»Wir brauchen mehr Aktivist:innen in den Parlamenten und parteipolitischen Gremien, um allzu angepasste Berufspolitiker:innen daran zu erinnern, wie wichtig DIE LINKE in Opposition und an der Seite der Bewegungen ist«, sagt unser Interviewpartner Ferat Koçak und unterstützt den Aufruf: »Nein zu diesem Koalitionsvertrag« in Berlin
Dieses Interview ist eine Vorabveröffentlichung aus dem neuen marx21-Magazin mit dem Titel: »Warum der Staat versagt – Corona, Kapitalismus und der Kampf um Gesundheit.« (Das Heft erscheint am 16. Dezember 2021). Bestelle jetzt Dein Jahresabo und Du erhältst die neue Ausgabe inklusive toller Prämien frei Haus!
Ferat, du bist vor kurzem als LINKER ins Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen, bist also jetzt Parlamentarier. Doch eigentlich bezeichnest du dich vor allem als Aktivisten. Was bedeutet das jetzt für dich?
Für mich ist progressive »linke« Politik vor allen Dingen mit außerparlamentarischen Auseinandersetzungen verbunden. Die Bewegung auf der Straße und die Kämpfe im Betrieb verstehe ich als den zentralen Ort, an dem politische Forderungen gestellt werden – solche Bewegungen treiben die Herrschenden vor sich her. Es sind also die Aktivist:innen in unserer Gesellschaft, die den nötigen Druck aufbauen, sich für Veränderungen einsetzen und damit die Umsetzung von Initiativen durchsetzen.
Ich will kein Politiker sein
Und um meinen Bewegungsbezug in der parlamentarischen Realität nicht zu verlieren, nicht zu vergessen woher ich komme, wofür ich eigentlich kämpfe, definiere ich meine neue Position als »Aktivist im Parlament«. Ich will eben kein Politiker sein. Ich möchte im Parlament die Stimme der sozialen Bewegungen, die Stimme der Arbeiter:innen sein, ihnen Raum geben und meine Ressourcen für sie zur Verfügung stellen. Das heißt, sich mit »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« (DWE), mit der Krankenhaus- und Klimabewegung und antirassistischen Initiativen zu treffen, um mit ihnen über ihre Interessen und Bedürfnisse zu sprechen, aber vor allem gemeinsam den Widerstand aufzubauen.
Aber du bist nicht nur Aktivist in irgendeiner Fraktion. DIE LINKE wird in Berlin mitregieren. Wie stehst du zur Koalition mit SPD und Grünen?
Mir fällt es schwer, eine deutliche linke Handschrift im Koalitionsvertrag zu finden. Ich habe mich an den Koalitionsverhandlungen im Bereich Klima, Umwelt und Tierschutz beteiligt. Sicher, die Genoss:innen kämpften in allen Verhandlungsgruppen hart, aber die SPD setzte sich in vielen Punkten durch, indem sie sich »rechts« von ihrem Wahlprogram positionierte, um dann »Kompromisse« zu erreichen, die ihrem Wahlprogram glichen. Das Programm trägt fast durchgängig die Handschrift der neoliberalen Giffey-SPD. Obendrauf fehlt der politische Wille, den Volksentscheid durchzusetzen. Das jetzige Verhandlungsergebnis ist ein Armutszeugnis für linke Politik in Berlin. Deshalb habe ich mit vielen Genoss:innen für ein klares »Nein« beim Mitglieder:innenentscheid geworben.
DIE LINKE, der Koalitionsvertrag und das Volksbegehren
Welche Probleme siehst du?
Der Koalitionsvertrag stellt sich gegen eine Entscheidung der Berliner:innen. Über eine Million von ihnen stimmten für die Initiative »Deutsche Wohnen und Co. enteignen«. Das ist fast viermal so viel Zustimmung wie DIE LINKE in Berlin erhalten hat und mehr als die mögliche Regierungskoalition an Stimmen erhalten hat. Die Initiative DWE hat sozusagen einen »Regierungsauftrag« in Berlin. Doch SPD und Grünen würgten in den Verhandlungen den Volksentscheid ab. Die Enteignung der Immobilienkonzerne ist derzeit im Verschiebebahnhof »Expertenkommission« abgestellt. Dort soll erstmal nur geprüft und frühestens 2023 über eine Umsetzung diskutiert werden (Lies hier den marx21-Kommentar: »Der Volksentscheid ist tot, es lebe der Volksentscheid!«).
