Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Truppen die Insassen des KZ Auschwitz-Birkenau. Im größten Vernichtungslager der Nationalsozialisten wurden mehr als eine Million Menschen ermordet. Kann es eine Erklärung für die Barbarei von Auschwitz geben? In seinem Text »Ausloten der Abgründe – Marxismus und der Holocaust« zeichnet Alex Callinicos1 die Debatten der Holocaustforschung nach und versucht so einer Antwort näher zu kommen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch im Jahr 2001 unter dem Titel »Plumbing the depths: Marxism and the Holocaust.« Die Übersetzung ins Deutsche wurde erstmals 2005 von marx21 veröffentlicht. Mehr zum Thema sowie auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Aufsatz von Alex Callinicos findest Du im Buch »Faschismus und der Holocaust: Versuch einer Erklärung« von Horst Haenisch, herausgegeben von Edition Aurora im Jahr 2017.
Kein Thema stellt eine größere Herausforderung für den Marxismus dar als der Holocaust.2 Karl Marx versuchte als Erbe wie auch Kritiker der Aufklärung, die gesellschaftlichen Beschränkungen ihres Strebens nach allgemeiner Emanzipation durch die Kraft der Vernunft aufzuzeigen, indem er die materiellen Wurzeln ihrer Ideale in der »verborgnen Stätte der Produktion« aufspürte. Gleichzeitig radikalisierte er diese Ideale zu dem ethischen und politischen Antrieb, die Welt von jeder Form der Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien – was er als junger Mann zum »kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, erklärte.3
Der Holocaust wird – aus guten Gründen, die ich hier nicht wiederholen muss – allgemein als der extremste Fall menschlicher Bosheit angesehen. All die verschiedenen Arten der Beherrschung vereinigten sich in Auschwitz – Rassismus, der sich gegen Juden, Slawen und Roma richtete; die wirtschaftliche Ausbeutung von Sklavenarbeit; die Unterdrückung von Homosexuellen und Frauen; die Verfolgung von abweichenden Minderheiten wie Kommunisten und Zeugen Jehovas. Kein menschliches Phänomen kann größere Anforderungen an die Erklärungskraft des Marxismus stellen. Es mag sogar mit Berechtigung bezweifelt werden, ob irgendeine Gesellschaftstheorie Licht in die Finsternis von Auschwitz bringen kann.
Erklärung und Schweigen
Einige denken natürlich, es sei falsch, auch nur den Versuch zu unternehmen. Für den Auschwitz-Überlebenden und Nobelpreisträger Elie Wiesel »verweigert« der Holocaust »alle Antworten«, er »liegt außerhalb, wenn nicht jenseits der Geschichte«, »widersetzt sich dem Wissen wie der Beschreibung«, wird »niemals zu erfassen oder zu vermitteln sein«.4 Ebenso wird jeder Versuch abgelehnt, den Holocaust mit anderen Grausamkeiten zu vergleichen. Folglich sei das Bezweifeln der Einmaligkeit des Holocausts nach Deborah Lipstadt »viel hinterhältiger als offene Leugnung. Es nährt die und nährt sich von der Holocaust-Verneinung.«5
Diese Haltung scheint mir grundlegend falsch zu sein. Es sollte einleuchten, dass jeder ernsthafte Versuch, die Einmaligkeit des Holocausts aufzuzeigen, nur erfolgreich sein kann, wenn Vergleiche zwischen dem nationalsozialistischen Genozid und anderen Fällen von Massenmord gezogen werden, und sei es auch nur indirekt.6 Hinter der Weigerung, Vergleiche zu ziehen, verbergen sich häufig weniger religiöser Respekt vor den Opfern als vielmehr banale ideologische und politische Motive. So überredete 1982 die israelische Regierung Wiesel und andere prominente amerikanische Juden, ihre Teilnahme an einer wichtigen internationalen wissenschaftlichen Konferenz in Tel Aviv, in deren Rahmen auch eine Veranstaltung zum Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 geplant war, abzusagen, um den guten Verbündeten Israels und der Vereinigten Staaten, die Türkei, nicht zu verärgern.7
Wichtiger ist, dass es bei dem Gedenken an den Holocaust zweifellos nicht nur darum gehen kann, das Leiden der Opfer anzuerkennen, sondern auch ein politisches Bewusstsein aufrechtzuerhalten, das gegenüber jedem Anzeichen einer Wiederholung von Naziverbrechen wachsam ist. Aber jedes kenntnisreiche Urteil über die Wahrscheinlichkeit solch einer Wiederholung hängt von dem Verständnis der Kräfte ab, die sie ursprünglich erzeugten. Die Parole der antifaschistischen Bewegung, »Nie Wieder!«, ist sinnlos, solange wir keine Idee von der Natur des Ereignisses haben, dessen Wiederholung wir verhindern wollen. Walter Garrison Runciman hat eine brauchbare Unterscheidung zwischen Erklärung und Beschreibung eines gesellschaftlichen Ereignisses getroffen. Mit der Erklärung sollen die ursächlichen Mechanismen hinter dem Ereignis erkannt, mit der Beschreibung dagegen »verstanden werden … wie es für die Handelnden war«, die fraglichen Handlungen vorzunehmen – die Erfahrungen der Beteiligten nachvollzogen werden.8 Den Holocaust in diesem Sinne zu beschreiben – zu zeigen, wie es gewesen sein muss, Opfer oder auch Täter oder Zuschauer zu sein –, sollte vielleicht am besten unterschiedlichsten Autobiografien oder der Kunst überlassen werden (obwohl es natürlich große Auseinandersetzungen über die angemessene Darstellungsweise gibt).9
Dass die Sozialwissenschaften zu der Erklärung beitragen können, wie es zu Auschwitz kommen konnte, zeigt sich an einigen herausragenden Werken, vielleicht besonders an Zygmunt Baumans Modernity and the Holocaust. Es muss jedoch gesagt werden, dass der direkte Beitrag des Marxismus in dieser Fülle von Werken sehr klein ist. Im Wesentlichen wurde der Holocaust in marxistischen Schriften als extremster Fall des allgemeinen Übels der modernen kapitalistischen Gesellschaft erwähnt. Der belgische Trotzkist Ernest Mandel (der selbst als junger Résistance-Kämpfer nur knapp der Verschleppung nach Auschwitz entging) kann als Vertreter der klassischen marxistischen Tradition gesehen werden. Norman Geras beschreibt in einem wichtigen kritischen Aufsatz, zu dem ich gleich zurückkehren werde, Mandels Position wie folgt: »Ihm zufolge ist die Vernichtung der Juden Europas rational erklärbar als Ergebnis des imperialistischen Kapitalismus, und als solche ist sie offenkundig vergleichbar mit anderen Barbareien dieser sozioökonomischen Formation.«10
Entsprechend argumentiert Mandel, dass »der Keim des Holocausts im extremen Rassismus des Kolonialismus und Imperialismus zu finden ist«, der im Rahmen eines totalen Kriegs mit „der besonderen – zunehmend destruktiven – selbstmörderischen Kombination von ›perfekter‹ partieller Rationalität und extremer globaler Irrationalität, die den zeitgenössischen Kapitalismus kennzeichnet«, zusammenwirkte.11 Geras stellt fest: »Mandel zeigt sehr wenig Gespür und versucht auch nicht, die Einmaligkeit oder Besonderheit der Schoah zu untersuchen.«12 Dabei muss jedoch gesehen werden, dass ein ähnlicher Mangel an Gründlichkeit auch weniger orthodoxe Marxisten als Mandel kennzeichnet.
Max Horkheimer und Theodor Adorno widmen in ihrem Buch Dialektik der Aufklärung einen bekannten Aufsatz den »Elementen des Antisemitismus«, in dem sie die Naziideologie und die Ermordung der Juden als ein Beispiel der allgemeinen Tendenz zur Rationalisierung behandeln, die in ihren Augen ein Kennzeichen der Moderne ist: Die Natur, unterdrückt und beherrscht im Rahmen der »total verwalteten Welt«, kehrt in barbarischer und irrationaler Gestalt zurück. Der Holocaust wird so auf ein Symptom einer allgemeineren Unordnung beschränkt.13 In seinem Buch Zeitalter der Extreme, einer neueren und überall gelobten marxistischen Erzählung des »Kurzen zwanzigsten Jahrhunderts« (1914–1990), betrachtet auch Eric Hobsbawm die Vernichtung der Juden lediglich als bekanntestes Beispiel für das Abgleiten der Epoche in die Barbarei: Seine Diskussion der Auswirkungen des Faschismus konzentriert sich mehr auf die Volksfronten, die von den kommunistischen Parteien in Reaktion darauf eingegangen wurden, und weniger auf die Gräueltaten, die der Nationalsozialismus beging.14
Diese Unschärfe in Bezug auf den Holocaust als besonderes Phänomen ist natürlich nicht nur dem Marxismus zu eigen. Die widersprüchliche Tendenz, dass die Beschäftigung mit der Ausrottung der Juden umso intensiver wird, je weiter das Ereignis in die Vergangenheit rückt, ist ein verblüffendes Merkmal der westlichen Kultur zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, das kürzlich selbst zum Gegenstand historischer Interpretationen und Auseinandersetzungen geworden ist. Aber wenn diese Beschäftigung eine Erklärung erfordert, so auch das weitgehende Schweigen über den Holocaust in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg, als Erinnerungen an die Schrecken der Naziherrschaft noch frisch waren. Enzo Traverso, der wie Norman Geras einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer echten marxistischen Antwort auf den Holocaust in den letzten Jahren geleistet hat, argumentiert, dass zumindest unter den Linken dieses Schweigen den erneuten Einfluss des Optimismus der Aufklärung widerspiegelte:
Die Niederlage des Nationalsozialismus, das Vorrücken der Roten Armee in Mitteleuropa und das beeindruckende Wachstum der kommunistischen Parteien in Ländern, in denen sie eine führende Rolle im Widerstand gespielt hatten, förderten in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Rückkehr zu einer Fortschrittsphilosophie. Dabei blieb wenig Raum für das Verarbeiten der Katastrophe. Der Marxismus war deshalb durch sein Schweigen zur Frage von Auschwitz gekennzeichnet.15
Das scheint mir als allgemeine Erklärung falsch zu sein. Peter Novick hat in seiner hervorragenden Studie über die Darstellung des Holocaust in den Vereinigten Staaten behauptet, dass sowohl während als auch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Auslöschung der Juden nicht als einmaliges Ereignis verstanden wurde, sondern in »universalistischen« Begriffen, als zweifellos das schlimmste unter den Naziverbrechen, aber nicht als eins, das von den Verbrechen gegen Nichtjuden unterschieden werden könne.16
Um kurz eine autobiografische Anmerkung zu machen: Ich wuchs in den 1950er und 1960er Jahren in einem sozialen Umfeld auf, in dem es fast keine Juden gab, aber das Wissen um die Naziverbrechen von Erwachsenen geteilt wurde, die selbst darunter gelitten hatten – mein Vater lebte in Griechenland unter der deutschen Besatzung, während die Eltern meines besten Freundes sowohl unter der Nazi- als auch der stalinistischen Herrschaft in ihrem Heimatland Polen gelebt hatten. Wenn ich mich an unsere Gespräche und die Lektüre erinnere, die wir über den Krieg lasen, dann ist mein überwiegender Eindruck der einer Kontinuität der Gräueltaten – das Wissen um Auschwitz war Teil einer umfassenderen Wahrnehmung der Schrecken, die die Nazis Juden und Nichtjuden gleichermaßen zufügten.
Zumindest lässt sich darüber streiten, ob eine eher »partikularistische« Betrachtung des Holocaust als besondere jüdische Erfahrung, wie sie in den letzten Jahrzehnten an Boden gewonnen hat, notwendigerweise auch zu einem vertieften Verständnis des Nazivölkermords führt. Sowohl Novick als auch (auf viel problematischere Weise) Norman Finkelstein haben die schlichten geopolitischen und sogar wirtschaftlichen Interessen dokumentiert, die den sich ausweitenden Diskurs über den Holocaust unterfüttern.17 Das heißt nicht, dass Traverso sich irrt, wenn er den Marxismus für seine Unfähigkeit anklagt, sich dem Holocaust in seiner Besonderheit zu stellen. Aber es könnte eine andere Erklärung geben als den evolutionären und deterministischen Optimismus, den er dafür verantwortlich macht. Timothy Mason, möglicherweise der größte marxistische Historiker über das Dritte Reich, gestand:
Ich bin immer gefühlsmäßig und deshalb intellektuell gelähmt gewesen angesichts dessen, was die Nazis taten und ihre Opfer erlitten. Die Ungeheuerlichkeit dieser Handlungen und dieses Leidens verlangten gebieterisch Beschreibung wie auch Analyse, und gleichzeitig entzogen sie sich beidem. Ich konnte mich weder der Tatsache des Völkermords stellen noch von ihr lassen und ein weniger herausforderndes Subjekt studieren. Es ist mir fast unmöglich, die Quellen zu lesen oder die Studien und Zeugnisse, die zu diesem Thema verfasst wurden. Ich weiß, dass viele andere Historiker über den Nationalsozialismus eine ähnliche Erfahrung gemacht haben.18
Diese Art Lähmung der Vorstellungskraft angesichts des Holocaust könnte nicht nur in seiner Persönlichkeit wurzeln. Mason gehörte zu den führenden Vertretern der Schule der »Geschichte von unten«, die unter dem Einfluss von Edward Thompson, Christopher Hill und weiteren Historikern in den 1960er und 1970er Jahren entstand. Diese intellektuelle Strömung versuchte den Widerstand, der den eher herkömmlichen Geschichtsdarstellungen verborgen blieb (oder besser: durch sie verdeckt wurde), wiederzuentdecken. Masons eigene Schriften stellen einen besonders bemerkenswerten Fall dieser Wiederentdeckung dar, da er die Formen des Arbeiterkampfs unter dem Hitlerregime rekonstruierte. Es ist leicht einzusehen, wie ein historisch gebildeter Intellektueller, dessen Hauptanliegen die Fähigkeit der Ausgebeuteten ist, ihre Interessen selbst unter den ungünstigsten Bedingungen zu vertreten, es schwer finden mochte, über die umfassendste Auslöschung jeder Hoffnung in den Todeslagern nachzudenken.
