Viel ist derzeit von der »Filterblase« durch die sozialen Netzwerke die Rede. Doch die ist nur ein Teil einer weiter reichenden gesellschaftlichen Entwicklung. Ein Ausblick darauf, ist jetzt als Taschenbuch erschienen. Von Theodor Sperlea
Wissenschaftliche und technische Neuerungen sind zwar gesellschaftlich bedingt, wirken aber auch immer auf die Gesellschaft zurück. Der Buchdruck machte es möglich, dass verschiedene Meinungen sich verbreiten und koexistieren konnten, und war somit eine Voraussetzung für die Aufklärung. Die Erfindung der Telegrafie und später des Telefons ermöglichte eine schnelle Weitergabe von Informationen, welche die Welt näher zusammengebracht hat, im Guten wie im Schlechten. In seinem Buch »Die Granulare Gesellschaft« gibt der Soziologe und Journalist Christoph Kucklick einen Ausblick, auf welche kommenden Veränderungen wir uns dank der digitalen Revolution einstellen müssen.
Gesellschaftlicher Wandel durch Digitalisierung
Seine Grundthese ist folgende: Durch das Internet, das immer mehr Geräte des täglichen Lebens miteinander vernetzt, besteht die Möglichkeit, das Verhalten jedes Menschen viel genauer als jemals zuvor zu vermessen. Wenn nun die neuesten Errungenschaften der Forschung in maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz in Verbindung mit dieser Datenfülle genutzt werden, dann erweitern sich einerseits die Möglichkeiten zur individuellen Lebensgestaltung, aber andererseits auch die der Überwachung. Wir werden viel mehr über uns selbst wissen, werden ganz gezielt genau die Produkte angeboten bekommen, die wir wollen, werden unterschiedlich einkaufen, lernen, arbeiten – und uns darin von anderen abgrenzen. Die bisher gültigen Verallgemeinerungen darüber, wie Menschen leben und denken, werden durch viel genauere Beschreibungen der Vielfalt in unserer Gesellschaft ersetzt. Jedoch wird bei all der Vielfalt nicht mehr viel Gesellschaft übrig bleiben, warnt Kucklick.
Entstehen der granularen Gesellschaft
Diese neue Formation nennt Kucklick die »granulare Gesellschaft«, deren Anfänge er bereits im Heute zu erkennen glaubt. Als Beispiel nennt er den fünfjährigen Felix, dessen Blutzuckerspiegel von seinen datenaffinen Eltern seit seiner Diabetes-Diagnose ständig überwacht wird. Sie wollen sicherstellen sofort auf Veränderungen seines Zustands reagieren zu können. Wo Ärztinnen und Ärzte solche datenreichen Messmethoden übernehmen, scheint es, als gäbe es die klassischen Krankheiten nicht mehr, da jede Patientin und jeder Patient individuelle Charakteristika zeigt. Kucklick sieht diese Tendenz in allen Bereichen unseres Lebens und lässt seine Leserinnen und Leser mit Fragen zurück. Welche unserer Politikmodelle funktionieren noch, wenn die Wählerschaft komplett vermessbar ist? Wie frei können wir handeln, wenn jeder unserer Schritte zum Beispiel von Werbefirmen verfolgt, gespeichert und ausgewertet werden kann? Wie finden wir eine gemeinsame Gesprächsbasis, wenn wir uns hauptsächlich aus unseren Facebookfeeds informieren?
Dass der Autor hier keine Antworten liefert, ist der Komplexität des Themas geschuldet, zeichnet das Buch zugleich aber aus. Manche der beschriebenen Tendenzen sind bereits seit einer Weile bekannt und erlangten in letzter Zeit große mediale Aufmerksamkeit. Dennoch kann Kucklicks Buch eine neue Debatte anstoßen, weil er viele Phänomene und Facetten der Entwicklung zusammenfasst und verständlich erklärt.
»Die Granulare Gesellschaft« ist ein wichtiges Buch. Aber die wirkliche Arbeit beginnt erst nach der Lektüre. Die Linke muss ihre Theorien und Strategien für dieses neue digitale oder »granulare« Zeitalter neu ausrichten. Wir können es uns nicht leisten, diese Entwicklungen zu verschlafen. Denn dann würden uns die neu gewonnen Freiheiten durch reaktionäre Sicherheitsbewegungen schnell wieder genommen.
Buch: Christoph Kucklick: Die granulare Gesellschaft
272 Seiten | 2014 | EUR 9,99
Foto: Udo Herzog
Schlagwörter: Bücher, Buchrezension, Internet, Kultur, Sachbuch, Social Media, Soziologie, Theodor Sperlea