Ist das kein Erfolg?
Mehrere Gutachten, unter anderem des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages und des Berliner Abgeordnetenhauses, haben schon bestätigt, dass der Volksentscheid umsetzbar ist. Er ist verfassungskonform.
Nach einem erfolgreichen Volksentscheid liegt auf der Hand, dass es nicht mehr um eine Prüfung geht, sondern der Forderung der Berliner:innen gerecht zu werden.
Ist der Volksentscheid ohne DIE LINKE umsetzbar?
Der Spekulation mit Wohnraum und den horrenden Mieten muss ein Ende bereitet werden. Diesen Willen haben SPD und Grüne nicht. Daran ändert auch eine Linke an der Regierung nichts.
DIE LINKE ist auf die Initiative von DWE angewiesen, wenn der Volksentscheid umgesetzt werden soll. Nicht anders herum. Auch ohne unsere Partei gäbe es den Volksentscheid zur Enteignung. Er lebt von den Aktivist:innen. DIE LINKE kann der Bewegung im Kampf zur Seite stehen und in der Opposition gemeinsam Druck auf die Regierung ausüben.
Was hat DIE LINKE druchgesetzt?
Aber mit dem restlichen Koalitionsvertrag bist du einverstanden?
Nein, der Vertrag atmet leider an vielen Stellen den Geist von Gentrifizierung und von einem Pakt mit den Immobilienkonzernen. Der Koalitionsvertrag enttäuscht die Berliner:innen nicht nur bei DWE. Die Initiative Hermannplatz ist ebenso wütend und das zurecht.
Warum?
Linke Stadtpolitik heißt, Stadtplanung von unten zu ermöglichen – rote Teppiche für Investoren haben da nichts verloren. Genau das passiert aber am Hermannplatz. Der Milliardär René Benko hat die Stadt Berlin mit vagen Versprechungen vom Arbeitsplatzerhalt erpresst. Gleichzeitig hängen seine Immobilienkonzerne permanent am Tropf und stehen am Rande der Insolvenz. An der Absichtserklärung der Stadt, die Benko das mega Bauprojekt am Hermannplatz zusichert, möchte auch die neue Koalition nicht rütteln – ein absehbares Zurückrudern in der Wohnungspolitik. Zusätzlich hat sich die immobilienlobbyfreundliche SPD das Ressort für Stadtentwicklung gekrallt, während die neoliberalen Grünen die Finanzen übernehmen.
Wie stehst du zur Aufstockung der Polizei?
Menschen sterben in Polizeigewahrsam und rechte Strukturen greifen in den Sicherheitsbehörden weiter um sich. In Berlin schikanieren Sicherheitskräfte regelmäßig Menschen mit vollkommen überdimensionierten Razzien in Shishabars und anderen migrantischen Läden.
Mit dem jetzigen Koalitionsvertrag macht sich DIE LINKE für die Ausweitung des Sicherheitsapparats und der Überwachung mitverantwortlich. Auch der Verfassungsschutz, den wir eigentlich abschaffen möchten, soll aufgestockt werden. Haben wir denn nichts aus den NSU-Morden gelernt? DIE LINKE gibt ihre solidarische Haltung gegenüber den Opfern rassistischer Polizeigewalt und rechten Terrors auf. Dessen Aufklärung wird von Verfassungsschutz und Polizei blockiert. Gegenüber Aktivist:innen wird es für DIE LINKE schwierig zu erklären, wie sie auf der einen Seite gemeinsam mit Black Lives Matter gegen Rassismus und Polizeigewalt kämpft und gleichzeitig in der Koalition denselben Apparat aufstockt.
Du meinst, DIE LINKE kann ihr antirassistisches Profil nicht halten?
Unter einer linken Regierung haben sich meiner Meinung nach viele in der antirassistischen Bewegung etwas anderes vorgestellt. Gut, den Untersuchungsausschuss zum rechten Terror in Berlin soll es jetzt geben. Aber schon in der letzten Legislatur gab es in dieser Causa zwei Parteitagsbeschlüsse, die unsere Fraktion gegen die SPD und die Grünen nicht durchsetzen konnte. Das zeigt, wie schwer es für DIE LINKE in Regierungsverantwortung ist, Forderungen gegen bestehende Machtstrukturen durchzusetzen. Daran hat sich jetzt auch nichts geändert. Deshalb wird es ähnlich weitergehen und bei dem Thema auch weiter blockiert.