Holocaust: Im Angesicht des Bösen
Die Leerstelle, die Mason rückblickend in seinen eigenen wichtigsten Schriften erkannte – »das Fehlen der biologistischen Politik und des Völkermords« –, ist eindeutig in der gegenwärtigen Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus beseitigt worden.19 Raul Hilbergs große Pionierarbeit »Die Vernichtung der europäischen Juden« ist nicht mehr allein auf weitem Feld. Eine Reihe ausgezeichneter Studien, zunehmend von deutschen Historikern, haben unser Verständnis der Natur des Holocaust und seiner Antriebskräfte erheblich erweitert.20
Kann jedoch der Marxismus etwas zu diesem Verständnis beitragen? Norman Geras und Enzo Traverso beziehen sich beide intellektuell und politisch in ihren Schriften über den Holocaust auf die klassische marxistische Tradition von Marx und Engels, Lenin und Trotzki, Luxemburg und Gramsci. Sie argumentieren jedoch, von unterschiedlichen theoretischen Blickwinkeln aus, dass diese Tradition, zumindest in der jetzigen Verfassung, wenig hilfreich sei, den Holocaust zu begreifen. Ich stehe wie sie in dieser Tradition, stimme aber nicht mit ihren Schlussfolgerungen überein. Um deutlich zu machen, warum der Marxismus, wie ich denke, selbst den Nazivölkermord erhellen kann, mag es hilfreich sein, die Gründe, die Geras für die Unzulänglichkeit des Marxismus angibt, zu bedenken.
Geras glaubt, wie wir gesehen haben, dass mit Mandels Verfahren, den Holocaust in einen historischen Zusammenhang zu stellen, der ihn eher in Begriffen allgemeiner Merkmale des Kapitalismus wie Rassismus, Kolonialismus und instrumentelle Rationalität erklärt, die Besonderheit des Mords an den Juden nicht zu erfassen ist. Solche Analysen gehen über ein wesentliches Muster der Motivation der Täter hinweg, das, wie Geras argumentiert, sehr gut von Trotzki erfasst wurde, als er Jahrzehnte früher die Pogrome beschrieb, die die zaristischen Schwarzen Hundertschaften in Reaktion auf die russische Revolution von 1905 verübten. Geras denkt hier vor allem an diese wahrhaft verblüffende Passage:
Ihm ist alles erlaubt [dem Mitglied der antisemitischen Bande], er darf alles, er ist Herr über Gut und Ehre, über Leben und Tod. Wenn er die Lust dazu verspürt, schleudert er aus einem Fenster im dritten Stock eine alte Frau zusammen mit einem Konzertflügel aufs Straßenpflaster hinunter, zerschmettert einen Stuhl am Kopfe eines Säuglings, vergewaltigt ein kleines Mädchen vor den Augen der Menge, treibt Nägel in lebendiges Menschenfleisch … Es schlachtet ganze Familien hin; er begießt das Haus mit Petroleum, verwandelt es in einen lodernden Scheiterhaufen und gibt jedem, der sich aus dem Fenster aufs Pflaster wirft, mit dem Knüttel den letzten Rest … Es gibt keine Marter, die nur ein von Schnaps und Wut tollgemachtes Hirn aushecken kann, vor der er gezwungen wäre, Halt zu machen. Denn ihm ist alles erlaubt, er darf alles …21
Diese Erfahrung mit den barbarischen, durch die Konterrevolution entfesselten Impulsen, so Geras, ermöglichte Trotzki dreißig Jahre später, den Holocaust vorherzusehen, als er im Dezember 1938 voraussagte, »die nächste Entwicklung der Weltreaktion bedeutet mit Sicherheit die physische Vernichtung der Juden«.22
Schon lange vor 1938 hatte Trotzki in die Abgründe geblickt. Er hatte den Geist schrankenlosen Rausches gesehen, die Begeisterung, die Menschen fühlen können, wenn sie erbarmungslos Macht über andere ausüben, und die »Totalheit«, die in der Erniedrigung liegt – den Schrecken wie die Freude, die daraus gezogen werden, dieses tödliche Paar in der schon stattfindenden Auslöschung. Er hatte auch eines der schrecklichsten Gesichter der menschlichen Freiheit gesehen, selbstbewusst gegen ihre anderen, besseren Gesichter gewandt. In all dem hatte er etwas von dem gesehen, das schließlich auch in der Schoah zu finden war, einschließlich des Elements einer nicht reduzierbaren Wahl. Die Vorbedingungen und den diese Art von Wahl umgebenden Zusammenhang können und müssen immer untersucht und beschrieben werden. Letztendlich jedoch bleibt sie, was sie ist: unterdeterminiert, eine Wahl.23
Obwohl dies die Einsichten eines »starken und schöpferischen marxistischen Intellekts« waren, wie Geras schreibt, überschreiten sie für ihn gleichzeitig die Grenzen eines konventionellen Marxismus, der sich gerade mit den »Vorbedingungen und dem umgebenden Zusammenhang« beschäftigt, auf die der Wille zur Zerstörung, wie er sich sowohl in den zaristischen Pogromen als auch im Holocaust selbst zeigte, nicht reduziert werden kann. Diese Einsichten erhellen einen Aspekt des Holocausts, der seiner Ansicht nach in der Regel in den Interpretationen wie der von Baumann vernachlässigt wird, der die Rolle der charakteristischen Strukturen der Moderne betont – zum Beispiel die bürokratische Arbeitsteilung und der umfangreiche Einsatz von Technologie –, die vielen Tätern ermöglichen, sich emotional wie auch physisch von den Verbrechen zu distanzieren, zu deren Begehen sie beitragen. Geras argumentiert, dass solche Analysen »den grausamen Bedürfnissen und dem ungewöhnlichen Hochgefühl … der emotionalen Aufladung, die der Angriff auf den Unschuldigen erzeugt und vielleicht auch erfordert«, wie sie in vielen Beschreibungen der Nazigräueltaten zu finden sind, nicht das angemessene Gewicht geben. »Hierin liegt etwas, das nicht mit Moderne zu tun hat; etwas, das nicht mit Kapitalismus zu tun hat. Es geht um Menschlichkeit.«24
Dieser letzte Satz zeigt, dass hinter Geras’ Argument letztendlich eine bestimmte Vorstellung von der Natur des Menschen steht. An anderer Stelle legt er diese Annahme offen, wo er behauptet, die Fähigkeit zum Bösen sei ein wesentliches Muster der Natur des Menschen, das neben gutartigeren Wesenszügen besteht, und dass eine sozialistische Theorie und Praxis diesem Potenzial Rechnung tragen muss.25 Die Eingebung Trotzkis in der von Geras zitierten Passage sollte in der Tat im Interesse eines wirklichen Verständnisses von Massenmord aufgegriffen werden. Eine erstaunlich ähnliche Analyse der psychologischen Mechanismen, wie sie Trotzki beschreibt, legte kürzlich aus der Perspektive eines eigenwilligen Lacan’schen Marxismus Slavoj Žižek vor:
… obwohl oberflächlich gesehen der totalitäre Herrscher … strenge Befehle erlässt, uns zwingt, unseren Freuden zu entsagen und uns selbst einer höheren Pflicht zu opfern, ist seine wirkliche Verfügung, erkennbar zwischen den Zeilen seiner Worte, das genaue Gegenteil – der Ruf nach zwangfreier und ungehemmter Überschreitung. Statt uns eindeutige Standards aufzuerlegen, denen wir bedingungslos gehorchen müssen, hebt der totalitäre Herrscher (moralische) Strafe auf – das heißt, seine geheime Verfügung lautet, Du darfst!: Die Verbote, die das gesellschaftliche Leben zu regeln und ein Minimum von Anstand zu gewährleisten scheinen, sind letztendlich wertlos, lediglich ein Kunstgriff, um die einfachen Leute in Schach zu halten, während du den Feind töten, vergewaltigen und ausrauben darfst, dich gehen lassen und ungezügelt amüsieren, normale moralische Verbote verletzen darfst … solange du Mir folgst!26
Hierin liegt eine echte Erkenntnis. Sie ist allerdings nicht ausreichend. Für sich allein genommen leidet sie unter demselben Mangel an Gründlichkeit, den Geras Mandels Interpretation des Holocausts vorwirft. Lediglich an eine menschliche Fähigkeit zum Bösen zu erinnern, um die Vernichtung der Juden zu erklären, die perverse Befreiung, die wir genießen können, indem wir anderen, ohne Beschränkungen zu unterliegen, Leid zufügen, kann die Tatsache nicht erklären, dass diese Episode – so entsetzlich, dass sie die Vorstellungskraft übersteigt – genau dies war: eine historische Episode, zeitlich und räumlich begrenzt. Für sich genommen erinnert mich diese Idee an eine meiner Lieblingscharaktere von Woody Allen, Frederick, den melancholischen Künstler, gespielt von Max von Sydow in »Hannah und ihre Schwestern«, der all das Grübeln über die Frage, warum der Holocaust stattfand, als idiotisch zurückweist, da die wirkliche Frage laute, warum er nicht ständig stattfinde.
Formal betrachtet, berücksichtigt Geras diesen Einwand: Sein Ziel ist, wie er deutlich macht, ein Korrektiv zu anderen, eher gesellschaftlichen Erklärungen zu sein, die sich auf den Kapitalismus und die Moderne berufen. Aber um das Bild abzurunden, kann es nicht einfach darum gehen, die Liste der materiellen, sozialen und ideologischen Vorbedingungen für den Holocaust zu ergänzen, die Mandel beispielsweise aufstellt. Zu glauben, dies würde ausreichen, würde bedeuten, die Rolle der gesellschaftlichen Umstände lediglich als Auslöser aufzufassen, der die unter der Oberfläche lauernden, zerstörerischen Impulse freisetzt. Diese Umstände wären dann die Hülle, die durch den Drang zur Überschreitung gefüllt würde. Aber die Beziehung zwischen gesellschaftlichen und psychologischen Mechanismen ist wesentlich vielschichtiger und dynamischer, als diese Metaphern nahe legen. Im Fall des Holocaust findet sich das entscheidende vermittelnde Element im Wesen des Nationalsozialismus selbst.27
Revolution und Konterrevolution
An dieser Stelle müssen wir uns mit einer der größten Errungenschaften des klassischen Marxismus beschäftigen, Trotzkis Analyse des Faschismus, die er Anfang der 1930er Jahre entwickelte, als die Nazis ihren Anspruch auf die Macht erhoben. Bemerkenswerterweise bestreiten sowohl Geras als auch Traverso die Bedeutung dieser Analyse für ein Verständnis des Holocaust, trotz des großen Respekts, den sie Trotzki zollen. So schreibt Traverso: »Der Völkermord an den Juden kann nicht erschöpfend als Funktion der Klasseninteressen des deutschen Großkapitals verstanden werden – was in Wirklichkeit ‚letzten Endes‘ das Interpretationskriterium aller marxistischen Theorien über den Faschismus ist –, ein solches Verständnis muss zur Karikatur verkommen.«28
Aber diese Kritik macht selbst aus Trotzkis Theorie eine Karikatur. Die Idee, dass der Nationalsozialismus – und allgemeiner der Faschismus – ein Instrument des Großkapitals ist, gehörte zu den unanfechtbaren Dogmen der Kommunistischen Internationale unter Stalin. Dieser Gedanke wurde auf mehr oder weniger grobe Weise geäußert – zum Beispiel nannte John Strachey den Faschismus »eine der Methoden, zu denen die kapitalistische Klasse greifen kann, wenn die von der Arbeiterklasse ausgehende Bedrohung für die Stabilität des Monopolkapitalismus akut wird«. Und Georgi Dimitrow formulierte die offizielle Kominterndefinition des Faschismus als »die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«.29 Dieselbe Idee wurde von John Heartfield in seiner berühmten Fotomontage »Millionen stehen hinter mir! Der Sinn des Hitlergrußes« bildlich umgesetzt, in der das Gold der Kapitalisten in die ausgestreckte Hand des Führers rinnt (Titelbild einer AIZ-Ausgabe von 1932).30
Gerade in Bezug auf den Aufstieg des Nationalsozialismus vermeidet Trotzkis Analyse solch grobe Porträts von Hitler als einfache Marionette des Großkapitals. Ihre Originalität liegt in Trotzkis Einschätzung des Nationalsozialismus als einer Massenbewegung, was durch Betrachtung von zwei gegensätzlichen historischen Interpretationen des Nationalsozialismus verdeutlicht werden kann. Einer der besonders herausragenden jüngsten Versuche, zu einem umfassenden Verständnis des Holocausts zu kommen, wurde von Arno Mayer in seinem Buch »Der Krieg als Kreuzzug« unternommen. Mayers Darlegung, die in dem Titel seines Buches zusammengefasst ist, beruht auf dem Vergleich zwischen dem »Judeozid«, wie er es nennt, und den weit verbreiteten Massakern an Juden, die den ersten Kreuzzug Ende des 11. Jahrhunderts begleiteten. Er vertritt die Auffassung, dass die »Operation Barbarossa« – Hitlers Einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 – ein moderner antibolschewistischer Kreuzzug war, unterstützt von den oberen Klassen des europäischen Festlands, die, zum Äußersten entschlossen, die rote Gefahr ausrotten wollten.
