Das Ergebnis der LINKEN bei der Bundestagswahl 2021 ist eine historische Niederlage. Doch wer oder was ist Schuld an dem Debakel? Und viel wichtiger: Wie geht es für DIE LINKE jetzt weiter? Sieben Thesen des marx21-Netzwerks zur anstehenden Debatte in der Partei
1. DIE LINKE ist neben der Union die große Verliererin der Bundestagswahl 2021. Sie wurde von links blinkenden Sozialdemokraten und Grünen an die Wand gedrückt.
Das gab es noch nie in der Geschichte der LINKEN: Die Partei musste um den Einzug in den Bundestag bangen. Mehr als 2 Millionen Stimmen hat sie verloren und damit fast die Hälfte ihrer Wähler:innen. Es ist eine historische Niederlage.
DIE LINKE wurde vom »Scholz-Zug« überrollt
Nur dank der drei gewonnenen Direktmandate in Berlin und Leipzig ist DIE LINKE weiter in Fraktionsstärke im Bundestag vertreten. Für alle, die in den letzten Wochen und Monaten auf der Straße, bei Diskussionsveranstaltungen, Protesten oder an den Haustüren waren, ist dieses Wahlergebnis besonders schmerzhaft. Denn die Resonanz auf das Wahlprogramm und die Positionen der LINKEN war an vielen Orten positiv. Die Partei hat an vielen Orten einen engagierten und bewegungsorientierten Wahlkampf gemacht, mit neuen Formen des Organizings experimentiert und auch neue Mitglieder gewonnen.
Linke Wahlkampagne der SPD und Grünen
Dennoch wurde DIE LINKE schließlich vom »Scholz-Zug« überrollt. Um den Kanzlerkandidaten der Union, Armin Laschet, zu verhindern, haben auch Menschen, die grundsätzlich mit der LINKEN sympathisieren, am Ende doch die SPD gewählt. Über 800.000 Stimmen hat DIE LINKE an die Sozialdemokratie verloren, der es mit einer linken Wahlkampagne gelungen ist, bei vielen Wählenden sowohl ihre Verantwortung für die »Agenda 2010« als auch für die katastrophale Regierungspolitik der Großen Koalition unter Merkel abzuschütteln.
Es wurde unterschätzt, wie hart sich DIE LINKE in Konkurrenz mit SPD und den Grünen befindet
Darüber hinaus war für viele Wähler:innen das Thema Klimapolitik wahlentscheidend. Obwohl DIE LINKE hier programmatisch gut aufgestellt ist und deutlich weitergehende Forderungen hat als die Grünen, landeten die meisten dieser Stimmen bei letzteren – darunter auch mehr als 600.000 Stimmen ehemaliger LINKE-Wähler:innen. Das Kalkül dahinter war offensichtlich, durch die Wahl der Grünen dafür zu sorgen, dass – egal unter welcher Farbkombination – ein »Garant« für mehr Klimaschutz in der nächsten Bundesregierung vertreten ist. So wurde DIE LINKE von links blinkenden Sozialdemokraten und Grünen an die Wand gedrückt. Es wurde unterschätzt, wie hart sich DIE LINKE in Konkurrenz mit SPD und den Grünen befindet. Letztlich gingen insgesamt 1,4 Millionen Stimmen ehemaliger LINKE-Wähler:innen an die beiden Parteien.
2. Die Wahlniederlage der LINKEN war nicht zwangsläufig. Einer der Hauptgründe für die herben Verluste ist der falsche Umgang mit SPD und Grünen. Dass DIE LINKE in der heißen Wahlkampfphase ihre unmittelbare Konkurrenz mit Kritik geschont hat, um sich ihr als Koalitionspartner anzubiedern, war ein schwerer Fehler.
»Die LINKE will regieren«, so die Hauptaussage der Linkspartei in der heißen Phase des Wahlkampfs. Diese Art der Kommunikation war ein gravierender Fehler, denn der Partei wurde durch den Lagerwahlkampf für Rot-Rot-Grün die Luft genommen, SPD und Grüne offensiv anzugreifen. Das wäre aber nötig gewesen, um die vielen schwankenden und unsicheren Wähler:innen zu erreichen und klarzumachen, warum es DIE LINKE überhaupt braucht und ein Regierungswechsel noch lange keinen Politikwechsel bedeutet.