DIE LINKE kann sich gegen die SPD und die Grünen nicht durchsetzen?
Racial Profiling ist ein systemisches Problem in den Sicherheitsbehörden. Es gibt Rassismus in den staatlichen Institutionen. Das wird auch an anderer Stellen deutlich. Einziger Lösungsansatz wäre, die Machtbefugnisse der Polizei einzugrenzen, statt sie auszuweiten.
Wem wirfst du Rassismus vor?
Den Institutionen. R2G schiebt in Berlin in Rekordhöhe ab. Trotz der peinlichen Bilanz soll sich hier ebenfalls nichts ändern. Einer Linken kann es nicht reichen, dass Abschiebungen nur nicht mehr im Winter und bei Nacht stattfinden, was eigentlich sowieso verboten ist.
Beim »Neutralitätsgesetz« läuft es nicht besser. Die Formulierung ist schwach und ist ein faktisches Berufsverbot für kopftuchtragende Muslima im öffentlichen Dienst.
DIE LINKE, Mindestbedingungen und Oppositionsarbeit
Was sind deine Mindestbedingungen an den Koalitionsvertrag?
Vor und während des Wahlkampfes haben viele Aktivist:innen und Mitglieder der LINKEN gewisse Forderungen gestellt und für deren Umsetzung gewählt. Teilweise sind diese Themen auch im Wahlprogramm gelandet und damit sind sie zur Bedingung geworden.
Dazu gehört unter anderem eine klare Umsetzungsperspektive für »Deutsche Wohnen und Co. enteignen«. Dazu gehört auch ein Ende der Ausschreibung und damit drohender Privatisierung der Berliner S-Bahn und ein klares Bekenntnis gegen Verdrängung, also bezahlbare Mieten, ein Ende der rassistischen »Clan-Razzien«, megalomanen Bauprojekten und Räumungen. Die Stadt gehört den Berliner:innen und nicht den Parteien. Parteien haben nur einen Verwaltungsauftrag durch die Wähler:innen erhalten.
Was wäre dann deine Strategie?
Opposition und außerparlamentarische Bewegungsarbeit: Dann müssten wir uns mit unserer Kritik an SPD und Grünen nicht zurückhalten. Auch bliebe die Kritik an der Regierung nicht Rechten und Konservativen überlassen. Wir könnten viel besser die sozialen Bewegungen für uns gewinnen.
Ziehst du sozusagen außerparlamentarische Arbeit vor?
Definitiv, auch wenn ich beides – also parlamentarische und außerparlamentarische Aktivitäten – als notwendig sehe. Schließlich sind die Parlamente in ihrer heutigen Form eine historische Errungenschaft der Arbeiter:innenbewegung.
Aber viele Menschen glauben, dass politische Macht nur aus den Parlamenten kommt. Die wenigen Stellvertreter:innen in den Parlamenten haben aber nicht das Potenzial, tiefgreifende Veränderungen in der Verwaltungsmühle durchzusetzen.
Sind deshalb linke Parteien an der Regierung bisher gescheitert?
Der Staat selbst ist keine neutrale Institution. Die meisten Regierungsbeteiligungen enden im Desaster
Unter anderem. Das Zitat, das oft Kurt Tucholsky zugeschrieben wird –»Sie dachten, sie seien an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung« – beschreibt das Regierungsversagen sehr deutlich.
Die Macht in der Gesellschaft liegt in erster Linie nicht in den Parlamenten und Regierungen. Die ungeheure Machtkonzentration liegt bei den großen Konzernen. Eines ihrer Instrumente ist die Lobbyarbeit. Damit versuchen sie Regierungen zu einer kapitalfreundlichen Politik zu bewegen.
Wie ist das möglich?
Der Staat selbst ist keine neutrale Institution – die Strukturen von Verwaltung, Justiz, Armee oder Polizei sind konservativ und weitgehend unabhängig von demokratischer Kontrolle. Dieses Demokratiedefizit kann auch eine Regierung unter Beteiligung von linken Parteien nicht grundsätzlich lösen.
Aber gibt es nicht auch positive Effekte einer Linken an der Regierung?
Den Gedankengang einiger Genoss:innen, die darauf setzen, durch das Mitregieren das Leben für einige ein wenig sorgloser zu gestalten, kann ich nachvollziehen. Aber die meisten Regierungsbeteiligungen enden im Desaster.