In einer früheren Studie hatte Mayer argumentiert, dass das Ancien Régime (die alte Gesellschaftsordnung) mit seinen wesentlichen Merkmalen – der gesellschaftlichen und politischen Vorherrschaft der landadeligen Eliten – bis 1914 überlebt habe.31 Was er »die allgemeine Krise und der Dreißigjährige Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts« nennt – die Katastrophenepoche zwischen 1914 und 1945 –, stelle eine Krise des Ancien Régime dar. Ihr Hauptmerkmal sei der konterrevolutionäre Widerstand der alten Eliten angesichts der Bedrohung ihrer Privilegien durch die Russische Revolution und die internationale kommunistische Bewegung, die sie beseelte. Sogar der Nationalsozialismus sei ein Ausdruck dieses Impulses gewesen: »Während er [Hitler] in den mittleren Rängen der deutschen Gesellschaft, die selbst Opfer der Modernisierung waren oder sich als solche fühlten, Massenunterstützung für den Nationalsozialismus zusammentrommelte, fand er seine entscheidenden Kollaborateure unter den Mitgliedern der alten Eliten, deren Beweggründe weniger in politischem Glauben als in materiellen und persönlichen Interessen lagen.« Dieses Muster, das bei Hitlers Machtergreifung bereits gefestigt war, sei auch in der »Operation Barbarossa« zu erkennen: »Die Nazis verkündeten lautstark, dass der Krieg gegen Sowjetrussland ein Glaubenskrieg gegen den ›Judeobolschewismus‹ sei, was ihnen anfangs erhebliche Sympathie und Unterstützung unter Konservativen, Reaktionären und Faschisten auf dem ganzen Kontinent einbrachte.« Mit dem Scheitern dieses Unternehmens hätten Hitler und seine Henker begonnen, ihre Wut und Verzweiflung gegen die Juden zu richten, indem sie den Holocaust entfesselten: »Die Eskalation und Systematisierung des Angriffs gegen die Juden waren Ausdruck der Verwirrung und Angst angesichts einer möglichen Niederlage, und nicht eines anschwellenden Hochmuts am Vorabend zum Sieg. Tatsächlich kennzeichnete die Entscheidung zur Vernichtung der Juden die einsetzende Niederlage des Nazi-Behemoth, nicht seinen bevorstehenden Triumph.«32
Diese letzte These – dass der »Judeozid« ein Nebenprodukt der gescheiterten Nazipläne zur Eroberung des Ostens war – hat von anderen Historikern des Holocausts beträchtliche Kritik auf sich gezogen.33 Mayers Gesamtinterpretation des Nationalsozialismus gebührt dennoch das nicht zu bezweifelnde Verdienst, die Mittäterschaft der traditionellen deutschen Eliten zu unterstreichen, nicht nur – wie bekannt – bei der Einsetzung Hitlers als Kanzler, sondern auch bei den späteren Verbrechen des Regimes. So hatte das Oberkommando der Wehrmacht den „Kommissarbefehl“ vom 6. Juni 1941 herausgegeben, in dem angeordnet wurde, im Interesse des »Kampfs gegen den Bolschewismus« sowjetische Politkommissare standrechtlich zu erschießen.34 Dieser Befehl gab den Massakern, die durch die SS-Einsatzgruppen nach dem Einmarsch in die UdSSR verübt wurden, die notwendige Rückendeckung. Das Bild einer »guten« Wehrmacht, die im Großen und Ganzen saubere Hände behalten habe, hat der gründlichen Prüfung durch die Historiker nicht Stand gehalten. In Serbien beispielsweise war es die Wehrmacht, die alle erwachsenen männlichen Juden und Roma ermordete.35
Die bildende wie zerstörerische Kraft der Konterrevolution steht im Mittelpunkt von Mayers historischem Ansatz.36 Aber wie auch immer wir über diese Interpretation der modernen europäischen Geschichte denken mögen, sie verleitet Mayer zu einem viel zu undifferenzierten Bild des Nationalsozialismus. Insbesondere unterschätzt er die Konflikte, die die Nationalsozialisten von der vorherrschenden Klasse trennten. Um nur das herausragendste Beispiel zu nennen: Einige der stolzesten Namen der deutschen Aristokratie – unter ihnen Bismarck, Metternich und Moltke – waren an der Verschwörung zur Ermordung Hitlers am 20. Juli 1944 beteiligt; die wütende Rache, die anschließend von der SS genommen wurde, schlug eine Schneise durch die höheren Ränge der preußischen Militärs.37 In seiner Geschichte über den Widerstand gegen Hitler argumentiert Joachim Fest, es sei ein Missverständnis zu glauben, dass der »Nationalsozialismus eine konservative Erscheinung sei. In Wirklichkeit war er viel eher progressistisch, strukturzerstörend, gleichmacherisch.«38 Obwohl Fest für die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt, werden seine Ansichten zum Nationalsozialismus durch Studien über das Alltagsleben gestützt, die Historiker vom entgegengesetzten Ende des politischen Spektrums durchgeführt haben, und die ein Licht auf das Ausmaß werfen, in dem schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik einsetzende Modernisierungsprozesse unter Hitler fortgesetzt und teilweise beschleunigt wurden.39
Revolution und Konterrevolution – diese gegensätzlichen Bilder vom Nationalsozialismus von dem konservativen Journalisten Fest und dem »linkskritischen Historiker« Mayer – fassen die Schwierigkeiten zusammen, die Natur dieses Regimes und somit die Ursachen für seine Verbrechen zu verstehen.40 Beide Interpretationen können sich auf historische Belege berufen, aber keine scheint wirklich befriedigend. An dieser Stelle ist Trotzkis Analyse von großer Hilfe. Sie lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der Nationalsozialismus als entwickelteste Form des Faschismus ist Konterrevolution im Gewand der Revolution.41 Er ist konterrevolutionär, insofern er die Macht ergreift, um die organisierte Arbeiterklasse zu zerschlagen – »bis aufs Fundament alle Einrichtungen der proletarischen Demokratie zu zerstören«, politische Parteien, Gewerkschaften und andere eher informelle Vereinigungen.42 Dieses Erkennen der tödlichen Bedrohung, die der Nationalsozialismus für die deutsche Arbeiterbewegung darstellte, gab Trotzkis Schriften vom Anfang der 1930er Jahre ihre Dringlichkeit und ihre prophetische Kraft, als er vergeblich auf eine Einheitsfront der Linken gegen Hitler drängte. Wie Nicos Poulantzas schreibt, war er »nahezu der Einzige, der in erstaunlicher Klarheit den Ablauf des Prozesses in Deutschland vorhersah«.43
Aber es war gerade Trotzkis Verständnis vom Wesen der Bedrohung, das hinter seiner wichtigsten Einsicht stand. Die Interessen der Nazis trafen sich im Ziel der Zerschlagung der organisierten Arbeiterklasse mit denen vieler führender Industrieller, Bankiers, Generale und Großgrundbesitzer. Die Nazis als Massenbewegung waren jedoch ein viel wirksameres Mittel, diese Aufgabe zu erfüllen, als die herkömmlichen Kräfte des Staates:
Die Reihe ist ans faschistische Regime gekommen, sobald die »normalen« militärisch-polizeilichen Mittel der bürgerlichen Diktatur mitsamt ihrer parlamentarischen Hülle für die Gleichgewichtserhaltung der Gesellschaft nicht mehr ausreichen. Durch die faschistische Agentur setzt das Kapital die Massen des verdummten Kleinbürgertums in Bewegung, die Banden deklassierter, demoralisierter Lumpenproletarier und all die zahllosen Menschenexistenzen, die das gleiche Finanzkapital in Verzweiflung und Elend gestürzt hat. Vom Faschismus fordert die Bourgeoisie ganze Arbeit … Und die faschistische Agentur, die das Kleinbürgertum als Prellbock benutzt und alle Hemmnisse aus dem Wege räumt, leistet diese Arbeit bis zum Ende.44
Hierin liegt der historische Beitrag des Nationalsozialismus. Er schweißte das von Weltkrieg, Revolution, Inflation und Weltkrise traumatisierte Kleinbürgertum – kleine Geschäftsleute, Angestellte und Bauern – zu einer Bewegung zusammen:
Solange die Nazis als Partei handelten und nicht als Staatsmacht, fanden sie fast keinen Eingang in die Arbeiterklasse. Andererseits betrachtete sie die Großbourgeoisie – auch jene, die Hitler mit Geld unterstützte – nicht als ihre Partei. Das nationale „Erwachen“ stützte sich ganz und gar auf die Mittelklassen, den rückständigsten Teil der Nation, den schweren Ballast der Geschichte. Die politische Kunst bestand darin, das Kleinbürgertum durch Feindseligkeit gegen das Proletariat zusammenzuschweißen. Was wäre zu tun, damit alles besser werde? Vor allem die niederdrücken, die unten sind. Kraftlos vor den großen Wirtschaftsmächten hofft das Kleinbürgertum, durch die Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen seine gesellschaftliche Würde wiederherzustellen.45
Trotzkis Analyse der Klassenbasis des Nationalsozialismus, die er als Massenbewegung derjenigen beschreibt, die zwischen Großkapital und Arbeiterorganisationen gefangen sind, wird durch die neuere historische Forschung bestätigt.46 Wenn jedoch die gesellschaftliche Bedeutung des Nationalsozialismus darin bestand, die negativen Energien, entfesselt durch Mayers »allgemeine Krise des 20. Jahrhunderts«, gegen die Arbeiterbewegung zu richten, so konnte er dies nur mit Hilfe einer mächtigen, pseudorevolutionären Rhetorik. Diese beinhaltete einen »demagogischen Antikapitalismus«, wie Daniel Guérin es nannte.47 Die Naziideologie war antikapitalistisch in dem begrenzten Sinn, das »jüdische Finanzkapital« für alle Übel der deutschen Gesellschaft verantwortlich zu machen. Den Weimarer Realitäten wurde die Utopie der Volksgemeinschaft gegenübergestellt – einer rassisch reinen, nationalen Gemeinschaft, in der deutsches Kapital und Arbeit versöhnt sind und der Kleinproduzent endlich im Sattel sitzt. Hier erkennen wir die entscheidende Rolle, die der Rassismus für den Nationalsozialismus spielt. Ihre angeblich gemeinsame biologische »Rasse« vereinte Deutsche aller Klassen gegen die fremden Juden und gegen andere minderwertige Rassen, besonders die Slawen, mit denen, nach Hitlers Sozialdarwinismus, die Deutschen um Territorien und Ressourcen im Osten konkurrierten.48
Diese rassistische, pseudorevolutionäre Ideologie bildete den Zement des Nationalsozialismus als Massenbewegung. Trotzki stellte fest, dass der plebejische, antikapitalistische Charakter der Naziideologie die Verwendung Hitlers für die deutsche herrschende Klasse riskant machte: »Doch diese Methode ist gefährlich. Während die Bourgeoisie sich des Faschismus bedient, fürchtet sie ihn.« An anderer Stelle schrieb er: »Die politische Mobilisierung des Kleinbürgertums ist aber unvorstellbar ohne jene soziale Demagogie, die für die Großbourgeoisie ein Spiel mit dem Feuer bedeutet.« Obwohl er so einfühlsam gegenüber den Konflikten zwischen den Nazis und der herrschenden Klasse war, nahm Trotzki jedoch an, dass diese überwunden würden, wenn Erstere schließlich die Macht ergriffen hätten, wenn die Eigentümlichkeit des Faschismus als besonderer Typus einer Massenbewegung fortschreitend verschwände: »Allerdings führt der Faschismus, wie Italiens Beispiel zeigt, letzten Endes zur militärisch-bürokratischen Diktatur bonapartistischen Typs.« Das deutet auf einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Nationalsozialismus, der noch nicht an der Macht ist, und dem, der die Macht ergriffen hat, hin:
Der deutsche wie der italienische Faschismus stiegen zur Macht über den Rücken des Kleinbürgertums, das sie zu einem Rammbock gegen die Arbeiterklasse und die Einrichtungen der Demokratie zusammenpressten. Aber der Faschismus, einmal an der Macht, ist alles andere als eine Regierung des Kleinbürgertums. Sondern er ist die rücksichtsloseste Diktatur des Monopolkapitals.49
Statt jedoch als Militärdiktatur zu enden, massakrierte das Naziregime nach der Verschwörung vom Juli 1944 die Generale. Poulantzas, der neben anderen Trotzki kritisiert, weil er die Besonderheit des Faschismus als Variante der »außergewöhnlichen« Form des kapitalistischen Staats nicht erkannt habe, argumentierte, ein gefestigtes faschistisches Regime sei durch das Übergewicht der politischen Polizei innerhalb des Staatsapparates gekennzeichnet.50 Das entspricht natürlich sehr genau der Endphase des Naziregimes, in der die SS und ihr Polizeiarm, das RSHA (Reichssicherheitshauptamt), immer größere Bedeutung erlangten, eine Entwicklung, die sich in Himmlers Ernennung zum Befehlshaber des Ersatzheeres am 20. Juli 1944 widerspiegelte – eine »Geste wohl berechneter Demütigung« von Seiten Hitlers gegenüber dem Offizierskorps, so Fest.51 Während mir Poulantzas’ Kritik an Trotzki in dieser Hinsicht richtig erscheint, kann sein allgemeiner Ansatz, der die Idee der »relativen Autonomie« des Staatsapparats betont, die Vielschichtigkeit der Beziehung zwischen Nationalsozialismus und deutschem Kapital nicht erfassen.