Der Wunsch nach einem grundlegenden Wandel
Dabei war das Reservoir für LINKE-Stimmen durchaus vorhanden: 40 Prozent der Wähler:innen sagen, sie wünschen sich einen grundlegenden Wandel. Soziale Sicherheit, Umwelt/Klima und Wirtschaft/Arbeit waren die drei wahlentscheidenden Themen. In allen drei Bereichen haben jedoch auch SPD und Grüne linke Forderungen aufgestellt und damit die Hoffnungen vieler auf sich gezogen.
DIE LINKE hat die Glaubwürdigkeit von SPD und Grünen kaum in Frage gestellt
Obwohl klar ist, dass weder SPD noch Grüne nach der Wahl einen wirklichen sozialen und ökologischen Politikwechsel umsetzen werden, hat DIE LINKE die Glaubwürdigkeit des vermeintlichen Linkskurses der beiden Partein im Wahlkampf kaum in Frage gestellt. Anstatt die neoliberale Politik von Scholz und seiner SPD in der Großen Koalition klar zu benennen und die Grünen für ihre unzulängliche Klimapolitik und ihre Offenheit für Militarismus wie etwa bei der Beschaffung von Kampfdrohnen anzugreifen, arbeitete sich DIE LINKE in erster Linie an Laschet und Lindner ab: »Eine Ampel ist letztlich Wahlbetrug mit Ansage«, so ihr Spitzenkandidat Dietmar Bartsch. Statt das eigene Profil und die Alleinstellungsmerkmale der LINKEN in der Klimapolitik oder bei sozialen Fragen im Unterschied zu den Grünen und der SPD deutlich zu machen, wurde auf vermeintliche Schnittmengen mit denselben verwiesen.
Das Agieren des Reformer-Lagers
Schlimmer noch: Teile der Partei haben bereits während des Wahlkampfs in vorauseilendem Gehorsam die Forderungen der LINKEN heruntergespielt auf das, was unter den gegebenen Bedingungen – ohne deutliche Steuererhöhungen für Reiche und Konzerne – finanzierbar oder gegenüber den »Nato-Partnern« vertretbar ist. Aus dem Reformer-Lager der Partei wurden öffentlich etwa die außenpolitischen Positionen der LINKEN zur Disposition gestellt, um sich an SPD und Grüne anzubiedern. So zeigte sich die Co-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow offen für »friedenserhaltende« Bundeswehreinsätze.
850.000 Stimmen verlor DIE LINKE an die Nichtwähler:innen und sonstiges Parteien
So ist es nicht gelungen, die Wahlbewegung vieler Menschen, die den Versprechen von Scholz und Baerbock Glauben schenken, zu stoppen oder zumindest abzumildern. Auch diejenigen die keinerlei Hoffnung mehr in den Politikbetrieb setzen und ihrer Frustration über das Nichtwählen oder das Wählen von Kleinstparteien Ausdruck gaben, wurden für DIE LINKE mit dieser Linie verloren. 850.000 Stimmen gingen an die Nichtwähler:innen und sonstiges Parteien.
Eine alternative Politik zum Lagerwahlkampf
Es ist völlig richtig, dass DIE LINKE auf den Wunsch vieler Menschen nach einem Politikwechsel reagieren muss und sich einer tatsächlichen Linksregierung gegenüber nicht kategorisch verschließt. Doch sie hat den Fehler gemacht, SPD und Grünen ein progressives Mäntelchen umzuhängen, in der Hoffnung Teil einer Koalition zu werden. Natürlich wollen LINKE-Anhänger:innen ihre Partei in der Regierung sehen. Die Wähler:innen erwarten jedoch zugleich, dass DIE LINKE ihr Programm nicht verrät und sich für Minister:innenposten an Kürzungspolitik, Privatisierungen, Militarisierung und Krieg beteiligt.
Rote Haltelinie
Statt auf einen Lagerwahlkampf zu setzen, hätte DIE LINKE viel stärker ihr eigenes Profil hervorheben und sich von SPD und Grünen abgrenzen müssen. Es war ein Fehler, die roten Haltelinien im Wahlkampf kaum zu erwähnen. Die LINKE hätte deutlich machen müssen, dass sie einen Politikwechsel will, Regieren aber kein Selbstzweck ist. Diese Linie wurde nur von Einzelnen verfolgt, war aber nicht gemeinsame Grundlage des Wahlkampfs. Das Wahlergebnis ist die Quittung dafür.
