In Irland gehen die Menschen in Massen auf Distanz zum politischen Establishment. Getragen von großen Protestbewegungen gegen die Kürzungen der Regierung konnte die irische Linke bei den Parlamentswahlen einen wichtigen Sieg feiern. Von Frank Mac Shimidh
Die irischen Regierungsparteien wurden für ihre Austeritätspolitik der letzten fünf Jahre von den Wählerinnen und Wählern abgestraft. Es wird keine Neuauflage ihrer Koalition geben. Landesweit stürzte die nationalkonservative Fine Gael um 10,6 Prozentpunkte auf 25,5 Prozent ab. Der Labour Party erging es sogar noch schlimmer: Die Partei verlor zwei Drittel ihrer Wählerinnen und Wähler und stürzte auf 6,6 Prozent ab. Die Zahl der gewählten Abgeordneten sinkt bei der Fine Gael von 76 auf 46 und bei Labour von 37 auf 6.
Die Dynamik der Massenproteste gegen die Einführung von Wassergebühren und anderen Massensteuern sowie gegen die Zusammenstreichung des sozialen Wohnungsbaus hat die politischen Machtverhältnisse zugunsten einer linken Alternative gegen die Austeritätsagenda der etablierten Parteien umgewälzt. Angeführt werden die Proteste von der radikalen Linken. Das antikapitalistische Wahlbündnis People Before Profit/Anti Austerity Alliance (PBP/AAA), erst im August 2015 gebildet, holte aus dem Stand landesweit knapp vier Prozent und konnte mit sechs Parlamentssitzen ebenso viele wie die Labour Party gewinnen. Zudem gehören fünf weitere Abgeordnete des neuen Parlaments der radikalen Linken an, die als Unabhängige angetreten.
No way, we won’t pay!
Die elf gewählten Kandidatinnen und Kandidaten der radikalen Linken vereint die Unterstützung der Kampagne Right2 Water und ihr Aufruf zum Zahlungsboykott gegen die Wassergebühren, eine jährliche Massensteuer, die momentan 160 Euro für Einpersonenhaushalte und 260 Euro für Mehrpersonenhaushalte beträgt. Bis 2015 wurde die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung noch durch die Gemeinden getragen und durch Steuern finanziert. Die Beiträge könnten schnell steigen, sobald der gesellschaftliche Druck nachlässt, denn momentan boykottiert ungefähr die Hälfte der irischen Bevölkerung die Gebühren. Die bisherige Regierung hat erfolglos versucht mit Preisnachlässen Haushalte zur Zahlung zu bewegen. Überall im Land bildete sich Widerstand von unten gegen die Zahlung der Gebühren und gegen die Installation von Wasseruhren, welche teilweise nur durch polizeiliche Gewalt durchgesetzt werden kann.
Die Gründung des staatlichen Wasserunternehmens Irish Water im Jahr 2013, dem heute die Privatisierung droht, sowie die Einführung der Wassergebühren 2014 waren Teil des Memorandums des EFSF-Programms, das Irland im November 2010 unterzeichnete, nachdem die Vorgängerregierung aus Fianna Fáil, Grünen und Progressive Democrats die Banken und Anleihegläubiger vor der drohenden Pleite nach dem Platzen der Immobilienblase 2007 rettete.
In der Parlamentswahl ist diese Regierung damals abgestraft worden. Fianna Fáil, die Irland über Jahrzehnte zumeist mit absoluten Mehrheiten regierte, holte mit landesweit 17,4 Prozent und 20 Abgeordneten das niedrigste Wahlergebnis ihrer Geschichte. Sie wurde nur dritte Kraft hinter Labour. Die bürgerlichen Medien stellen nun Fianna Fáil als Sieger der Parlamentswahl 2016 dar, weil sie wieder etwas zulegen konnte. Tatsächlich ist es aber ihr zweitschlechtestes Wahlergebnis und keineswegs ein Zeichen alter Stärke.
Wahlsieger ist die Anti-Austeritäts-Bewegung
Weil die radikale Linke sich an die Spitze der Bewegung setzte, haben ihre Kandidatinnen und Kandidaten durch die Dynamik der Massenmobilisierung auch bei der Parlamentswahl gewinnen können. Der Right2 Water-Kampagne ging seit 2013 die Right2 Housing-Kampagne voraus, die sich gegen eine Massensteuer auf Wohneigentum richtet und für mehr sozialen Wohnungsbau und gegen die wachsende Obdachlosigkeit kämpft. Da in Irland die meisten Menschen ein kleines Eigenheim besitzen und der Marktwert durch die wieder anwachsende Immobilienblase so hoch ist, dass die Menschen kaum ihre Wucherkredite bedienen können, belastet diese Steuer auf Wohneigentum vor allem kleine Haushalte. Gebündelt wurden beide sozialen Kampagnen unter der Plattform Right2 Change.