Diese lässt sich am besten als eine konfliktbeladene Partnerschaft bezeichnen.52 Sie bestand auf Grund einer begrenzten Interessensgleichheit zwischen den Nazis und einem Flügel des deutschen Kapitals (besonders dem mit der Schwerindustrie verbundenen), deren gemeinsames Ziel insbesondere in der Zerschlagung der organisierten Arbeiterklasse und dem imperialen Programm der Ostausdehnung bestand. Noch vor dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise begehrten die Führer der Schwerindustrie gegen die Weimarer Republik auf, die sie als „Gewerkschaftsstaat“ angriffen, dessen Verpflichtung auf staatliche Wohlfahrt und institutionalisierte Tarifverhandlungen dem deutschen Kapitalismus übermäßige Kosten aufbürdete: In dieser Hinsicht kennzeichnete die Aussperrung in der Eisen- und Stahlindustrie im November 1928 einen Wendepunkt.53 Vom Sturz der großen Koalition im März 1930 an trug die Unnachgiebigkeit der Industriellen vor dem Hintergrund einer sich atemberaubend verschlechternden Wirtschaftslage dazu bei, der liberalen Demokratie in Deutschland den Garaus zu machen. Ian Kershaw schreibt:
Während der Depression wurde die Demokratie weniger aufgegeben als von Elitegruppen bewusst untergraben, die ihre eigenen Ziele verfolgten. Dabei ging es nicht um vorindustrielle Überbleibsel, sondern, wie reaktionär ihre politischen Ziele auch waren, um moderne Lobbys, die darauf hinarbeiteten, ihre angestammten Interessen in einem autoritären System zu fördern. Beim Schlussakt waren die Agrarier und die Armee einflussreicher als die Vertreter der Großunternehmer. Doch auch Letztere hatten, politisch kurzsichtig und eigennützig, beträchtlich zur Aushöhlung der Demokratie beigetragen, was als Vorspiel für Hitlers Erfolg notwendig war.54
Die Beziehung zwischen dem Großkapital und den Nazis nach Hitlers Ernennung zum Kanzler war mit Spannungen behaftet. Die Hoffnung der Konservativen, die Nazis als Juniorpartner integrieren zu können, wurde schnell zunichte gemacht. Hitler und seine Anhänger benutzten die Terrorherrschaft, die sie gegen die organisierte Arbeiterklasse entfesselten, um denen ihre Nützlichkeit zu demonstrieren, die sie an die Macht gebracht hatten, und gleichzeitig, um ausschließliche Kontrolle über den Staat zu erobern (mit der Ausnahme der Reichswehr). Um noch einmal Kershaw zu zitieren:
Denn allein Hitler und die riesige, wenn auch potenziell instabile, Massenbewegung, die er anführte, vermochten die Straßen zu beherrschen und – als Voraussetzung der erwünschten Gegenrevolution – den Marxismus zu vernichten. Doch gerade diese Abhängigkeit von Hitler und diese eifrige Bereitschaft, in den ersten Wochen und Monaten des neuen Regimes auch die skrupellosesten Maßnahmen zu decken, ließen in den folgenden Jahren die Schwäche der traditionellen Elitegruppen deutlich werden, als an die Stelle der beabsichtigten Gegenrevolution der nationalsozialistische Versuch einer Rassenrevolution in Europa trat und den Weg zu weltweitem Krieg und Völkermord freimachte.55
Die Nacht der langen Messer am 30. Juni 1934, in der Ernst Röhm und andere Führer der SA, der Sturmtruppen, ausgeschaltet wurden, die für eine »Zweite Revolution« eingetreten waren, besänftigte die Furcht der Elite vor dem plebejischen Radikalismus der Nazis. Der Preis dafür war jedoch die Festigung der Macht der Nazis und besonders der SS (die das Massaker mit Hilfe der Armee verübte), die ihre Kontrolle über den Sicherheitsapparat erweitern durfte. In den Monaten von 1937 bis 1938 kam es zu einer weiteren Radikalisierung des Regimes durch die Absetzung der Heerführer (Blomberg und Fritsch) und Hjalmar Schachts, der zuvor die Wirtschaftspolitik des Regimes bestimmt hatte. Dieser Personalwechsel, durch den die von Hitler und anderen Nazigrößen ausgeübte Kontrolle über den Staat erheblich vergrößert wurde, war begleitet von einem entschlosseneren Streben nach wirtschaftlicher Autarkie und einer aggressiveren Außenpolitik – Schritten, die natürlich den Rahmen der Ereigniskette bildeten, die zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führte.56
Unter Historikern zum Dritten Reich gibt es beträchtliche Auseinandersetzungen über die Rolle der inneren Probleme des Naziregimes – einschließlich des Klassenkonflikts – als Triebfeder für den Krieg.57 Der führende marxistische Theoretiker in dieser Debatte, Timothy Mason, hat auch die bekannte These aufgestellt, das Naziregime sei durch den »Vorrang der Politik« gekennzeichnet gewesen:
Ab 1936 wurde der wirtschaftliche Handlungsrahmen in Deutschland zunehmend durch die politische Führung definiert. Die Bedürfnisse der Wirtschaft wurden durch politische Entscheidungen bestimmt, im Wesentlichen durch Entscheidungen in der Außenpolitik, und die Befriedigung dieser Bedürfnisse wurde durch militärische Siege ermöglicht … Die großen Unternehmen identifizierten sich mit dem Nationalsozialismus um ihrer eigenen wirtschaftlichen Weiterentwicklung willen. Ihr Profit- und Expansionsstreben, das das politische System umfassend befriedigte, zusammen mit dem sturen Nationalismus seiner Führer band sie jedoch an eine Regierung, auf deren Ziele sie, insofern diese überhaupt der Kontrolle unterlagen, faktisch keinen Einfluss hatten.58
Mason gebührt das bedeutende Verdienst, jedem vulgärmarxistischen Versuch, den Holocaust und andere Naziverbrechen auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse des deutschen Kapitals zu beschränken, den Weg zu versperren. Aber der Versuch, die Unterschiede zwischen dem nationalsozialistischen Regime und dem deutschen Privatkapital auf eine breitere Ebene von Politik und Wirtschaft zu projizieren, ist zu einfach. Denn ein wesentliches Merkmal der „Radikalisierung“ des Regimes 1937–38 bestand in der Entwicklung des Staats zur unabhängigen Quelle wirtschaftlicher Macht. Schachts Sturz wurde von Görings Aufstieg zur beherrschenden Figur in der Wirtschaftspolitik der Nazis begleitet. Die Hinwendung zu mehr Staatsdirigismus bis hin zur teilweisen Ersetzung des privaten Unternehmertums zeigte sich in der Einführung eines Vierjahresplans unter der Leitung Görings. In gewisser Hinsicht noch bedeutender war der Aufbau der Reichswerke, ebenfalls unter Aufsicht des Reichsmarschalls, zu einem staatlich kontrollierten multinationalen Konzern, der häufig mit großem Erfolg mit Privatfirmen konkurrierte, um die Kontrolle über die Produktionsanlagen zu erlangen, die in den Jahren 1938 bis 1940 durch die territoriale Ausdehnung in den Osten nach Österreich, die Tschechoslowakei und Polen und in den Westen nach Frankreich zugänglich wurden. Richard Overy behauptet, dass »das deutsche Wirtschaftsreich nicht durch den Privatkapitalismus im Interesse des ›Monopolkapitalismus‹ erobert und gehalten wurde, sondern fest der Kontrolle des Göring’schen Wirtschaftsapparats unterlag und diesem weitgehend gehörte und von ihm geleitet wurde«.59
Für jeden, der alt genug ist, sich an die marxistischen Debatten über den Staat in den 1960er und 1970er Jahren zu erinnern, ist es wichtig zu erkennen, dass dies das Gegenteil dessen ist, was die damals in den kommunistischen Parteien weit verbreitete »Stamokap-Theorie« (Theorie über den staatsmonopolistischen Kapitalismus) vorhersagen würde. Dazu gehörte eine ziemlich grobe Form des Instrumentalismus, in dem der Staat das Werkzeug einer Handvoll großer Monopolisten wird.60 Hier benutzten die Nazis (oder, angesichts der Spaltungen innerhalb des Führerstaats, eine Fraktion des nationalsozialistischen Regimes) vielmehr ihre Kontrolle über den Staat, um sich direkten Zugang zum Akkumulationsprozess zu verschaffen. Dadurch lässt sich erklären, warum die Naziherrschaft entgegen Trotzkis Vorhersage nicht einfach in eine konventionelle Militärdiktatur zurückfiel: Sie verwandelte politische in ökonomische Macht. Dieser Erfolg lässt Masons »Vorrang der Politik« in einem anderen Licht erscheinen. Die erfolgreiche Festlegung der Vorgaben für das Privatkapital durch das Hitlerregime war kein reines Ergebnis freischwebender Ideologie, sondern vielmehr eng verbunden damit, sich selbst durch die Kontrolle eines großen und wachsenden Staatskapitals zu verankern.61
So betrachtet, lässt sich auch die Entwicklung des Nationalsozialismus in einen größeren Zusammenhang stellen. Denn die 1930er Jahre waren gekennzeichnet durch den Zerfall des Weltmarktes, den schrumpfenden Außenhandel und eine allgemeine Anstrengung des Staats, das Privatunternehmertum, das Linke wie Rechte als gescheitert betrachteten, zu verdrängen. Das extremste Beispiel dieser Tendenz zum Staatskapitalismus war natürlich die Sowjetunion während der »Stalinrevolution« Ende der 1920er und in den 1930er Jahren, aber der New Deal in den Vereinigten Staaten und Verstaatlichungen sogar durch die konservativ beherrschte Regierung in Großbritannien, eine große Koalition von Konservativen, Liberalen und dem ehemaligen rechten Flügel der Labour Party, sind weitere Beispiele. Der Hang der Nazis zur Autarkie und zum Krieg muss vor diesem Hintergrund verstanden werden: Die wachsenden Schwierigkeiten, vor denen eine weitgehend geschlossene deutsche Wirtschaft stand, wenn sie sich knappe Rohstoffe durch Außenhandel verschaffen wollte, waren mit entscheidend für das Regime, diese Rohstoffe durch territoriale Erweiterung und militärische Eroberung an sich zu reißen.62 Aber die Einschätzung der Naziführer, dass das langfristige Überleben von einer imperialen Ausdehnung nach Ost- und Mitteleuropa abhing, war eine Einschätzung, die sie mit wichtigen Fraktionen des Großkapitals (besonders der Schwerindustrie) wie dem Militär teilten.63
Vor allem respektierte der Naziradikalismus bestimmte Grenzen: So wurde gerade die Grundstruktur der Wirtschaft nicht angetastet. Deutschland unter Hitler blieb eine industriekapitalistische Gesellschaft, in der sich die Wirtschaftsmacht in den Händen des Großkapitals konzentrierte. Aus der Perspektive der Grundstrukturen der Klassenverhältnisse war die Frage, ob das Kapital die Form des Privatunternehmertums oder von Staatskonzernen annahm, nachrangig. Die Utopie einer rassisch reinen, sozial homogenen Volksgemeinschaft blieb eben das. Wie Detlev Peukert sagt: »Der Nationalsozialismus schmiegte sich gekonnt in die säkularen Trends der Moderne ein. Langfristige sozioökonomische Datenreihen lassen die Jahre des Dritten Reiches (zumindest die Friedensjahre bis 1939) weder positiv noch negativ aus den Entwicklungsgängen der industriellen Klassengesellschaft in Deutschland ausscheren.«64 Die Arbeiterklasse, obwohl atomisiert und bis zum Schluss der Überwachung und dem Terror durch die Sicherheitspolizei unterworfen, konnte die Bedingungen der Vollbeschäftigung auf Grund der Wiederbewaffnung nutzen, 1938–39 Druck für Lohnerhöhungen auszuüben. Hitler fürchtete bis zum Schluss, dass die Entbehrungen der Kriegszeit eine neue Revolution wie die vom November 1918 auslösen könnten.65
Die Entwicklung eines »Elitenkartells aus Wirtschaft, Wehrmacht und Partei«, wie Peukert es nennt, war jedoch kein Zeichen für das Verschwinden des Naziradikalismus.66 Nachdem die SA an die Kandare genommen worden war, konzentrierte er sich nun in der SS, die sich in ein bürokratisches Reich gestützt auf das RSHA verwandelte, jedoch ihren eigenen militärischen Flügel aufbaute (die Waffen-SS) und das WVHA (Wirtschaftsverwaltungshauptamt), zuständig für die Verwaltung des riesigen Systems der Konzentrationslager. Seine Führer, Himmler und Heydrich (Leiter des RSHA), sahen sich selbst als Wächter der Naziideologie. Besonders Himmler war besessen von der Idee, die deutsche Bauernschaft durch ein umfangreiches Umsiedlungsprogramm im Osten wieder herzustellen, als dieser von den Nazis erobert wurde. Diese eigentümliche Verschmelzung einer rassischen Utopie mit dem Sicherheitsapparat innerhalb der SS-Bürokratie ist, wie wir sehen werden, entscheidend, um den Holocaust zu verstehen.67
Ideologie und Völkermord
Die Holocaustforschung der letzten Jahre hat meiner Ansicht nach endgültig den anhaltenden Streit zwischen »Funktionalisten« und »Intentionalisten« unter Historikern über das Dritte Reich beigelegt.68 Die Vernichtung der Juden entstand nicht auf Grund fertiger, langfristiger Pläne Hitlers, sondern war vor allem ein schrittweiser Prozess, der weitgehend »von unten« vorangetrieben wurde, durch Initiativen von konkurrierenden Machtzentren innerhalb der stark gespaltenen Nazibürokratie. Damit wird Hitler nicht aus der Verantwortung für den Holocaust entlassen. Seine berühmt-berüchtigte »Prophezeiung« vor dem Reichstag am 30. Januar 1939 – »Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.« – wurde von Hitler wie seinen Untergebenen immer wieder zitiert, als sie sich daranmachten, diese Vorhersage zu erfüllen.69 Die Anerkennung der Rolle Hitlers verträgt sich jedoch durchaus mit einer Analyse, die die Vielschichtigkeit des Prozesses beleuchtet, der zu Auschwitz führte. Insoweit ist das Bild des Holocausts, das Martin Broszat und Hans Mommsen zeichnen, korrekt, wobei Letzterer die Entwicklung, wie bekannt, als »kumulative Radikalisierungsspirale« bezeichnete.70
So scheint es erstens klar, dass Massenmord an den Juden nicht die einzige Option war, an die die nationalsozialistischen Entscheidungsträger bei ihren Bemühungen dachten, im Zuge des Weltkriegs Europa von den Juden zu säubern. Vorschläge, die Juden nach Madagaskar oder in die Arktis zu deportieren (nach der Eroberung der UdSSR), wurden ernsthaft diskutiert, obwohl bei diesen Plänen immer der Tod vieler Juden durch die körperlichen Entbehrungen der Zwangsvertreibung und die unwirtlichen Bestimmungsorte mit einberechnet wurde. Aber erst der Einmarsch in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 schuf den Rahmen, in dem es tatsächlich zur Endlösung kam. »Operation Barbarossa« war ein Ausdruck der langfristigen Ziele nicht nur Hitlers (wie in Mein Kampf geschrieben), sondern auch von entscheidenden Fraktionen der deutschen herrschenden Klasse: Der Vertrag von Brest-Litowsk von 1918, der Sowjetrussland aufgezwungen worden war, hatte Deutschland für kurze Zeit die Kontrolle über Polen, die Ukraine und das Baltikum zugestanden. Von Anfang an machte die Naziführung deutlich, dass dieser Krieg nicht einfach ein weiterer Krieg sei, sondern ein Vernichtungskrieg, der gegen minderwertige Rassen geführt werde – die slawischen Untermenschen und ihre »jüdisch-bolschewistischen« Herren –, um Lebensraum für das deutsche Volk zu gewinnen. Massenmord war von vornherein Bestandteil dieses Plans. Die deutschen Militärplaner sagten voraus, dass als Folge der Umlenkung von Nahrungsmitteln zur Befriedigung der Bedürfnisse der Nazikriegsmaschine dreißig Millionen Sowjetbürger sterben müssten.71 Der Kommissarbefehl gab, wie wir gesehen haben, den Invasionstruppen das Recht, die »jüdisch-bolschewistische Intelligenz« hinzurichten, gleichgültig, ob sie Kampfteilnehmer waren oder nicht.