3. Die Ausrichtung der LINKEN auf einen Lagerwahlkampf kam nicht aus dem Nichts, sondern war von Beginn an die Orientierung des Reformer-Flügels der Partei. Der alleinige Verweis auf die internen Auseinandersetzungen lenkt von der eigentlichen Ursache der Wahlniederlage ab.
Teile des linken Flügels der LINKEN haben davor gewarnt und es ist trotzdem so gekommen: DIE LINKE hat sich in einen Lagerwahlkampf begeben. Federführend waren hierbei die Reformer um Dietmar Bartsch, Bodo Ramelow und die Co-Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow.
Die Strategie des Reformer-Flügels ist nicht das erste Mal gescheitert
Schon bei ihrer Antrittsrede hat Henning-Wellsow die falsche Marschrichtung für den Wahlkampf vorgegeben. Sie erklärte: »Mein Ziel ist eine Bundesregierung ohne CDU – am liebsten eine grün-rot-rote. Ich werbe dafür, uns regierungsbereit zu machen.« Dabei macht sie keinen Hehl daraus, dass sie dafür auch bereit ist, »rote Haltelinien« zu überschreiten und zum Beispiel die Antikriegsposition der Partei aufzuweichen. Ganz im Sinne dieser Linie betonte vor allem Spitzenkandidat Dietmar Bartsch in Dauerschleife die Bereitschaft der LINKEN zu Kompromissen. Diese Strategie des Reformer-Flügels ist nicht das erste Mal gescheitert. Die PDS ist mit einem solchen Herangehen bereits 2002 im Wahlkampf baden gegangen.
Bartsch und der Lagerwahlkampf 2002
Im Frühsommer 2002 sah es für kurze Zeit so aus, als würde Rot-Grün unter Schröder und Fischer bei der damals bevorstehenden Bundestagswahl durch einen Kanzler Edmund Stoiber (CSU) und eine schwarz-gelbe Koalition abgelöst. Zugleich sanken die Umfragewerte für die PDS. Ihr damaliger Wahlkampfmanager Dietmar Bartsch setzte auf einen rot-rot-grünen Lagerwahlkampf. In einem unter seiner Federführung entworfenen Wahlmanifest der PDS hieß es: »Stoiber verhindern, das geht nur mit einer gestärkten PDS (…) Wenn es im Bundestag zur Entscheidung zwischen Stoiber und Schröder käme und wenn eine deutsche Beteiligung am Irak-Krieg gestoppt werden könnte, dann wären wir auch bereit, Schröder zum Kanzler zu wählen.«
Die PDS flog aus dem Bundestag
Die erste Schröder-Fischer-Regierung von 1998 bis 2002 hatte u. a. den ersten Angriffskrieg der deutschen Nachkriegsgeschichte (gegen Jugoslawien), die Beteiligung am Afghanistan-Krieg und die Teilprivatisierung der gesetzlichen Altersrente (»Riester-Rente«) beschlossen. Trotzdem waren Bartsch und mit ihm die PDS-Wahlkampfleitung bereit, Schröder zum Kanzler zu wählen. Die PDS rutschte in der Wahl unter 5 Prozent. Schröder und Fischer hatten sich zu diesem Zeitpunkt (August 2002) bereits klar gegen eine deutsche Kriegsbeteiligung an einem Irakkrieg ausgesprochen. Insofern rannte die PDS mit dieser einzigen »Bedingung« bei SPD und Grünen offene Türen ein. So richtig es war, sich als PDS gegen Stoiber zu stellen, so falsch war es, SPD und Grüne im Wahlkampf mit Kritik zu schonen. Dadurch war das eigenständige Profil der PDS nicht mehr erkennbar. Die PDS flog aus dem Bundestag.
Welche Konsequenzen zieht DIE LINKE?