Das landesweite Ergebnis für die PBP/AAA von knapp 4 Prozent der Stimmen erscheint zwar noch nicht als Ausdruck einer allgemeinen Wechselstimmung, da aber Irland mit der übertragbaren Einzelstimmabgabe ein Form des Mehrheitswahlrechts hat, muss auf die einzelnen Wahlkreise geschaut werden, in denen Kandidatinnen und Kandidaten der PBP/AAA und andere unabhängige radikale Linke beachtliche Erfolge erzielten:
Richard Boyd Barrett von PBP konnte im südöstlich von Dublin gelegenen Wahlkreis Dún Laoghaire die meisten Gesamtstimmen aller Kandidaten gewinnen. Sein Erfolg ist umso beachtlicher, da durch die undemokratische automatische Wiederwahl des Parlamentssprechers Seán Barrett von Fine Gael in diesem Wahlkreis die Quote zur Wahl eines Kandidaten mit 25 Prozent besonders hoch liegt und Dún Laoghaire traditionell eine Hochburg der Fine Gael war.
Ruth Coppinger von der AAA gewann im Wahlkreis Dublin West souverän den dritten von vier Sitzen, noch vor der Labour-Vorsitzenden und stellvertretenden Ministerpräsidentin Joan Burton, die sich nur knapp den vierten Sitz vor Paul Donnelly von der Sinn Féin sichern konnte. Mit Gino Kenny von PBP wurde erstmals auch im Wahlkreis Dublin Midwest ein langjähriger Aktivist gewählt, der dort selbst in den Arbeitervierteln aufgewachsen ist. In Dublin South-Central konnten mit Joan Collins (Independents4Change) und Bríd Smith (PBP) gleich zwei linke Aktivistinnen, jeweils einen von vier Sitzen gewinnen. In einem Wahlkrimi, der sich durch Neuauszählungen über vier Tage hinzog, gewann Bríd Smith schließlich mit 35 Stimmen Vorsprung den vierten Sitz gegen die Kandidatin der Fianna Fáil.
Die Schwesterpartei der LINKEN setzte auf Regierungsbeteiligung
Die Opposition unter den etablierten Parteien, die linksreformistische Sinn Féin (»Wir selbst«), konnte bei den Parlamentswahlen nicht wesentlich zulegen. Sie holte zwar mit landesweit 13,8 Prozent und 23 Abgeordneten 3,9 Prozentpunkte und 9 Abgeordnete mehr gegenüber dem Jahr 2011, blieb jedoch deutlich hinter den Erwartungen zurück. Das liegt vor allem daran, dass sie selbst mit der Austeritätspolitik in Verbindung gebracht wird. In Nordirland setzt Sinn Féin in der sektiererisch zusammengesetzten Exekutive mit der unionistischen DUP und zwei kleineren Parteien selbst eine Sparpolitik durch. Sinn Féin, die Schwesterpartei der LINKEN, unterstützt zwar auch die Right2 Water-Kampagne, sie ruft jedoch nicht aktiv zum Boykott der Wassergebühren auf. Stattdessen verspricht sie für den Fall, dass die Mehrheitsverhältnisse eine linke Regierung unter ihrer Führung hervorbringen, die Wassergebühren abzuschaffen.
Im Süden des Landes war es laut Umfragen nicht zu erwarten, dass eine linke Partei in die Regierung kommt, wenngleich Sinn Féin mit einer Beteiligung als Juniorpartner in einer Koalition mit der nationalliberalen Fianna Fáil liebäugelte, was beide nun nach der Parlamentswahl jedoch ausgeschlossen haben und was durch die Mehrheitsverhältnisse auch nicht möglich wäre. Sinn Féin begeht dabei den selben Fehler, wie andere linksreformistische Parteien in Europa: Sie versprechen den sozialen Bewegungen gegen die Austerität einen Wandel der Politik von oben, sobald sie in die Regierung gewählt werden. Dabei unterschätzen sie jedoch die Fähigkeit einer kämpferischen Arbeiterklasse für sich selbst Gegenmacht zu mobilisieren und sie überschätzen die Möglichkeiten einer Transformation des kapitalistischen Systems durch Regierungsbeteiligungen und über die Institutionen der EU.
Von der Orientierung auf soziale Bewegungen lernen
Die radikale Linke in Irland hat sich dagegen in die sozialen Bewegungen gegen die Austerität eingebracht, um hierdurch einen politischen Wandel zu erkämpfen. Die politische Elite fürchtet das gewaltige Potenzial dieser Massenbewegungen, die sich nicht nur gegen die Wassergebühren richten. Jüngst gab es auch in Irland den Versuch mit Pegida Ireland eine rassistische Bewegung zu etablieren. Doch dies konnte durch die Gegenmobilisierung aus der Anti-Austeritäts-Bewegung abgewehrt und im Keim erstickt werden. Die wenigen dutzend Rassisten wurden von einer antirassistischen Massenmobilisierung aus dem Stadtzentrum Dublins verdrängt.