Im Rahmen dieses Vernichtungskriegs wurden die Einsatzgruppen zusammen mit der Wehrmacht in die Sowjetunion entsandt. Die Massenerschießung von Juden im Sommer 1941 wird allgemein als der Anfang des Holocausts gesehen. Tatsächlich wuchsen sich selbst hier die Massaker erst nach weiteren Etappen zu einem umfassenden Völkermord aus. So beschränkten sich in Litauen beispielsweise die ersten Erschießungen vom Juni/Juli 1941, bei denen rund 10.000 bis 12.000 hauptsächlich jüdische Opfer umkamen, überwiegend auf jüdische Männer und Kommunisten. Erst im August 1941 wurden die Massaker auf die gesamte jüdische Landbevölkerung und auf große Teile jüdischer Stadtbewohner ausgeweitet. Mindestens 120.000 Juden kamen um, während etwa 45.000 bis 50.000 weitere vorübergehend die Selektion in den Städten überleben durften, damit sie für die deutsche Kriegsindustrie arbeiten konnten. Christoph Dieckman behauptet, dass ein entscheidender Faktor bei der Radikalisierung der Nazipolitik gegenüber den Juden Litauens in dem unerwartet langsamen Fortgang des Krieges lag. Das erzwang eine Änderung der früher geplanten »Hungerpolitik«, als die besetzten Teile der Sowjetunion zu wichtigen Stützpunkten der Wehrmacht wurden. Chronischer Nahrungsmangel bestärkte die Nazibehörden, jenen den Vorrang zu geben, deren Arbeit sie brauchten: Sie brachten die Juden, die sie als »unnütze Esser« betrachteten, lieber um, als sie zu ernähren.72
Diese Fallstudie beleuchtet die verschiedenen Faktoren, die für die Vernichtung der Juden verantwortlich waren. Verschiedene pragmatische Abwägungen spielten dabei eine Rolle. Wie wir gesehen haben, gehörte dazu der entstehende örtliche Nahrungsmittelmangel, da die Nazis nicht in der Lage waren, den erwarteten schnellen Sieg über die UdSSR zu erringen. Ein anderer war die Konkurrenz zwischen verschiedenen Nazibürokratien, in der die SS ihren Erfolg, die allgemeine Verantwortung für die jüdische Frage übertragen bekommen zu haben, benutzte, um Anspruch auf mehr politische Macht und Zugang zu knappen Ressourcen zu erheben. Zu einer weiteren Komplikation kam es dadurch, dass den Nazis durch das Ausmaß der deutschen Siege vom Sommer 1939 bis zum Sommer 1941 eine ständig wachsende Zahl von Juden in die Hände fiel. Dies stand Himmlers großen Plänen (als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums) im Wege, die ethnischen Deutschen aus ganz Mittel- und Südosteuropa in die vom deutschen Heer eroberten neuen Territorien umzusiedeln. Die Folge war, was Götz Aly einen „ethnischen Dominoeffekt“ nennt, durch den der von Himmler geforderte Lebensraum für aufgebrachte ethnische Deutsche, die häufig in Umsiedlungslagern stecken blieben, und die Anforderungen von Nazigauleitern, die eifrig bemüht waren, ihre Gebiete judenfrei zu machen, den deutschen Besatzerbehörden in Polen zunehmend nicht mehr zu verwaltende Zahlen verarmter Juden aufbürdeten.73
Massenmord erschien den Nazibeamten schließlich die einzige Lösung für diesen Verwaltungsalbtraum zu sein.74 Aly argumentiert, dass sich in der Nazibürokratie ein Einvernehmen entwickelte, die europäischen Juden zu ermorden, nachdem Pläne zur vollständigen Deportation in die unwirtlicheren Teile der Sowjetunion (an sich bereits, wie er anmerkt, »ein umfassender Plan für mittelfristige biologische Auslöschung«) dank des hartnäckigen sowjetischen Widerstands fehlgeschlagen waren. Vor dem Hintergrund dieser Entscheidung, die laut Aly im Herbst 1941 fiel, wurde die Vergasung als Hauptmittel der industrialisierten Vernichtung gewählt und Belzec, Sobibor, Treblinka, Chelmno und Majdanek zu Todeslagern ausgebaut, während Auschwitz-Birkenau zusätzlich zu seiner bisherigen Funktion als Zwangsarbeitslager auch zur Stätte des Massenmords wurde.75
Auschwitz fasst in seinen verschiedenen Funktionen tatsächlich die Vielfalt der Absichten zusammen, die zum Holocaust führten. Strategisch an einer Kreuzung des mitteleuropäischen Eisenbahnsystems gelegen, durch das es Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zum wichtigen Haltepunkt der polnischen Saisonarbeiter geworden war, die in Deutschland und Österreich arbeiteten, wurde die kleine galizische Stadt Oswiecim zunächst Ort eines SS-Konzentrationslagers im Dienste des Naziterrors im gerade eroberten Polen; dann ein Zentrum für Himmlers Pläne, ethnische Deutsche auf den Bauernhöfen anzusiedeln, die den vertriebenen polnischen Eigentümern gestohlen worden waren; dann wegen seiner Nähe zu den oberschlesischen Kohlengebieten und der Verfügbarkeit sowjetischer Kriegsgefangener als Sklavenarbeiter zum Standort der IG-Farben-Buna-Werke zur Herstellung von synthetischem Gummi; und schließlich zum Vernichtungslager, in dem so viele europäische Juden umkamen.76
Aly beschreibt den Prozess, aus dem der Holocaust hervorging, als die »Praxis projektiver Konfliktüberwindung«:
Die Interessendivergenzen zwischen den einzelnen, ständig an Bedeutung und Einfluss verlierenden oder gewinnenden Machtzentren des Dritten Reiches entstanden in der Spannung zwischen unterschiedlichen, insgesamt hypertrophen (Eroberungs-)Zielen, gesellschaftssanitären Utopien und notorischer Knappheit der dafür notwendigen materiellen Mittel. Auch wenn die Repräsentanten einzelner Institutionen gegensätzliche, einander ausschließende Interessen verfochten, so waren sie doch gemeinsam dazu bereit, die Gegensätze, die ihre divergenten Konzeptionen – und insbesondere das intendierte Tempo der Umsetzung – produzieren mussten, mit Hilfe von Raub, Sklavenarbeit und Vernichtung zu überwinden.77
Entscheidend für diese Entwicklung war die häufig nur indirekte Rolle, die der biologistische Rassismus spielte, indem er den Bezugsrahmen der Debatte bildete und die Grundlage zur Begründung von Entscheidungen. Die folgende Bemerkung Hitlers gegenüber Himmler im Jahr 1942 kommt einem Eingeständnis seines Mitwissens am Holocaust am nächsten, ist aber auch höchst entlarvend für den Charakter dieser Ideologie: »Es ist das die größte Revolution, die es je gegeben hat in der Welt. […] Der gleiche Kampf, den Pasteur und Koch haben kämpfen müssen, muss heute von uns geführt werden. Zahllose Erkrankungen haben die Ursache in einem Bazillus: dem Juden! … Wir werden gesund, wenn wir den Juden eliminieren.«78
Diese medizinische Sprache (auch zu finden in dem bei Nazis üblichen Gebrauch des Wortes »Säuberung« als Euphemismus für Massenmord) ist symptomatisch für eine pseudowissenschaftliche Ideologie, die von einer hierarchischen Welt der Rassen ausgeht, aus der die »Untauglichen« entfernt werden sollten. Gemäß dieser Ideologie genehmigte Hitler das geheime »Euthanasieprogramm« T-4, durch das 70.000 bis 90.000 psychisch kranke Patienten in den Jahren 1939 bis 1941 ermordet wurden: Das dafür eingesetzte Personal und das bei dieser Operation erworbene Fachwissen wurden später den Lagern der »Operation Reinhard« (Belzec, Sobibor und Treblinka) zugeführt.79 Derselbe biologistische Rassismus – eine moderne Ideologie, kein traditioneller Antisemitismus – stand hinter der Ermordung der Roma und Sinti, vor allem durch die Initiative der Kriminalpolizei (ein von der Sicherheitspolizei getrennter Flügel des RSHA) und trotz Hitlers mangelndem persönlichem Interesse an der »Zigeunerfrage«.80
Die tödlichste Gefahr für die Gesundheit des deutschen Volks repräsentierte jedoch der jüdische »Virus«, wie Hitler ihn nannte. Paul Karl Schmidt, Pressechef des deutschen Auswärtigen Amts, schrieb 1943: »Die Judenfrage ist keine Frage der Humanität und auch keine Frage der Religion; sie ist einzig und allein eine Frage der politischen Hygiene. Das Judentum muss überall bekämpft werden, wo es zu finden ist, weil es ein politischer Ansteckungsherd ist, der Ansteckungsherd der Zersetzung und der Tod jedes nationalen Organismus.«81 Als es somit zum Entwurf einer konkreten Politik für die »Endlösung der jüdischen Frage« kam, war Mord die Vorgabe der Nazis, bestimmt durch eine Ideologie, in der die Juden als tödliche Bedrohung galten. Der Holocaust war das Ergebnis eines bürokratischen Problemlösungsprozesses, der überdeterminiert war vom biologischen Rassismus, dem ideologischen Zement des Nationalsozialismus.
Der Vorrang der Naziideologie bei der Entwicklung zum Holocaust ist entscheidend, um zu begreifen, dass die Vernichtung der Juden nicht in ökonomischen Begriffen erklärt werden kann, selbst wenn wirtschaftlicher Druck – zum Beispiel Nahrungsmangel in der besetzten UdSSR – bestimmte mörderische Feldzüge förderte. Raul Hilberg argumentiert, dass »in der Vorbereitungsphase [Isolierung und Enteignung der Juden] die – öffentlichen und privaten – finanziellen Gewinne die Ausgaben bei weitem überwogen, während in der Tötungsphase die Verluste nicht länger durch die Erträge wettgemacht wurden«.82 Vom Standpunkt der Kriegsanstrengungen vernichtete der Holocaust knappe Facharbeiter und zweigte Eisenbahnkapazitäten von militärischen Zwecken ab. Einzelne kapitalistische Firmen wie die IG-Farben profitierten zweifellos von der Vernichtung der Juden, doch wie rationell die bürokratische Organisation des Holocausts auch gewesen sein mochte, dieses Verbrechen wurde von Erwägungen diktiert, die weder mit Rentabilität noch mit Militärstrategie zu tun hatten.83
Biologistischer Rassismus spielte ebenfalls eine entscheidende Rolle bei der Motivation der Täter. Norman Geras hat, wie wir sahen, versucht, die Bedeutung der Freisetzung des Drangs zur Regelüberschreitung durch die Nazis zu beleuchten. Wir können dafür sehr wohl Anhaltspunkte erkennen, vor allem in den eher pogromartigen Massakern – zum Beispiel während der Radikalisierung der Ermordung litauischer Juden im Sommer 1941, als die Einsatzgruppen sich den örtlichen Antisemitismus zu Nutze machten und eine breite Beteiligung von Litauern an den Morden förderten.84 Aber Antisemitismus – ob in seiner pseudowissenschaftlichen Form in der Naziideologie oder in einer traditionelleren Lesart – war erforderlich, um die Juden in das objektgewordene Andere zu verwandeln, gegen das diese Leidenschaften berechtigt ausgelebt werden konnten.
In der SS-Elite trug die Bindung an die Naziideologie zur Erhaltung einer Kombination von gefühlloser Effizienz und Selbstkontrolle bei, die Himmler scheinbar unter »Anstand« verstand, als er in seiner berühmt-berüchtigten Rede vom 4. Oktober 1943 an die SS-Gruppenführer in Poznan erklärte: »Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.«85 Ulrich Herbert schreibt dazu:
… vor allem bei den Führern der Sicherheitspolizei und der Einsatzkommandos [ist] der gewissermaßen intellektuelle Antisemitismus aufzufinden. Die Judengegnerschaft ist hier als Erscheinungsform des völkisch-radikalen Weltbilds dieser Kerngruppe des Genozids zu erkennen. Der Rückbezug des eigenen Handelns auf ein solches Weltbild sicherte nicht nur gegenüber intervenierenden Stellen ab, sondern diente als Enthemmungs- und Entlastungsdiskurs auch der eigenen Rechtfertigung, indem das eigene Tun als notwendiges Mittel zu einem höheren Ziel erklärt wurde und so die anerzogenen humanitären Prinzipien außer Kraft setzte.86
Die überdeterminierende Rolle der Naziideologie beim Holocaust scheint sich jeder marxistischen Interpretation zu entziehen. Das ist wohl der Inhalt von Herberts Erklärung: »Rassismus war kein ›Irrglaube‹, hinter dem sich die wahren, im Wesentlichen wirtschaftlichen Interessen des Regimes verbergen konnten. Er war der Fixpunkt des ganzen Systems.«87 Es ist jedoch eine Karikatur, den historischen Materialismus darauf zu beschränken, den gesellschaftlich Handelnden ökonomische Motive zuzuschreiben.88 Marx’ bekannte Antwort auf den Einwand gegen seine Theorie, »alles dies sei zwar richtig für die heutige Welt, wo die materiellen Interessen, aber weder für das Mittelalter, wo der Katholizismus, noch für Athen und Rom, wo die Politik herrschte«, lautete: »Die Art und Weise, wie sie ihr Leben gewannen, erklärt umgekehrt, warum dort die Politik, hier der Katholizismus die Hauptrolle spielte.«89 Ähnlich ließe sich sagen, dass eine historisch-materialistische Darstellung des Holocausts erklären muss, warum die Ideologie des biologistischen Rassismus so wesentlich für den Nationalsozialismus wurde, statt die entscheidende Rolle, die sie bei der Vernichtung der Juden im Holocaust spielte, zu verneinen. Ein großer Teil der heutigen Geschichtsschreibung über das Dritte Reich scheint, indem sie eine frühere Vernachlässigung korrigiert, Rassismus als eine Art brutale Größe zu behandeln, die selbst keiner Erklärung bedarf.