Im Wahlkampf 2021 hat sich dieses Drama beinahe wiederholt. Doch anstatt eine kritische Aufarbeitung der Wahlkampfstrategie anzukündigen, wird die Niederlage zwar eingestanden, aber die Verantwortung von sich gewiesen. Die Architekt:innen des Lagerwahlkampfs fordern zwar »DIE LINKE soll sich neu erfinden«, wollen aber an der gescheiterten Taktik festhalten. Die LINKE-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow verteidigte im Gespräch mit »nd« das offensive Eintreten für ein Bündnis mit SPD und Grünen. Sie halte dies nicht für ein »Andienen«, wies jegliche Verantwortung für das schlechte Wahlergebnis zurück und meinte in der Berliner Runde von ARD und ZDF, das Ergebnis sei »mit Sicherheit nicht in den letzten Wochen entstanden«. DIE LINKE könne nach Jahren der Opposition im Bundestag nur schwer darstellen, dass sie auch bereit sei, Verantwortung zu tragen. Dietmar Bartsch meint zum Wahlausgang: »Wir waren zu sehr mit internen Auseinandersetzungen beschäftigt«. Solange führende Vertreter:innen des Realo-Flügels an ihren gescheiterten Positionen festhalten wird ein Neustart auf Bundeseben nur schwerlich gelingen.
4. Die Erzählung DIE LINKE hätte sich zu weit von den Interessen ihrer traditionellen Anhänger:innenschaft entfernt und würde zu sehr auf Themen wie Klima, Antirassismus oder Feminismus setzen, ist nicht nur falsch, sondern hat der Partei gleich in doppelter Hinsicht geschadet.
Wie zu erwarten, wiederholt Sahra Wagenknecht als Reaktion auf das Wahlergebnis ihre These, DIE LINKE hätte »sich in den letzten Jahren immer weiter von dem entfernt, wofür sie eigentlich gegründet wurde: als Interessenvertretung für normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für Rentnerinnen und Rentner.« Auch Klaus Ernst meint, das Problem der LINKEN sei, dass sie »kaum noch bei den abhängig Beschäftigten verankert ist, aber jeder Bewegung hinterher läuft, grüner als die Grünen sein will, sich über offene Grenzen für alle und darüber stritt, Wagenknecht auszuschließen.«
Der Streit um Wagenknechts Thesen hat der Partei geschadet
Richtig ist, dass DIE LINKE eine zu geringe Verankerung in der Arbeiterklasse hat. Ebenso stimmt es, dass der Streit um Wagenknechts Thesen der Partei geschadet hat. Vollkommen falsch ist es jedoch zu behaupten, DIE LINKE hätte die soziale Frage zu wenig in den Vordergrund gestellt und würde sich zu sehr um den Kampf gegen den Klimawandel oder gegen Rassismus und Unterdrückung kümmern. Tatsächlich standen soziale Themen – Löhne, Mieten, Rente, Hartz IV – im Wahlkampf der LINKEN klar im Zentrum.
Zudem sind auch Kämpfe von Frauen und sexuellen oder ethnischen Minderheiten ein wichtiger Teil des Klassenkampfs. Die Vorstellung, dass diese oder die Kämpfe der Klimabewegung an sich Arbeiter:innen abschrecken würde, ist schlicht falsch. Sicherlich gibt es konservative Teile der Arbeiterklasse, die wenig mit diesen Themen anfangen können – so ist beispielsweise die stärkste Kraft in der organisierten Arbeiterschaft in Bayern nach wie vor die CSU. Und tatsächlich ist es auch der AfD gelungen, nicht nur Teile der Arbeiterklasse für sich zu gewinnen, sondern sogar gewerkschaftlich Aktive zu ihrer Wahl zu bewegen. Wenn LINKE daraus jedoch den Schluss ziehen, soziale Fragen und Widerstand gegen Unterdrückung oder Klimakrise gegeneinander auszuspielen, begehen sie einen schweren Fehler. Klassenbewusstsein lässt sich nicht durch ein Wegducken vor konservativen oder gar reaktionären Einstellungen herstellen, sondern durch gemeinsame Kämpfe, Organisierung und die Erfahrung von Solidarität.
Die vor allem über bürgerliche Medien gefahrene Kampagne von Wagenknecht um ihr »Gegenprogramm« hat der LINKEN in gleich mehrerer Hinsicht geschadet: Sie hat sowohl Menschen abgeschreckt, die gegen Unterdrückung oder für Klimagerechtigkeit kämpfen wollen, als auch Menschen, die Wagenknechts Erzählung Glauben schenken, DIE LINKE würde nicht mehr für ihre sozialen Interessen kämpfen. Es ist schlicht falsch zu behaupten, die soziale Frage stünde nicht im Mittelpunkt der Politik der LINKEN. Dafür reicht ein Blick ins Wahlprogramm oder auf die Kampagnen der letzten Jahre.