Das Alleinstellungsmerkmal der Partei, ihr eigenständiges, linkes Profil geht flöten, weil Haltelinien der Partei und der Bewegungen überschritten werden.
Was meinst Du mit Haltelinien?
Schauen wir uns die Situation in Berlin an: Der Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex. Die Linke hat zwei einstimmige Parteitagsbeschlüsse dazu, aber wir konnten ihn trotzdem nicht durchsetzen. Es ist sinnbildlich. Wir sagen: Wir sind gegen Abschiebung, gegen Räumung linker Freiräume, trotzdem ist das Berliner Alltag. Und weil wir an der Regierung sind, ist DIE LINKE mitverantwortlich und die Kritik im Interesse des Fraktionsfriedens zu leise.
DIE LINKE und der Parteiaufbau
Was bedeutet das für dein Verständnis der Partei DIE LINKE?
DIE LINKE kann mehr anbieten als die sozialdemokratische Tradition der parlamentarischen Stellvertreterpolitik. Alleine durch parlamentarische Repräsentanz kann der Anspruch »LINKS wirkt« nicht eingelöst werden. Ich verstehe unsere Partei als Bindeglied zwischen Aktivist:innen. Dadurch ergibt sich eine entsprechende Verantwortung.
Wie sieht diese aus?
Die Partei muss der verlängerte Arm der Bewegungen bilden und der Lautsprecher der Interessen der Arbeiter:innen sein. Wir brauchen eine sozialistische Massenpartei, die sich als Sprachrohr und Motor von Bewegungen und Klassenkämpfen versteht. Als Teil des Aufbaus gesellschaftlicher Gegenmacht können wir einen Beitrag zur Durchsetzung progressiver Politik im Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse leisten. Wenn wir uns als Partei verstehen, die für und mit den Bewegungen Politik macht, müssen wir diese kennen. Dadurch würden wir an Zustimmung gewinnen, anstatt sie zu verlieren.
DIE LINKE sollte ganz anders sein als die etablierten Parteien
Nicht nur die Initiative von DWE zeigt, dass Radikalität mehrheitsfähig ist. Die Zielrichtung linker Politik muss daher die Stärkung der Kampffähigkeit sein und nicht die Hoffnung auf politische Stellvertreter. Um dieser Rolle als sozialistische Kraft gerecht zu werden, muss DIE LINKE ganz anders sein als die etablierten Parteien.
Was heißt das für den Parteiaufbau?
Anstatt sich im Klein-Klein des parlamentarischen Alltags zu verzetteln, gilt es gemeinsam dort handlungsfähig zu sein, wo sich gesellschaftliche Konflikte zuspitzen, wo Widersprüche aufbrechen, wo Bewegung entsteht. In den letzten Jahren haben sich viele junge Menschen über die Klimabewegung sowie die antirassistischen Mobilisierungen politisiert. Diese Generation ist die Zukunft für linke Politik. Auch in den Betrieben gibt es zarte Pflänzchen des Widerstandes – wie die Berliner Krankenhausbewegung gezeigt hat. DIE LINKE kann diese Menschen gewinnen, wenn sie sich als antikapitalistische, bewegungsaufbauende und oppositionelle Kraft aufstellt.
Also ist die Linke an eine oppositionelle Rolle gebunden?
Ja, ich bin da ganz altmodisch (lacht). Die Rolle einer oppositionellen Partei ist vorgezeichnet, »als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten«, wie es Luxemburg schon sagte.
Wir haben keine Zeit mehr für Umwege
Ich glaube, viele LINKE-Anhängerinnen können sich nicht vergegenwärtigen, was aus einer Opposition heraus an Veränderungen geschaffen werden kann, wenn wir Teil einer breiten und kämpferischen Bewegung sind. Ich würde mich freuen, wenn wir uns als LINKE auf die Organisierung und Mobilisierung auf den Straßen konzentrieren und die Kämpfe zusammenführen. Die fünf unterschiedlichen Finger einer Hand müssen eine gemeinsame Faust werden. Wir haben keine Zeit mehr für Umwege.
Ferat, vielen Dank für das Gespräch.
Interview: Karim Khoury
Bild: DIE LINKE. Neukölln
Schlagwörter: Berlin, DIE LINKE, DIE LINKE Berlin, Koalitionsvertrag, Linke Opposition, Rot-Rot-Grün