Um diese Schwäche zu überwinden, müssen wir den Holocaust in Verbindung mit der weiteren Entwicklung des nationalsozialistischen Regimes begreifen. Der wichtigste Beitrag wurde hierzu von Martin Broszat geleistet, der die Radikalisierung des Regimes, die so genannte rassische Revolution, mit dem Scheitern der Nazis in Verbindung bringt, die deutsche Gesellschaft zu erneuern:
Die mehr oder weniger ständestaatlichen Vorstellungen des nationalen Sozialismus, das Ziel einer umfassenden neuen Agrarordnung […], die nationalsozialistischen Reichsreformideen ebenso wie das Vorhaben, Armee, Bürokratie und Justiz revolutionär umzugestalten, konnten sich nicht durchsetzen. Die Kraft und das Vermögen der NS-Bewegung vermochten hier überall nur die bestehenden Zustände in Frage zu stellen und partiell zu untergraben. […] Je weniger aber nationalsozialistische Weltanschauungspolitik auf dem Felde konstruktiver Neuordnung zum Ziele kam, um so ausschließlicher verlagerte sie sich auf jene negativen Inhalte und Ziele, die primär nur rechtliche, humanitäre und moralische Grundsätze tangierten aber gesellschafts- und machtpolitisch unerheblich zu sein schienen. […] Wenn jedoch die praktische (nicht nur propagandistische) Aktivität der Weltanschauungsbewegung des Nationalsozialismus fast ausschließlich auf diese negativen Ziele festgelegt war, dann war weitere Bewegung nur noch in der Form der fortgesetzten Verschärfung der gegen Juden, Geisteskranke, Asoziale etc. gerichteten Maßnahmen denkbar. In der Diskriminierung konnte es jedoch keinen unendlichen Progress geben. Infolgedessen musste hier die »Bewegung« schließlich in der physischen Vernichtung enden. 90
Broszats Argument stellt meiner Ansicht nach die beste Grundlage dar, die »kumulative Radikalisierung« des Nationalsozialismus zu verstehen, die er und Hans Mommsen hervorhoben. Ian Kershaw bietet eine alternative Interpretation an, die die persönliche Rolle Hitlers innerhalb des Regimes betont. Für Kershaw scheint in der Tat das bestimmende Merkmal des Nationalsozialismus in Hitlers einzigartiger Autorität zu liegen, die er als einen Fall charismatischer Herrschaft, wie Max Weber es nannte, versteht. Die Initiativen einzelner Nazibeamter, die eine so entscheidende Rolle zum Beispiel bei der Entstehung des Holocausts spielten, legitimierten sie, indem sie behaupteten, »für den Führer zu arbeiten« (wie einer sagte): Die Rechtfertigung, die solch eine Beschwörung von Hitlers Autorität bietet, förderte den Wirrwarr auseinander strebender Initiativen, die das Naziregime in zunehmende Barbarei und fortschreitende Zersetzung trieb:
Ärzte, die sich beeilten, Patienten in Irrenanstalten für das »Euthanasieprogramm« zu benennen im Interesse eines eugenisch »gesunderen« Volkes; Rechtsanwälte und Richter, die um die Wette eiferten, rechtliche Sicherungen abzubauen, um die Gesellschaft von »kriminellen Elementen« und Unerwünschten zu reinigen; Unternehmer, die versuchten, von den Kriegsvorbereitungen zu profitieren und dann während des Krieges zu plündern und ausländische Sklavenarbeit auszubeuten; eilfertige Technokraten und Wissenschaftler, die eigene Macht und Einfluss vergrößern wollten, indem sie auf den Zug der technologischen Experimente und Modernisierung aufsprangen; Militärführer, die keine Nazis, aber darauf versessen waren, eine moderne Armee aufzubauen und Deutschlands Vormachtstellung in Mitteleuropa wieder herzustellen; und altmodische Konservative mit ihrer Abneigung gegenüber den Nazis aber noch größerer Furcht und Abscheu vor den Bolschewiken: All diese »arbeiteten« zumindest indirekt in ihren vielen und unterschiedlichen Kollaborationsformen »für den Führer«. Das Ergebnis war die nicht mehr zu bremsende Radikalisierung des »Systems« und die langsame Entstehung politischer Zielvorstellungen, die eng mit den von Hitler vertretenen ideologischen Imperativen verbunden waren. 91
Diese Passage rückt das Gefühl in den Mittelpunkt, das langsam um die Metapher »für den Führer arbeiten« entsteht, wenn wir Kershaws ausgezeichnete Biografie über Hitler lesen – dass nämlich ein Konzept, das innerhalb enger Grenzen recht nützlich ist, bis zu einem Punkt ausgedehnt wird, wo es jede Bedeutung verliert. Es wird häufig einen Widerspruch zwischen den tatsächlichen Motiven der oben aufgeführten Handelnden und den von ihnen genannten Gründen gegeben haben, mit denen sie ihre Handlungen innerhalb der »öffentlichen Sphäre« des Dritten Reichs rechtfertigten. Kershaw schützt sich gegen diese Art Einwand, indem er diese Fälle als solche behandelt, »wo ideologische Motivation zweitrangig war, oder sogar völlig fehlte, aber wo die objektive Funktion ihres Handelns dennoch die Möglichkeit zur Umsetzung der von Hitler verkörperten Ziele förderte«.92 Aber nach welchem Kriterium kann entschieden werden, ob bestimmte Handlungen diese »objektive Funktion« hatten?
Kershaw spricht von Hitler, der bestimmte »ideologische Imperative« »vertrat« oder »verkörperte«, das aber führt lediglich zurück zum Ausgangspunkt: Wie können wir feststellen, was diese Imperative waren? Auf Hitlers persönliche Ziele zu verweisen, wäre ein Rückfall in die Art Intentionalismus, die die Metapher »für den Führer arbeiten« vermutlich vermeiden will. Auf eine Weise, die jedem Hegel-Studenten bekannt sein dürfte, steht der Objektivismus vor der Gefahr, in sein Gegenteil verkehrt zu werden: Subjektivismus. Die einzige Möglichkeit, diese Falle zu vermeiden, besteht meiner Ansicht nach darin, als Grundlage jeder Interpretation des Nationalsozialismus nicht Hitlers persönliche Rolle als charismatischer Führer heranzuziehen, sondern vielmehr die besondere Natur des Nationalsozialismus als besondere Art von Massenbewegung.93
An dieser Stelle kehren wir zu Trotzkis Analyse des Faschismus zurück. Nationalsozialismus war eine bestimmte Antwort auf die heftigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Widersprüche, die die deutsche Gesellschaft zu Beginn von Mayers »allgemeiner Krise und dem Dreißigjährigen Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts« durchlief. Während er seine Anhänger zur Unterstützung eines konterrevolutionären Projekts mobilisierte – der Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung und der Wiederherstellung des deutschen Imperialismus –, versprach er ihnen eine scheinbar revolutionäre Vision einer Volksgemeinschaft, eine rassische Utopie, aus der Klassenkonflikte und fremde Rassen (beides nach der Naziideologie in der Figur des Juden vereint, der Deutsche gegen Deutsche aufwiegelt) verbannt sein würden. Als dem Naziradikalismus bei Hitlers Machtantritt die Erfüllung in Form einer echten Neugestaltung der Gesellschaft verweigert wurde, wurde er auf die jüdische Frage verlagert. Die Energien der Bewegung konnten sich schadlos auf die »negativen Aspekte«, wie Broszat es nennt, der nationalsozialistischen Ideologie richten – den Drang, das Andere auszurotten. Rassenpolitik bedrohte nicht das unsichere Bündnis, das zwischen Nazis und Großkapital geschlossen worden war. Grob formuliert: Nationalsozialismus konnte die Volksgemeinschaft nicht schaffen, aber zumindest konnte die SS die Juden ausrotten.
Die Interpretation, die ich hier umrissen habe, deckt sich mit einigen anregenden Bemerkungen von Slavoj Žižek. Er schreibt, dass »der wirkliche Schrecken des Nationalsozialismus gerade in der Art liegt, wie er soziale Gegensätze auf Rassenunterschiede verlagerte beziehungsweise naturalisierte«.94 An anderer Stelle argumentiert er, dass »›politischer Extremismus‹ oder ›exzessiver Radikalismus‹ immer als Phänomen ideologisch-politischer Verlagerung gelesen werden muss: als Gradmesser ihres Gegenteils, als eine Beschränkung, als eine Weigerung, wirklich ›bis ans Ende zu gehen‹«.95 Die »kumulative Radikalisierung« des Naziregimes war somit weder einfach eine Folge seiner eigenen inneren Zerrissenheit noch von Hitlers persönlicher Rolle. Sie spiegelte die strukturelle Unfähigkeit des Nationalsozialismus, »bis ans Ende zu gehen« – die sozialen Widersprüche aufzuheben, auf die er eine Reaktion war und für die er Heilung versprochen hatte.
In dieser Hinsicht besteht in der Tat eine Verbindung zwischen dem Holocaust und der kapitalistischen Produktionsweise. Es ist natürlich, wie ich schon geschrieben habe, nicht der Fall, dass die Vernichtung der Juden aus den wirtschaftlichen Bedürfnissen des deutschen Kapitalismus abgeleitet werden kann. Aber der Nationalsozialismus wurde zur Massenbewegung während der nach wie vor schlimmsten Wirtschaftskrise in der Geschichte des kapitalistischen Systems. Zudem verbündete sich das deutsche Großkapital, um der Krise zu entkommen und die Arbeiterklasse zu zerschlagen, mit einer Bewegung, deren rassistische und pseudorevolutionäre Ideologie sie – gerade wegen ihrer Unfähigkeit, die deutsche Gesellschaft umzugestalten – zum Holocaust trieb. Insofern war der Kapitalismus – nicht direkt, aber dennoch auf diese wichtige Weise – ursächlich an dem Prozess beteiligt, der zur Vernichtung der Juden führte.96
Mechanismen und Mord
Dieser Erklärungsansatz, der von wirtschaftlichen und politischen Strukturen, gesellschaftlichen Klassen, Ideologien und Massenbewegungen ausgeht, mag viele, die den Holocaust zu begreifen versuchen, nicht zufrieden stellen. Um zum Anfang dieses Aufsatzes zurückzukehren: Norman Geras beklagt bei Ernest Mandels struktureller Erklärung der Judenvernichtung, dass sie »meiner Ansicht nach das, was sie zu erklären versucht, nicht erreicht. In keiner dieser Ursachen ist das unmittelbare Ziel angelegt, ein Volk auszulöschen.«97 Nun stimmt es allerdings, dass Mandel »den Holocaust als den endgültigen Ausdruck der zerstörerischen Tendenzen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft« sieht, »Tendenzen, die tief im Kolonialismus und Imperialismus verwurzelt sind“.98 Im Gegensatz dazu versucht meine hier unterbreitete Interpretation das Eigentümliche, das in Mandels Darlegung fehlt, auszufüllen, insbesondere, indem der Dynamik des Nationalsozialismus als Massenbewegung ein, wir mir scheint, angemessenes Gewicht gegeben wird.
Das mag Geras immer noch nicht zufrieden stellen. Zwei Gründe könnte ich mir dafür vorstellen. Einer lautet, dass dies einfach keine sehr gute Erklärung ist (was gut sein kann): Sie schafft es nicht, Faktoren einzubeziehen oder ausreichend zu betonen, die für ein richtiges Verständnis des Holocaust entscheidend sind. Und dieses Versagen spiegelt vielleicht eine tiefer reichende, dem Marxismus als Gesellschaftstheorie eigene Kurzsichtigkeit wider. Vielleicht ist dem so: Das wird die weitere kritische Auseinandersetzung, die historischen Untersuchungen zu eigen ist, zeigen. Es gibt jedoch einen anderen Grund, warum die Interpretation des Holocaust, wie sie hier unterbreitet wurde, Geras nicht zufrieden stellen kann (oder überhaupt irgendwen): dass nämlich einfach keine Erklärung der Vernichtung der Juden wirklich befriedigend sein kann, nicht weil die Erklärung notwendigerweise falsch sein muss, sondern wegen der Ungeheuerlichkeit des Ereignisses, das begreifbar gemacht werden soll. Solch ein immanentes Auseinanderklaffen zwischen Ursache und Wirkung ist vermutlich zumindest Teil dessen, was Hannah Arendt zum Ausdruck bringen wollte, als sie ihre gefeierte These von der »Banalität des Bösen« vorbrachte. Diese Kluft zwischen dem Ereignis des Holocaust und unseren Versuchen, ihn theoretisch zu begreifen, ist der rationale Kern der Idee, die unter anderen Elie Wiesel aussprach, wonach der Holocaust außerhalb der Geschichte und des Begreifens liegt.
Schweigen ist zweifellos eine berechtigte Antwort auf das, was in Auschwitz geschah, aber, wie ich darzulegen versuchte, nicht ausreichend. Theoretische Verallgemeinerung ist erforderlich, und nicht nur, um den Holocaust in all seiner Eigentümlichkeit zu erfassen. Denn Mandel hat nicht einfach Unrecht, wenn er die Vernichtung der Juden in den Zusammenhang der umfassenderen Geschichte des Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftssystem stellt, selbst wenn das Herstellen dieses Zusammenhangs unzulänglich ist. Mike Davis hat in seinem atemberaubenden Buch »Late Victorian Holocausts« (deutscher Titel: »Die Geburt der Dritten Welt«) gezeigt, wie die britische imperiale Politik in Indien zur Verringerung der Regierungsausgaben und Förderung der Arbeitshaltung unter den Armen dazu beitrug, die großen Dürreperioden von 1876–79 und 1896–1902 in Katastrophen entsetzlichen Ausmaßes zu verwandeln: Die Zahl der indischen Opfer von Hungersnot und Krankheiten in diesen zwei Dürrezeiten beträgt nach Schätzungen insgesamt 12 bis 30 Millionen (viele weitere Millionen Menschen starben in China und andernorts).99
Natürlich sind Lord Lytton und Lord Curzon – die jeweiligen britischen Vizekönige von Indien in diesen beiden Dürrezeiten – und die britische Regierung, denen sie dienten, nicht mit Himmler und Heydrich zu vergleichen. In ihrem Fall fehlte die Absicht, Millionen Menschen zu vernichten.100Aber können wir daraus schließen, dass diejenigen, die eine auf ihre Weise ebenso gefühllose und ideologische Politik verfolgten wie die Nazis, auch wenn sie beseelt war von Smith, Malthus und Spencer statt von dem merkwürdigen Gebräu Hitlers, und deren Folgen der vermeidbare Tod von Millionen Menschen war, zu einem völlig anderen moralischen Universum gehören als dem der rassistischen Bürokraten des RSHA? Denken wir zum Beispiel an die Worte des höchst angesehenen Oxford-Philosophen Hastings Rashdall, die 1907 veröffentlicht wurden:
Ich will jetzt einen Fall erwähnen, bei dem vermutlich niemand unschlüssig sein wird. Es wird heute hinreichend offensichtlich, dass alle Verbesserungen der sozialen Verhältnisse der höheren Menschenrassen den Ausschluss der Konkurrenz mit den niedrigeren Rassen erfordern. Das heißt, dass früher oder später das niedrigere Wohlergehen – letztendlich vielleicht sogar die Existenz – zahlloser Chinesen oder Neger geopfert werden muss, damit der viel geringeren Zahl der Weißen ein höheres Leben ermöglicht wird.101
Solche Vergleiche führen zu einer weiteren Komplikation. Davis behauptet nämlich, dass die Katastrophen, die er nachzeichnet, nicht nur Folge des unheilvollen Zusammenwirkens des Wettersystems mit imperialer Politik und liberaler Ideologie waren, sondern die Verwandlung bis dahin blühender Regionen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas in »hungerleidende Peripherien eines von London dominierten Weltwirtschaftssystems« widerspiegelte.102 Die Unterordnung der Kleinbauernschaften unter den Rhythmus eines Weltmarkts, der außerhalb ihres Begreifens und ihrer Kontrolle lag, und die Verschuldung ihrer Herrscher gegenüber europäischen und amerikanischen Banken erhöhte die Verwundbarkeit ganzer Gesellschaften gegenüber extremen Witterungserscheinungen. Hier dem roten Faden der Verantwortung nachzugehen, wird zunehmend schwieriger. Wiederum gibt es bei den Bankiers und Börsenmaklern eindeutig nicht den Willen zur Vernichtung, dennoch haben ihre Entscheidungen vielleicht wesentlich zur Vernichtung ganzer Gemeinschaften tausende Kilometer entfernt beigetragen.