Durch Wagenknechts Schelte der eigenen Partei wurde der Eindruck erweckt, DIE LINKE sei ein zerstrittener Haufen, der, je nach Perspektive, entweder nicht mehr an der Seite der sozial Benachteiligten stünde oder keine konsequente Haltung zur Klimabewegung oder dem Kampf gegen Rassismus oder Sexismus hätte. Es ist offensichtlich, dass dies der LINKEN in doppelter Hinsicht geschadet hat.
5. Der LINKEN kann ein neuer Aufbruch gelingen, wenn sie weiter daran arbeitet, zu einem vorwärtstreibenden Teil in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu werden. Dazu gehört ein Bruch mit der Stellvertreterpolitik und dem Fokus auf Parlamente.
Die schlechten Wahlergebnisse bei der Bundestagswahl auch im Westen überdecken eine wichtige Entwicklung in der LINKEN. Im Westen wurde der Negativtrend bei den Mitgliederzahlen gestoppt. Tatsächlich hat DIE LINKE in den alten Bundesländern einschließlich Berlin Ende letzten Jahres den Mitgliederrekord aus dem Jahr 2009 fast wieder geknackt. Für viele Parteistrukturen bedeutet dies eine Wiederbelebung. Aber was waren die Bedingungen für diesen Aufbruch?
DIE LINKE war seit ihrer Gründung neben einer parlamentarischen Partei immer schon auch eine Bewegungspartei. Die Partei unterstütze, mobilisierte und organisierte die wichtigsten Proteste in den letzten Jahren: Ob G8-Gipfel in Heiligendamm 2007, die Blockupy-Proteste 2011, Dresden Nazifrei oder die Proteste gegen das Freihandelsabkommen TTIP 2013, die kleinen oder auch größeren Streiks und Proteste in Krankenhäusern und Kitas, bei Lokführer:innen oder im Bildungsbereich, die massive antirassistische und antifaschistische Bewegung über das ganze Jahrzehnt hinweg, den Kampf gegen Mietenwahnsinn, die G20-Proteste in Hamburg, die Frauenstreiks, Klima-Demonstrationen, Anti-AfD Proteste oder die Black-Life-Matters-Bewegung sowie lokale Streiksolidarität – all diese Auseinandersetzungen waren die Triebkräfte für Wahlerfolge, vor allem aber den Parteiaufbau der LINKEN. Viele neue Mitglieder strömten dadurch in die Partei.
Nicht ihre Regierungsbeteiligungen haben DIE LINKE aufgebaut, sondern ihr Engagement in den wichtigsten Bewegungen und betrieblichen Auseinandersetzungen der letzten Jahre. In vielen Orten liegt schon heute ein Fokus der Parteigliederungen auf der Aktivität in außerparlamentarischen Initiativen. Was fehlt, ist jedoch die Ausrichtung der Gesamtpartei darauf. Die Arbeit der LINKEN muss vom Kopf auf die Füße gestellt und von Basis, Bewegung und Widerstand her gedacht werden – in den Kiezen, Schulen, Betrieben und Universitäten, im Land und auf Bundesebene.
Wie das praktisch aussehen kann, zeigt ein Blick nach Berlin. Dort gelang es durch die starke Mietenbewegung den Volksentscheid »Deutsche Wohnen und Co. enteignen!« zum Erfolg zu führen. DIE LINKE war die einzige Partei, die den Volksentscheid unterstützte. Gleichzeitig war die Regierungsbeteiligung der LINKEN in Berlin eine Belastung: Die Partei verlor bei der Abgeordnetenhauswahl 1,6 Prozent der Stimmen. Trotzdem konnte der schlechte Trend abgeschwächt werden durch die guten Wahlergebnisse in den Bezirken, in denen DIE LINKE relevanter Teil von Bewegungen ist – allen voran bei der Organisierung des Volksentscheids. Die Wahlkreise mit den stärksten Stimmenzuwächsen für DIE LINKE liegen alle in Bezirken mit überdurchschnittlich viel Zustimmung zum Volksentscheid. So etwa im Wahlkreis Treptow-Köpenick 1, wo es der LINKEN gelungen ist, bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus gegen den Trend das Ergebnis zu halten (26,2 Prozent, -0,1) und das Direktmandat von Katalin Gennburg zu verteidigen. Katalin steht als bewegungsorientierte Kandidatin mit Mieten- und Klimaprofil in deutlichem Gegensatz zum Rest des Bezirks.
