Millionen Menschen auf den Straßen, Generalstreiks und massenhafter ziviler Ungehorsam: Während in Katalonien die Kämpfe explodieren, ist die europäische Linke perplex. Der Aktivist Isaac Salinas berichtet aus Barcelona und räumt dabei mit so manchem Mythos auf
marx21: Wie ist die Stimmung in Katalonien seit der Ausrufung der Republik und der Absetzung der Autonomieregierung durch den spanischen Staat?
Isaac Salinas: Den jüngsten Meinungsumfragen zufolge erreicht die Unterstützung der Unabhängigkeit mit 48,7 Prozent einen neuen Rekordwert. Das ist natürlich nur vor dem Hintergrund der Ereignisse der letzten Monate zu verstehen. Der Erfolg des Referendums vom 1. Oktober führte zu einem gewaltigen Zustrom an Unterstützerinnen und Unterstützern aus allen Teilen der Bevölkerung. Der zwei Tage später stattfindende Generalstreik gegen die Polizeirepression war ebenfalls ein großer Erfolg. Obwohl die großen, bürokratisierten Gewerkschaften CCOO und UGT ihn nicht unterstützten, beteiligten sich Zehntausende am Ausstand. In Barcelona und einigen anderen Städten stand das öffentliche Leben nahezu still.
48,7 Prozent ist aber immer noch eine Minderheit. Was ist mit der anderen Hälfte der katalanischen Bevölkerung? Unterstützt sie in der Auseinandersetzung den spanischen Staat?
Auf die Frage, ob Katalonien unabhängig sein sollte, antworten 48,7 Prozent mit Ja, 43,6 Prozent mit Nein, der Rest ist sich unsicher oder antwortet nicht. Diese Zahlen spiegeln ein Wachstum der Befürworter der Unabhängigkeit von mehr als sieben Prozentpunkten gegenüber Juni dieses Jahres wieder und ein Rückgang der Gegner von fast sechs Punkten. Fragt man genauer nach, was Katalonien in Zukunft sein sollte, sprechen sich 40,2 Prozent für einen völlig unabhängigen Staat aus, 21,9 Prozent befürworten einen katalanischen Staat innerhalb eines föderalen Spaniens, 27,4 Prozent wollen den Status einer Autonomen Gemeinschaft innerhalb Spaniens beibehalten und nur 4,6 Prozent wollen die Autonomie beseitigen und das haben, was Rajoys Statthalterin gerade durchsetzen soll. Es gibt also bereits eine satte Mehrheit für die Überwindung des Status quo und mehr Autonomie. Und schon vor dem Referendum sprachen sich etwa 80 Prozent der Katalaninnen und Katalanen für das Recht zu entscheiden aus. Auch dieser Wert ist noch weiter gestiegen.
Welche politischen Kräfte sind in der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung aktiv?
Die Bewegung ist sehr breit aufgestellt und reicht von der neoliberalen Rechten bis zur antikapitalistischen Linken. Auf der rechten Seite steht Convergencia i Unió (CiU), die mittlerweile in Partit Demòcrata Europeu Català (Katalanische Europäische Demokratische Partei, PDeCAT) unbenannt wurde. Dahinter stand der Versuch, sich von dem schlechten Image zu befreien, dass ihr aufgrund mehrerer Korruptionsskandale anhaftet. Auch der bisherige Präsident der Autonomieregierung, Carles Puigdemont, gehört der PDeCAT an. Die Mitte-Links-Partei Esquerra Republicana de Catalunya (Republikanische Linke Kataloniens, ERC) regiert seit 2015 in einer Koalition mit PDeCAT unter dem Namen Junts pel Sí (Gemeinsam für ein Ja, JxS). Teil der Koalition sind auch Abgeordnete ohne Parteibuch aus der Zivilgesellschaft. Links von JxS steht die Candidatura d’Unitat Popular (Kandidatur der Volkseinheit, CUP), mit einem eindeutig antikapitalistischen Programm. Hinzu kommen eine Reihe von Minderheitsgewerkschaften, die ebenfalls für das Recht auf Selbstbestimmung eintreten.
Nach dem Referendum begann zunächst eine Politik des Zögerns seitens der katalanischen Regierung unter Carles Puigdemont. Wie bewertest du ihr Vorgehen?
Die Autonomieregierung hatte nie wirklich daran geglaubt, dass das Referendum trotz der Repression des spanischen Staats erfolgreich sein würde. Dementsprechend hatte sie auch keinen Plan, wie sie mit dem neuen Szenario umgehen sollte, geschweige denn eine Strategie, wie sie die Teile der Bevölkerung gewinnen könnte, die nicht eindeutig für die Unabhängigkeit eintreten, aber dennoch am 1. und 3. Oktober mobilisiert werden konnten.
Die Ausrufung der Unabhängigkeit am 10. Oktober, die nur acht Sekunden später wieder ausgesetzt wurde, um mit der spanischen Regierung zu verhandeln, löste im linken Spektrum der Bewegung große Frustration aus. Die katalanische Regierung hatte kein einziges überzeugendes Argument für die sofortige Aussetzung und daher konnte diese Strategie auch nicht funktionieren. Sie führte weder dazu, Unterstützung von der EU zu erhalten, noch die Unterdrückung des spanischen Staates zu mildern. Stattdessen hatte dieser nur mehr Zeit gewonnen, um sich nach seiner relativen Verwirrung neu zu ordnen. Zudem ermöglichte das zögerliche Vorgehen der katalanischen Regierung den Banken und Konzernen eine Angstkampagne aufzubauen.