Wie wollen wir also Handelnde beurteilen, die eine vorrangige Rolle in unpersönlichen Wirtschaftsmechanismen spielen, die verheerende Folgen für andere haben? Das ist natürlich nicht nur eine historische Frage. Wir leben in einer Zeit, da die Ideologie des Laissez-faire, welche die viktorianische Gleichgültigkeit gegenüber der indischen Hungersnot rechtfertigte, in der Form des »Washington-Konsenses«, der jetzt die westlichen Finanzministerien und multilateralen Körperschaften wie den IWF und die WTO beherrscht, ihre Rückkehr feiert. Ken Livingstone rief einige Empörung hervor, als er während der Londoner Bürgermeisterwahlen im Jahr 2000 sagte, der Kapitalismus bringe jedes Jahr mehr Menschen um als Hitler.103 Aber selbst eine viel besonnenere Person, der skeptische liberale Historiker Peter Novick, verwies auf die »merkwürdige Anomalie«, dass inmitten der immer aufwändigeren Holocaust-Gedenken 10 bis 12 Millionen Kinder jährlich sterben, weil »ihnen die Nahrung und die medizinische Minimalversorgung fehlen, die sie am Leben erhalten würden«, eine Ursache, deren Beseitigung durchaus in der Macht der Menschen steht.104
Der Zweck dieser Vergleiche besteht nicht darin, den Holocaust bis zur Unkenntlichkeit zu relativieren, oder die historische Einmaligkeit der Vernichtung der Juden zu leugnen. Ein großer Teil dieses Aufsatzes hat sich schließlich dieser Einmaligkeit gewidmet. Vielmehr geht es darum, dass vermeidbare, gesellschaftlich verursachte Massentode ein beständiges Kennzeichen der modernen Welt sind. Das Ursachengemisch bei diesen Massentoden – Wirtschaftsstrukturen, bürokratische Abgestumpftheit, Gemeinschaftsideologien, bewusste Politik und solch verschiedene Gefühle wie Hass, Gier, Angst, Gleichgültigkeit und das Genießen einer entstellten Befreiung – ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Soweit der Holocaust ein Extrem darstellt – das des bewussten, industriellen Massenmords –, stellt die gegenwärtige Kindersterblichkeit das andere Extrem dar – das der unpersönlichen strukturellen Ursachen.105 Beide sind jedoch vermeidbar, und beide entstanden innerhalb des modernen Kapitalismus. Die Vernichtung der Juden zu erforschen, ist wichtig. Wir müssen uns der Opfer erinnern und wachsam sein gegenüber Bewegungen, die die schamlose Ideologie des Nationalsozialismus wiederbeleben. Den Holocaust zu verstehen, kann jedoch helfen, die Massenmorde zu verhindern, die jetzt geschehen, damit wir nicht weiterhin nur Zuschauer sind.
1Alex Callinicos ist führendes Mitglieder der britischen Socialist Workers Party und Autor zahlreicher Bücher, u.a. Die revolutionären Ideen von Karl Marx. Dieser Aufsatz wurde von Rosemarie Nünning in Zusammenarbeit mit David Paenson und Einde O’Callaghan aus dem Englischen übersetzt.
2Dieser Text war Grundlage meiner Antrittsvorlesung an der Universität York am 2. März 2001. Die darin unterbreitete Interpretation trug ich ursprünglich im Juli 1993 in einer Rede auf Marxism 93 vor (der jährlichen Diskussionswoche der Socialist Workers Party in London). Ich bin Tom Baldwin, Norman Geras, Donny Gluckstein und Julie Waterson für ihre Kommentare sehr dankbar. Außerdem stehe ich bei zwei Personen in der Schuld, was auf die 1970er Jahre zurückgeht: bei dem verstorbenen Tim Mason wegen seiner persönlichen Freundlichkeit und der intellektuellen Anregung, die er mir bot, und bei Colin Sparks, der mir (unter viel freundlicher Neckerei) informelle Lehrstunden über die marxistische Theorie zum Faschismus gab.
3Karl Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke (MEW) Bd. 1, Berlin (Dietz) 1985, S. 385
4Norman Finkelstein, Die Holocaust-Industrie, München 2001, S. 53
5Peter Novick, Nach dem Holocaust, Stuttgart 2001, S. 406, Fußn. 107
6Mit dem Problem des Vergleichens setzten sich einige der Vernünftigeren in ihren Beiträgen zum deutschen „Historikerstreit“ in den 1980er Jahren gründlich auseinander. Siehe besonders Hans Mommsen, „The New Historical Consciousness and the Relativizing of National Socialism“, in: Forever in the Shadow of Hitler?, Atlantic Highlands, NJ 1993.
7Novick, Nach dem Holocaust, S. 251
8Walter Garrison Runciman, A Treatise on Social Theory, Cambridge 1983, I. 20
9Siehe zum Beispiel Saul Friedländer (Hrsg.), Probing the Limits of Representation, Cambridge 1992, und Norman Geras, „Life Was Beautiful Even There“, Imprints 5, 2000.
10Norman Geras, „Marxists before the Holocaust“, in: ders., The Contract of Mutual Indifference, London 1998, S. 143–144. Zu Mandels Begegnung mit dem Tod während des Krieges siehe „The Luck of a Crazy Youth“, in: Gilbert Achcar (Hrsg.), The Legacy of Ernest Mandel, London 1999, wo auch Geras’ Aufsatz erschien.
11Ernest Mandel, Der Zweite Weltkrieg, Frankfurt am Main 1991, S. 89–90. Siehe auch ders., „Material, Social and Ideological Preconditions for the Nazi Genocide“, in: Gilbert Achcar (Hrsg.), Legacy of Ernest Mandel.
12Geras, „Marxists before the Holocaust“, S. 147
13Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, „Elemente des Antisemitismus, Grenzen der Aufklärung“, in: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1969, S. 151–186. Enzo Traverso stellt eine noch größere Unfähigkeit in Jean-Paul Sartres Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek 1994, fest, den Holocaust zu begreifen; siehe Traverso, „The Blindness of the Intellectuals“, in: ders., Understanding the Nazi Genocide, London 1999.
14Eric J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München 1995, Kap. 5. Ein entgegengesetzter Ansatz zur faschistischen Herausforderung an die liberale Demokratie ist die Hauptstärke von Mark Mazowers ansonsten enttäuschender Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, Der dunkle Kontinent, Berlin 2000.
15Traverso, Understanding the Nazi Genocide, S. 44
16Novick, Nach dem Holocaust, besonders Kap. 1–4
17Besonders Finkelsteins überhebliche Zurückweisung der politischen Bedrohung, die das Leugnen des Holocausts und die Rechtsextremen darstellen – wenn er zum Beispiel erklärt, „es gibt keinen Beleg, dass Leugner des Holocausts in den USA einen nennenswert größeren Einfluss ausüben als die Gesellschaft zur Unterstützung der Erdscheiben-Hypothese“ (Die Holocaust-Industrie, S. 75) –, scheint mir ein ernsthafter Irrtum zu sein.
18Timothy W. Mason, Social Policy in the Third Reich, Oxford 1993, S. 282, aus seinem postum veröffentlichten Nachwort zu seinem zuerst auf Deutsch erschienenen Buch Sozialpolitik im Dritten Reich, Opladen 1977.
19Ebd., S. 282
20Siehe besonders die Forschung, die in den Beiträgen zu Ulrich Herbert (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939–1945, Frankfurt am Main 1998, zusammengefasst wurde.
21Leo Trotzki, Die russische Revolution 1905, Berlin 1972, (Nachdruck von 1923), S.108
22Geras, „Marxists before the Holocaust“, S. 139
23Ebd., S. 159–160
24Ebd., S. 158, 163, 164. Eine Auswahl solcher Beschreibungen findet sich in den abstoßenden Erzählungen, die Ernst Klee u. a. zusammengestellt haben, Was sie taten – was sie wurden: Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord, Frankfurt am Main 1986.
25Norman Geras, „Socialist Hope in the Shadow of Catastrophe“, in: Contract of Mutual Indifference
26Slavoj Žižek, Die Tücke des Subjekts, Frankfurt am Main 2001, S. 547
27Ähnliche Überlegungen ließen sich auch zu anderen Versuchen anstellen, den Holocaust unmittelbar aus angeblich allgemeinen Wesenszügen der menschlichen Natur zu erklären – zum Beispiel aus dem Bedürfnis nach Identität, das nach G. A. Cohen den unterschiedlichen nationalen, ethnischen, religiösen und rassischen Identifikationen zu Grunde liegt: siehe ders., „Reconsidering Historical Materialism“, in: Alex Callinicos (Hrsg.), Marxist Theory, Oxford 1989.
28Traverso, Understanding the Nazi Genocide, S. 60
29John Strachey, The Coming Struggle for Power, London 1934, S. 261; Georgi Dimitrow, in: Wilhelm Pieck u. a., Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Komintern im Kampf für die Volksfront gegen Krieg und Faschismus. Referate auf dem VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale (1935), Berlin (Ost) 1957, S.85–178, hier S. 87 (auch: www.mlwerke.de/gd/gd_001.htm). Eine ausführliche kritische Diskussion der Komintern-Analyse des Faschismus findet sich bei Nicos Poulantzas, Faschismus und Diktatur, München 1973.
30Mir ist bewusst, dass Historiker es jetzt als etwas altmodisch betrachten, „Faschismus“ als Gattungsbegriff für einen besonderen Typus von Bewegung und Regime zu verwenden, statt ihn speziell auf den Fall Italien zu beziehen. Dennoch halte ich diesen Gebrauch für unvermeidlich: Erstens, weil ich marxistische Theorien über den Faschismus diskutiere, die ihn in diesem weiten Sinne auffassen. Zweitens, weil ich die grundsätzliche Weigerung, durch vergleichende Analysen Ähnlichkeiten und Unterschiede zu beleuchten, die nicht nur den deutschen Nationalsozialismus und italienischen Faschismus miteinander in Verbindung setzen, sondern auch neuere rechtsextreme Bewegungen, für den schlimmsten historischen Obskurantismus halte. Eine Diskussion über „das Verschwinden von Theorien oder klaren Konzepten zum Faschismus aus Forschung und Schriften über das Dritte Reich“ bietet Timothy W. Mason, „Whatever Happened to ‚Fascism‘?“ in: Nazism, Fascism and the Working Class, (hrsg. v. Jeffrey Kaplan), Cambridge 1995, Zit. von S. 323.
31Arno J. Mayer, Adelsmacht und Bürgertum, München 1984. Beschränkt auf Deutschland, kommt Mayers These einer Idee nahe, die unter westdeutschen linksliberalen Historikern sehr einflussreich ist: der des Sonderwegs. Diese Interpretation, nach der die deutsche Geschichte (zumindest vor 1945) einem „Sonderweg“ folgte, der die Dominanz vormoderner agrarischer Eliten spiegelte, wurde meiner Ansicht nach endgültig widerlegt: siehe David Blackbourn und Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung: Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, Frankfurt am Main 1980. Eine alternative Darstellung Europas am Ende des 19. Jahrhunderts findet sich in: Eric J. Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter 1875–1914, Frankfurt am Main 1989.
32Arno J. Mayer, Der Krieg als Kreuzzug, Reinbek 1989, S. 48, 69, 70, 358. Mayers detaillierte Darstellung des Holocausts findet sich ebd., Teil III.
33Siehe zum Beispiel Christopher R. Browning, „The Holocaust as By-product?“, in: ders., The Path to Genocide, Cambridge 1995.
34Ian Kershaw, Hitler 1936–1945 (Bd. II), Frankfurt am Main und Wien 2000, S. 475–477
35Walter Manoschek, „Die Vernichtung der Juden in Serbien“, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939–1945. Siehe allgemeiner Omer Bartov, Hitlers Wehrmacht, Reinbek 1995.
36Siehe zum Beispiel Arno J. Mayer, The Furies: Violence and Terror in the French and Russian Revolutions, Princeton 2000.
37Ein gutes Bild der aristokratischen Welt, die an der Verschwörung zur Ermordung Hitlers beteiligt war, ergibt ein Teil der Erinnerungsliteratur: siehe zum Beispiel Christabel Bielenberg, Als ich Deutsche war, München 1969, und Die Berliner Tagebücher der „Missie“ Wassiltschikow: 1940–1945, Berlin 1987.
38Joachim C. Fest, Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli, Berlin 1994, S. 25
39Siehe zum Beispiel Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, und als allgemeine Studie der Literatur Melanie Nolan, „Work, Gender and Everyday Life: Reflections on Continuity, Normality and Agency in Twentieth-Century Germany“, in: Ian Kershaw und Moshe Lewin (Hrsg.), Stalinism and Nazism, Cambridge 1997.
40Mayer, Kreuzzug, S. 617
41Angesichts seiner späteren Entwicklung ist ironischerweise diese Beschreibung des Nationalsozialismus Ernst Noltes Definition des Faschismus als „revolutionäre Reaktion“ sehr ähnlich: siehe Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963.
42Leo Trotzki, „Was nun?“, in: Helmut Dahmer (Hrsg.), Schriften über Deutschland, Bd. I, Frankfurt am Main 1971, S. 198
43Poulantzas, Faschismus und Diktatur, S. 63
44Trotzki, „Was nun?“, in: Dahmer (Hrsg.), Schriften über Deutschland, Bd. I, S. 194
45Trotzki, „Porträt des Nationalsozialismus“, ebd., Bd. II, S. 574
46Siehe die genaue Analyse dieser Belege in Donny Gluckstein, The Nazis, Capitalism and the Working Class, London 1999, Kap. 4, und Ian Kershaws Zusammenfassung der allgemeinen Stimmung am Vorabend der Machtergreifung durch die Nazis: Hitler 1889–1936, (Bd. I), Kap. 10, Frankfurt am Main und Wien 1999, S. 502–511.