Erfolge gab es auch in den Bezirken Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln: In letzterem konnte DIE LINKE bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus in drei Wahlkreisen 20 bis 30 Prozent erzielen und bei den Erststimmen um bis zu 10 Prozentpunkte zulegen. Auch bei der Bundestagswahl wurde in Neukölln trotz Verlusten mit 11,9 Prozent das beste Ergebnis der LINKEN in ganz Westdeutschland erreicht. Das zeigt: DIE LINKE kann ihr Potenzial abrufen, wenn sie einen Bruch mit der Fixierung auf Parlamente als wesentliches Aktionsfeld und Hebel für gesellschaftliche Veränderung vollzieht und ihre Kraft stattdessen in den Aufbau von sozialen Bewegungen und Streiks steckt. Durch die jahrelange Unterstützung der Streikbewegungen in den Krankenhäusern – wie aktuell in Berlin bei Charité und Vivantes – konnte DIE LINKE tatsächlich ihre Verankerung in kämpfenden Teilen der Arbeiterklasse ausbauen, statt nur darüber zu lamentieren, dass die Zustimmung in der Arbeiterschaft schwinde. Auch in vielen anderen Kreisverbänden hat DIE LINKE über den Wahlkampf die durch die Corona-Pandemie geschwächten Strukturen begonnen zu reaktivieren. So konnte die Partei in Hessen trotz enttäuschender Gesamtergebnisse die Parteistrukturen in vielen Orten stärken und 68 neue Mitglieder gewinnen. Bundesweit sind 1400 neue Mitglieder der LINKEN beigetreten.
6. Ein Hemmnis für den weiteren Parteiaufbau ist das Glaubwürdigkeitsproblem der LINKEN durch ihr Regierungshandeln. Dort wo sie mitregiert, gerät sie immer wieder in Widerspruch zu ihrem Programm und ihren Zielen. Damit DIE LINKE eine Zukunft hat, müssen sämtliche Regierungsbeteiligungen auf den Prüfstand.
Nicht nur das Sperrfeuer aus den eigenen Reihen stellt die Glaubwürdigkeit der LINKEN infrage. Überall dort, wo die Partei sich an Regierungen beteiligt, kommt sie immer wieder in einen grundlegenden Widerspruch zu ihrem eigenen Programm und den politischen Positionen, für die sie gewählt wurde. Im Bundestag zeigt sie klare Kante gegen jede Privatisierung und die Verschärfung des Asylrechts. Gleichzeitig beteiligt sie sich in Landesregierungen am Abschieberegime und stimmt Privatisierungen zu (Lies hier den marx21-Artikel: Erfahrungen und Lehren aus 10 Jahre Rot-Rot in Berlin).
Bremen: Kürzungen an den Krankenhäusern
Jüngstes Beispiel: Die rot-rot-grüne Landesregierung in Bremen setzt mitten in der Pandemie Kürzungen an den Krankenhäusern durch. Beim Bremer Klinikverbund Geno sollen 440 Stellen gestrichen werden. Die Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard von der LINKEN unterstützt die Pläne und verteidigt sie mit dem Argument, dass der landeseigene Klinikverbund rote Zahlen schreibt. So lässt sich viel von dem Vertrauen, das DIE LINKE über Jahre mit ihrer Unterstützung der Kämpfe für mehr Personal im Krankenhaus aufgebaut hat, auf einen Schlag zerstören.
Kein Einzelfall
Ein solch fataler Kurs der LINKEN an der Regierung ist alles andere als ein Einzelfall: Von der Privatisierung von 70.000 Wohnungen unter Rot-Rot in Berlin im Jahr 2002 oder der drohenden Zerschlagung und Privatisierung durch Ausschreibung der Berliner S-Bahn im letzten Jahr über die Unterstützung der Kohleindustrie gegen die Klimabewegung in Brandenburg bis hin zur Abschiebepolitik in Thüringen – jede Landesregierung unter Beteiligung der LINKEN hat politische Entscheidungen mitgetragen, die den Forderungen und Zielen der Partei diametral widersprechen. Der folgende Glaubwürdigkeitsverlust trifft DIE LINKE umso stärker, weil sie damit auch ihr Versprechen bricht, anders als die anderen Parteien zu sein.