Die bürgerlichen Medien, vor allem die konservative Irish Times, berichteten darüber kaum und ließen die Aktivistinnen und Aktivisten der sozialen Bewegungen kaum zu Wort kommen – vor allem die Abgeordneten der PBP und der AAA, die zugleich das Sprachrohr der Bewegungen in Parlament und Öffentlichkeit sind. Sogar in den Wahlumfragen wurden ihre Ergebnisse unter »Unabhängige/Andere« zusammengefasst, obwohl dieser Balken größer und größer wurde. Erst nachdem in den Umfragen sich der Erfolg des Wahlbündnisses PBP/AAA nicht länger leugnen ließ, lud der nationale Fernsehsender RTÉ ONE auch PBP/AAA zu einer »leader’s debate« ein. Richard Boyd Barrett (PBP) sprach dort für das gemeinsame Wahlbündnis und brachte die gemeinsamen Kernforderungen ein.
Die bürgerlichen Medien versuchten stattdessen Lucinda Creightons Renua Ireland, eine Rechtsabspaltung von Fine Gael, welche der AFD in ihrer Anfangszeit ähnelt, als politische Kraft aufzubauschen. Ihr Scheitern bei der Parlamentswahl war das Verdienst der Mobilisierung der sozialen Bewegung Right2 Change. Hierin besteht auch eine wichtige Lehre für die deutsche Linke: Die rassistische Gefahr, die von der AFD ausgeht, kann nur durch eine breit angelegte antirassistische Kampagne gestoppt werden.
Die große Verliererin der Wahl heißt Labour
In Jobstown, südwestlich von Dublin, kam es im November 2014 zu einem Protest gegen die Wassergebühren. Der Dienstwagen der stellvertretenden Ministerpräsidentin Joan Burton von der Labour Party wurde dabei an der Weiterfahrt gehindert. Die Demonstrierenden wuchsen schnell auf mehrere hundert Menschen an. Als die Polizei drohte die Versammlung gewaltsam auflösen zu lassen, verhandelte der Abgeordnete Paul Murphy von der AAA zwischen ihr und den Protestierenden. Einige Zeit später wurden er und 27 andere Aktivistinnen und Aktivisten morgens früh bei sich zu Hause von der Polizei verhaftet und stundenlang verhört. Sie wurden wegen ihrer Blockade der »Freiheitsberaubung« von Joan Burton beschuldigt, ein klarer Fall von politischer Verfolgung, der sich gegen die Anti-Wassergebühren-Bewegung richtete.
Solche Proteste gegen Wassergebühren und gegen andere Massensteuern, für mehr sozialen Wohnungsbau und gegen die Privatisierungen im Gesundheitssystem politisierten in Irland in den letzten Jahren immer mehr Menschen: 2015 kam es in Dublin zu zwei Massendemonstrationen der Bewegung Right2 Water, an denen bis zu 100.000 Menschen teilnahmen. Damit waren die Demos die wahrscheinlich größten Massenaktionen seit der irischen Revolutionsphase 1913-1923. Zugleich wurde immer mehr Menschen bewusst, wie weit sich insbesondere die Labour Party, die von sich behauptet in der Tradition des revolutionären Sozialisten und Marxisten James Connolly zu stehen, von ihren sozialen Forderungen entfremdet, sie verraten und verkauft hat. Labour, bei der Parlamentswahl 2011 noch der Hoffnungsträger vieler prekär beschäftigter Lohnabhängiger, wurde von den Menschen nun für ihren Verrat bestraft. In einigen Wahlkreisen verlor die Partei beinahe 30 Prozent gegenüber ihrem Ergebnis von 2011.
Nach der Wahl in Irland: Wie weiter?
Die einst großen Volksparteien, deren Wurzeln in der Konterrevolution des irischen Bürgerkriegs liegen, Fianna Fáil, die Irland über 70 Jahre regierte, und Fine Gael, die sich mit dieser in der Regierung immer mal wieder abwechselte, kommen nun zusammen nur noch auf 45,9 Prozent. Im Jahr 1982 war es mit 84,5 Prozent noch ein fast doppelt so hoher Stimmenanteil. Der historische Klassengegensatz, der einst zwischen ihnen bestand – Fianna Fáil vertrat das Kleinbürgertum, Fine Gael die Großgrundbesitzer und die Bourgeoisie – ist längst aufgehoben. Sie sind beide neoliberale Parteien, die sich in ihrer Austeritätsagenda nicht voneinander unterscheiden. Eine gemeinsame »Große Koalition«, die momentan einzig denkbare Regierungsbildung, würde zum weiteren Zerfall ihrer Parteien führen. Das ist auch ihren Führern klar. Die Option einer Neuwahl ist also nicht ausgeschlossen und scheint sogar wahrscheinlich.
Der Erfolg der antikapitalistischen Parteien PBP und AAA hängt unmittelbar mit ihrer revolutionären Strategie und Praxis als Bewegungsparteien zusammen. Mit sechs Abgeordneten verpassen PBP/AAA zwar knapp die notwendige Anzahl von sieben Abgeordneten um eine Fraktion zu bilden, was ihnen mehr Rederecht eingebracht hätte, aber wenn es zu einer Neuwahl kommen sollte, hätte das Wahlbündnis PBP/AAA beste Chancen, aus der Dynamik der Anti-Austeritäts-Bewegung von Right2 Change heraus ihr Ergebnis noch weiter zu verbessern.
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