreich einen übermäßigen Einfluss übten, sondern sogar solche im Ausland mit Erfolg unterstützten. So zum Beispiel hatte das Pariser Komitee während des Streiks der englischen Zinkarbeiter, Schneider und Eisenbahnbediensteten französische Arbeiter gehindert, sich nach England zu begeben.
»Dem ständigen Geschrei der britischen Kapitalisten, dass die längere Arbeitszeit und die geringeren Löhne der kontinentalen Arbeiter eine Lohnherabsetzung unvermeidlich machten, kann man nur durch das Streben erfolgreich begegnen, die Arbeitszeit und Lohnhöhe durch ganz Europa auf das gleiche Niveau zu bringen. Das ist eine der Aufgaben der Internationalen Arbeiterassoziation.«

Nein zu Einwanderungserschwerungen für freie Arbeiter

Also nicht Einwanderungserschwerungen für freie Arbeiter – der Kampf gegen Kontrakt- und Schuldsklaverei gehört in ein anderes Kapitel – ebensowenig wie Schutzzölle zur Fernhaltung von Waren, die von bedürfnislosen Arbeitern produziert werden – beide Maßregeln entstammen dem selben Gedankengang und sind eng miteinander verwandt – , nichts von alledem forderte der Generalrat, also auch Marx, zum Schutze der englischen hohen Löhne und derselben Arbeitszeiten durch Gewerkschaften und Arbeiterschutz in allen kapitalistischen Ländern.Das ist in der Tat die einzige Methode, die Errungenschaften günstiger gestellter Teile des internationalen Proletariats sicherzustellen. Sie werden stets gefährdet sein, solange sie nur einer Minderheit gehören, und um so mehr gefährdet sein, je tiefer dieser Minderheit gegenüber die Mehrheit der proletarischen Massen steht. Das gilt für die Massen innerhalb eines Landes wie für die des gesamten Weltmarktes. Durch Solidarität, durch Unterstützung der Zurückgebliebenen, nicht durch Exklusivität, durch Abschließung und Niederhaltung dieser kann ein vorgeschrittenes Proletariat sich behaupten. Wo es unter dem Einfluss kurzsichtiger Zünftlerei der letzten Methode verfällt, macht sie früher oder später bankrott und wird sie von vorneherein eines der verderblichen Mittel zur Lähmung des proletarischen Emanzipationskampfes.