47Daniel Guérin, Fascism and Big Business, New York 1973, S. 76
48Trotz des unschätzbaren Werts von Ian Kershaws Studie Hitler als überzeugend geschriebene und wissenschaftliche Synthese einer Fülle von Literatur, zeichnet Fests ältere Biografie (vielleicht weil sein Konservatismus ihn besser auf die Nuancen des deutschen Kulturlebens einstimmt) ein überzeugenderes Porträt von Hitler als rassischer Revolutionär, der, als seine machiavellistische Beschäftigung mit den Realitäten der Macht endgültig vor Stalingrad zu Grunde ging, in den Utopismus der Zeit von vor 1923 zurückfiel und die „Strategie eines glorreichen Niedergangs“ einschlug; Hitler, Harmondsworth 1977, S. 666. Siehe auch ebd., S. 609–613.
49Trotzki, „Der einzige Weg“, in: Dahmer, Schriften über Deutschland, Bd. I, S. 356; „Bonapartismus und Faschismus“, Bd. II, S. 680; „Der einzige Weg“, Bd. I, S. 353; „Porträt des Nationalsozialismus“, Bd. II., S. 578 (der letzte Satz findet sich nur in der englischen Fassung: L. D. Trotsky, The Struggle against Fascism in Germany, New York 1971, S. 405; www.marxists.org/archive/trotsky/works/1930-ger/330610.htm).
50Poulantzas, Faschismus und Diktatur, Kap. VIII
51Fest, Staatsstreich, S. 334
52Meiner Ansicht nach lässt sich so auch die Beziehung zwischen Staat und Kapital am besten fassen: siehe R. Miliband, „State Power and Class Interests“, New Left Review 138 (1983), und Chris Harman, „The State and Capitalism Today“, International Socialism 2.51, London 1991. Die Analyse von Henry Ashby Turner in: Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 1985, stellt eine detaillierte Bestätigung der hier entwickelten Interpretation dar, obwohl er marxistische Ansätze zum Nationalsozialismus widerlegen wollte.
53Detlev Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987, S. 129–131, 21–25
54Kershaw, Hitler, Bd. I, S. 525
55Ebd., Bd. I, S. 554; siehe allgemeiner ebd., Bd. I, Kap. 11 und 12
56Siehe ebd., Bd. II, Kap. 1
57Eine leicht verständliche Zusammenfassung dieses Themas findet sich bei Omer Bartov, „From Blitzkrieg to Total War“, in: Kershaw und Lewin (Hrsg.), Stalinism and Nazism, 168–173.
58Timothy W. Mason, „The Primacy of Politics“, in: ders., Nazism, Fascism and the Working Class, S. 71–72
59Richard J. Overy, Hermann Göring. Machtgier und Eitelkeit, München 1986, besonders Kap. 3–6, Zitat auf S. 192
60Eine vergleichsweise ausgefeilte Version der Stamokap-Theorie bietet Paul Boccara, Studien über den staatsmonopolistischen Kapitalismus, seine Krise und seine Überwindung, Frankfurt am Main 1976. Eine Kritik dieser Theorie findet sich bei Nicos Poulantzas, Klassen im Kapitalismus, heute, Berlin 1975, und B. Jessop, The Capitalist State, Oxford 1982.
61Eine ähnliche Analyse wie die hier und in den vorhergehenden Abschnitten dargelegte bietet Gluckstein, Nazism, Capitalism and the Working Class, Kap. 7.
62Siehe Tony Cliff, Staatskapitalismus in Russland, Frankfurt am Main 1975, und Chris Harman, Explaining the Crisis, London 1984, Kap. 2.
63Eine bahnbrechende marxistische Studie mit einer differenzierten Darstellung deutscher kapitalistischer Interessen, insbesondere Hitlers Programm der territorialen Eroberung, schrieb Alfred Sohn-Rethel, Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus, Frankfurt am Main 1973.
64Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde, S. 216. Allenfalls, stellt Peukert fest, trug der Nationalsozialismus zur Entstehung einer individualisierteren und privatisierteren Gesellschaft bei, die während des westdeutschen Wirtschaftswunders der 1950er Jahre voll zur Blüte kam, indem er die traditionellen Institutionen und Werte untergrub: siehe ebd., Kap. 13. Eine schlüssige Kritik der Idee, dass Hitler einer „Sozialrevolution“ vorstand, findet sich bei Gluckstein, Nazis, Capitalism and the Working Class, Kap. 6.
65Mason, Sozialpolitik, passim. Der Arbeiterwiderstand war jedoch während des Kriegs sehr viel schwächer. Ein Grund dafür waren die spaltenden Auswirkungen, die die Anwesenheit von über siebeneinhalb Millionen ausländischer Sklavenarbeiter in Deutschland (August 1944) mit sich brachte: Deshalb wurde, wie Ulrich Herbert schrieb, „die Praktizierung des Rassismus zur täglichen Gewohnheit, zum Alltag, ohne dass sich der Einzelne daran in Form aktiver Diskriminierung oder Unterdrückung beteiligen musste“; Fremdarbeiter, Bonn 1999, S. 415.
66Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde, S. 292
67Siehe Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, Gütersloh 1967.
68Einen Überblick über diese Auseinandersetzung bietet Timothy W. Mason, „Intention and Explanation: A Current Controversy about the Interpretation of National Socialism“, in: ders., Nazism, Fascism and the Working Class.
69Kershaw, Hitler, Bd. II, S 214. Siehe ebd., Bd. II, S. 684–688, zu Hitlers Wissen um die Vernichtung der Juden (aber Weigerung, sie ausdrücklich anzuerkennen). Hitlers „Prophezeiung“ siehe in: Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt am Main 1990, Bd. 2, S. 411.
70Hans Mommsen, Von Weimar nach Auschwitz, Stuttgart 1999, S. 275; siehe besonders ders., „Barbarei und Genozid“, in: ebd., und Martin Broszat, „Hitler and the Genesis of the ‚Final Solution‘“, in: H. Koch (Hrsg.), Aspects of the Third Reich, Houndmills 1985.
71Christian Gerlach, „Deutsche Wirtschaftsinteressen, Besatzungspolitik und der Mord an den Juden in Weißrussland, 1941–1943“, in: Herbert (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik, S. 266–273
72Christoph Dieckmann, „Der Krieg und die Ermordung der litauischen Juden“, ebd., S. 292–329
73Götz Aly, „Endlösung“, Frankfurt am Main 1995, S. 168, 260. Alys frühere Arbeit zusammen mit Susanne Heim zur Bevölkerungspolitik der Nazis hat etliche Kontroversen hervorgerufen: siehe zum Beispiel Christopher R. Browning, „German Technocrats, Jewish Labour, and the Final Solution“, in: ders., Path to Genocide. Brownings Kritik scheint für dieses Buch jedoch nicht zutreffend zu sein.
74Die Haltung der Nazibeamten gegenüber ihren „Verwaltungsproblemen“ war immer von Rassismus durchsetzt. Ulrich Herbert argumentiert, dass die Besatzerbehörden in Polen bewusst eine untaugliche Politik wie die Ghettoisierung gegenüber den Juden verfolgten, um „Druck auf die Behörden in Berlin auszuüben, eine endgültige, radikale Lösung zu finden“. „Labour and Extermination: Economic Interests and the Primacy of Weltanschauung“, in: National Socialism“, Past & Present 138 (1993), S. 160
75Aly, „Endlösung“, Kap. 7–11, und „Judenumsiedlung. Überlegungen zur politischen Vorgeschichte des Holocaust“, in: Herbert (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik. Es gibt eine erhebliche Auseinandersetzung unter Historikern über die genaue Datierung der Entscheidung, die Juden zu ermorden, und ob sie, wie Aly argumentiert, als Folge frustrierter Siegeserwartungen fiel oder in der Euphorie der frühen deutschen militärischen Erfolge gegen die Rote Armee. Letztere Ansicht vertritt Christopher R. Browning in seiner einflussreichen Studie Fateful Months, New York 1985, und „Hitler and the Euphoria of Victory“, in: David Cesarini (Hrsg.), The Final Solution: Origins and Implementation, London 1994.
76Siehe Robert Jan van Pelts und Debórah Dworks überzeugende Studie, Auschwitz: von 1270 bis heute, Zürich 1998.
77Aly, „Endlösung“, S. 399
78Hitler’s Table Talk 1941–1944, London 1953, S. 332 (Retrospect 2002. Die Jahrhundertchronik. CD-Rom-Lexikon, Spiegel Verlag)
79Siehe zum Beispiel Henry Friedlander, „Euthanasia and the Final Solution“, in: Cesarini (Hrsg.), Final Solution, ders., Der Weg zum NS-Genozid, Berlin 1997, und Kershaw, Hitler, Bd. II, S. 349–359. Aly betont die Rolle der „pragmatischen Ziele“ des T-4-Programms – Platz in Krankenhäusern zu schaffen, Geld zu sparen etc. –, aber er stellt fest, dass „Ideologie dennoch insofern wichtig blieb, als sie hinreichend die Moral und die rechtlichen Schranken in den Köpfen der Täter untergrub“, „Endlösung“, S. 55.
80Michael Zimmermann, „Die nationalsozialistische ‚Lösung der Zigeunerfrage‘“, in: Herbert (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik. Die entscheidende Bedeutung von Rassismus für das nationalsozialistische Regime ist systematisch entwickelt in: Michael Burleigh und Wolfgang Wippermann, The Racial State, Cambridge 1991. Die Modernität des Nationalsozialismus ist eins der Hauptthemen von Peukerts Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde.
81Hilberg, Vernichtung, Bd. 3, S. 1093 (letzter Satz nur in der englischen Ausgabe: The Destruction of the European Jews, New York 1985, Bd. II, S. 739).
82Ebd., S. 1073. Als ein Beispiel für die Rolle, die Wirtschaftsfaktoren in bestimmten Fällen spielten, führt Christian Gerlach an: „Die abzugrenzenden Vernichtungsprogramme in Weißrussland, und zwar auch gegen andere Bevölkerungsgruppen, sind hauptsächlich auf ernährungswirtschaftlichen Druck zurückzuführen.“, „Deutsche Wirtschaftsinteressen“, in: Herbert (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik, S. 289.
83Es ist eine Schwäche von Donny Glucksteins allgemein ausgezeichneter Darstellung des Nationalsozialismus, dass er dazu neigt, die Spannungen zwischen Ideologie und Ökonomie beim Holocaust etwas herunterzuspielen: siehe The Nazis, Capitalism and the Working Class, S. 183–190. Unabhängig davon konnte Hitlers Opportunismus sich in der Endphase des Kriegs nach wie vor über ideologische Erwägungen hinwegsetzen: Im April 1944, lange nachdem das Reich „judenfrei“ geworden war, stimmte er dem Einsatz von über 100.000 ungarischen Juden in der deutschen Waffenindustrie zu: Herbert, „Labour and Extermination“, S. 189–192.
84Dina Porat, „The Holocaust in Lithuania“, in: Cesarini (Hrsg.), Final Solution
85Hilberg, Vernichtung, Bd. III, S. 1079. Zu den Motiven der Täter siehe auch ebd., S. 1076–1099, und Christopher Brownings hervorragende Studie Ganz normale Männer. Das Reservepolizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1998.
86Herbert, „Vernichtungspolitik“, in: ders., Nationalsozialistische Vernichtungspolitik, S. 52–53
87Ders., „Labour and Extermination“, S. 195
88Ein neues Beispiel dieses Fehlers findet sich in Niall Ferguson, Politik ohne Macht, Stuttgart 2001, Einführung.
89Karl Marx, „Das Kapital“, in: MEW, Bd. 23, S. 96, Fußn. 33. Siehe Louis Althusser und Etienne Balibar, Reading Capital, London 1970, S. 217–218
90Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1969, S. 434 f., 437
91Ian Kershaw, „‚Working Towards the Führer‘“, in: Kershaw und Lewin (Hrsg.), Stalinism and Nazism, S. 105
92Ebd., S. 104
93Eine weitere Diskussion dieser Themen in Bezug auf den zweiten Band von Kershaws Hitler-Biografie findet sich in: Alex Callinicos, „Just a Case of Bad Intentions?“, Socialist Review, London, November 2000.
94Žižek, The Ticklish Subject, London 1999, S. 228
95Ders., „Class Struggle or Postmodernism? Yes, Please!“, in: Judith Butler u. a., Contingency, Hegemony, Universality, London 2000, S. 130, Fußn. 17
96Diese indirekte Verbindung wurde von Joel Geier auf Marxism 1993 sehr gut ausgedrückt: „Der deutsche Kapitalismus brauchte den Holocaust nicht. Aber er brauchte die Nazis, und sie brauchten den Holocaust.“
97Geras, „Marxists before the Holocaust“, 166, Fußn. 43
98Mandel, „Material, Social and Ideological Preconditions“, S. 229
99Mike Davis, Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter, Berlin/Hamburg 2004
100David Goodhart, Curzons neuester Biograf und Bewunderer der britischen Herrschaft in Indien, lobt sogar „die Energie und Sorgfalt Curzons im Umgang mit der Hungerkrise“. Curzon, London 1994, S. 173
101Zit. n. Jeremy Waldron, „Two Essays on Basic Equality“, 1999, 8, auch unter www.law.nyu.edu. Ich bin Chris Betram für diesen Hinweis sehr dankbar.
102Davis, Die Geburt der Dritten Welt, S. 295
103Siehe zum Beispiel R. Bennett, „Livingstone Defiant over Hitler Claims“, Financial Times, 12. April 2000.
104Novick, Nach dem Holocaust, S. 324
105Die Massenmorde, die das stalinistische Regime in der UdSSR während der 1930er Jahr beging, stellen eine Zwischenerscheinung dar, da sich in ihnen die bewusste Ausrottung von vielleicht zwei Millionen wirklicher oder angeblicher politischer Feinde mit einer nicht auf die Tötung weiterer Millionen Menschen gezielten Politik verband, obwohl dies eine vorhersehbare Folge war. Siehe Enzo Traverso, „The Uniqueness of Auschwitz“, in: ders., Understanding the Nazi Genocide, und eine neuere Studie des stalinistischen Terrors, die sich auf neue Belege stützt, J. Arch Getty und Oleg V. Naumov, The Road to Terror, New Haven 1999.
Foto: The Prime Minister’s Office
Schlagwörter: Antisemitismus, Faschismus, Hitler, Holocaust, Nationalsozialismus