Hinzu kommt: Wo DIE LINKE Teil von Regierungen ist, fällt sie als Opposition aus und kann als antikapitalistische Kraft weniger in Erscheinung treten. Dies schwächt den linken Widerstand und schafft Raum für die faschistische Rechte, von der Unzufriedenheit zu profitieren. Erschreckend ist in diesem Zusammenhang der Siegeszug der AfD in Thüringen. Unter der rot-rot-grünen Koalition wurde die AfD bei der aktuellen Bundestagswahl zur stärksten Partei. Für die Thüringer LINKE ist das Wahlergebnis deswegen besonders bitter, aber es zeigt, wie gefährlich der Kurs der Regierungsverantwortung werden kann (Lies hier den marx21-Artikel: Krise in Thüringen: Sieg in die Sackgasse?).
Der Grund, warum DIE LINKE an der Regierung immer wieder in Widerspruch zu ihrem Programm und den Interessen ihrer Wähler:innen gerät, ist dabei nicht in erster Linie die fehlende Standhaftigkeit ihrer Politiker:innen. Der Spielraum für linke Regierungspolitik im Rahmen eines kapitalistischen Staates ist schlicht äußerst begrenzt – erst recht mit konzernfinanzierten Koalitionspartnern und unter dem Diktat einer Schuldenbremse. Aber auch generell gilt: Da der Staat selbst von erfolgreicher Kapitalakkumulation abhängig ist, lässt sich durch eine Übernahme der Regierungsgeschäfte nicht nur die Macht der Konzerne nicht brechen, sondern selbst ein Mindestmaß an sozialen Verbesserungen gegen Kapitalinteressen kaum durchsetzen. Regierungsbeteiligungen werden deswegen leicht zu Fallen. Selbst wenn eine linke Regierung unter günstigen Kräfteverhältnissen einige Reformen durchsetzen sollte, werden solche Verhältnisse nicht dauerhaft bestehen. Und im Kuhhandel mit den Koalitionspartnern sowie durch den Druck der Kapitalseite droht immer wieder der Verrat an dem, wofür die Partei steht.
7. Neustart! Opposition ist kein Mist. Die LINKE ist als Sprachrohr und Motor für Organisierung von Widerstand und Gegenmacht gefragt.
Egal welche Regierungskoalition sich im Bund jetzt bilden wird – die Hoffnungen, die viele Menschen auf die nächste Regierung setzen, werden enttäuscht werden. Keine der möglichen Konstellationen wird eine angemessene Antwort auf die Klimakrise haben. Keine der möglichen Konstellationen wird die Reichen und Konzerne zur Kasse für die anstehenden Aufgaben bitten. Das Problem ist die Grundausrichtung von Sozialdemokratie und Grünen: Sie wollen die Profitinteressen der Konzerne im internationalen kapitalistischen Wettbewerb sichern, anstatt sich mit den Reichen und Konzernen anzulegen. Ihr Projekt ist eine sozial-ökologisch angestrichene Modernisierung des Kapitalismus – im Einvernehmen mit den Bossen und auf Kosten der Lohnabhängigen.
Bundestagswahl kein Rechtsruck
Dennoch markiert die Bundestagswahl keinen Rechtsruck. Die Zuwächse bei SPD und Grünen sind deutlich größer als die Verluste der LINKEN und die Stimmen für beide Parteien sind mit der Hoffnung auf eine progressive soziale und ökologische Politik verbunden. Wenn sie nicht liefern, wird sich schon bald zeigen, dass es eine starke LINKE nach wie vor dringend braucht. In den nächsten Jahren werden sich die Verteilungskämpfe über die Frage, wer für die Coronakrise bezahlen soll, zuspitzen. Gleiches gilt für die imperialistische Konkurrenz: Die Welt wird nicht friedlicher – die Rüstungsausgaben sind 2020 auf Rekordniveau angestiegen. Auch werden die Auswirkungen der Klimakrise, die Frage von bezahlbarem Wohnraum und die Arbeitsbedingungen in der Pflege und anderswo Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen bleiben.
DIE LINKE ist in diesen Auseinandersetzungen als Sprachrohr, Ort des Austausches und Motor für Organisierung von Widerstand und Gegenmacht gefragt. DIE LINKE hat vor Ort einen breiten Fundus von Erfahrung, wie sich die Partei als Bewegungspartei aufbauen kann. Die guten Erfahrungen in vielen Kreisverbänden in den letzten Jahren sollten die Grundlage für eine »Neuausrichtung« der Partei sein.
Schlagwörter: Bundestagswahl, DIE LINKE, Inland, Linke