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Wie hat die Unabhängigkeitsbewegung auf die neue Situation reagiert?
Für die Bewegung war es zunächst ein Schock, als am 16. Oktober zwei ihrer wichtigsten Führungspersönlichkeiten, Jordi Sanchez und Jordi Cuixart, verhaftet wurden. Doch trotz der schwierigen Gesamtlage sind wir zuversichtlich. Wir haben einen Grad an Mobilisierung erreicht, wie in keinem anderen Land Europas. Seit sieben Jahren gehen am 11. September mehr als eine Million Menschen auf die Straße. Nach nun etwa zwanzig Verhandlungsangeboten an die Zentralregierung, die allesamt abgelehnt wurden, und nach der Repression im Zusammenhang mit dem Referendum war allen klar, dass eine einseitige Unabhängigkeitserklärung jetzt der einzig gangbare Weg ist.
Auch der Regierung um Puigdemont?
Es war der Druck von unten, der Puigdemont schließlich zwang, die unabhängige Republik auszurufen? Doch es blieb letztendlich bei einer symbolischen Proklamation. Die politischen Parteien verbrachten das Wochenende damit, sich auf die Wahl am 21. Dezember vorzubereiten, anstatt durch Massenmobilisierungen oder die strategische Besetzung symbolischer Orte die Republik zu verteidigen. Am Montag nach der Ausrufung der Unabhängigkeit wurde der Putsch durch die Zentralregierung bereits wirksam: Teile der katalanischen Regierung setzten sich nach Brüssel ab, der Rest wurde verhaftet, das Parlament wurde aufgelöst, die katalanische Polizei Madrid unterstellt. Glücklicherweise verkündeten schon bald viele Stadträte und Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Betriebe, dass sie die illegitime Regierung in Madrid nicht anerkennen würden. Gegen die Inhaftierung von Regierungsmitgliedern und hochrangigen Beamten wurde am 8. November erneut ein Generalstreik organisiert, wiederum mit den alleinigen Kräften der alternativen Gewerkschaften und Volkskomitees.
Steht die katalanische Linke geschlossen hinter der Unabhängigkeitsbewegung?
Das wäre wünschenswert, ist aber nicht der Fall. Sowohl Podem, der katalanische Ableger von Podemos, als auch die sogenannten Comuns, die basisdemokratischen Plattformen, denen auch die Bürgermeisterin von Barcelona angehört, haben eine eher passive Haltung gegenüber der Unabhängigkeitsbewegung. Statt die Mobilisierungen selbst in die Hand zu nehmen, behaupten sie, die Unabhängigkeit würde von sozialen Forderungen ablenken. Am Generalstreik vom 8. November kritisierten sie wiederum, dass er nicht breit genug aufgestellt sei, da sich die Mehrheitsgewerkschaften nicht beteiligen. Das ist natürlich schizophren. Viele unabhängige und antikapitalistische Linke beschuldigen die Comuns zurecht, dass es ihnen vielmehr um eine Wahltaktik geht, als um die Ziele der Bewegung. Aber wir werden nicht zulassen, dass so getan wird, als hätte es das Referendum nie gegeben.
Auch die spanische Linke lehnt die Unabhängigkeit Kataloniens mehrheitlich ab. Was ist ihre Begründung?
In den letzten drei Jahrzehnten hat die spanische Linke die Auseinandersetzung über die Frage, wie das Recht auf Selbstbestimmung geltend gemacht werden kann, überhaupt nicht ernst genommen. Erst im vergangenen Jahr ist sie in Eile und Panik in die Debatte eingetreten. Im Wesentlichen hat sie zwei Probleme mit dem Selbstbestimmungsrecht der Katalanen: Das erste Problem ist ihre stalinistische Tradition, die sie zwar auf theoretischer Ebene das Selbstbestimmungsrecht verteidigen lässt, aber nur solange es nicht effektiv ausgeübt wird. Ihre Verteidigung bleibt abstrakt und unehrlich. Dahinter steht letztlich nichts anderes als der spanische Nationalismus, der auch nach dem Übergang von der faschistischen Franco-Diktatur ein prägendes Merkmal blieb und vor dem auch die Linke nicht gefeit ist. Die Kommunistische Partei spielte 1978 eine Schlüsselrolle bei der Neustrukturierung des Regimes und das wirkt bis heute nach. Anhand der katalanischen nationalen Frage zeigen große Teile der spanischen Linken ihre Voreingenommenheit. Die katalanische Bewegung verunglimpfen sie als nationalistisch, während sie für den spanischen chauvinistischen Nationalismus blind sind. Damit stellen sie sich fatalerweise in einer Situation großer politischer Polarisierung auf die Seite der Unterdrücker.
Was ist das zweite Problem?
Das zweite Problem der spanischen Linken ist ihr Unverständnis darüber, dass in Katalonien der Kampf um Selbstbestimmung sehr eng mit dem Kampf gegen Neoliberalismus verbunden ist. Auch viele Linke verstehen einfach nicht, dass sich die Unabhängigkeitsbewegung längst nicht nur auf oberflächliche Fragen nach Kultur und Identität reduzieren lässt, sondern es um strukturelle Forderungen gegen Ungleichheit und Herrschaft geht. Natürlich ist die jetzige Bewegung nicht in Gänze antikapitalistisch. Aber dass es um linke Forderungen geht, zeigt allein der Blick auf die Gesetze des katalanischen Parlaments, die in den letzten Jahren vom spanischen Zentralstaat kassiert wurden: Steuererhöhungen für Banken, Steuern auf leerstehenden Wohnraum, bezahlbarer Strom und Wärme, Schutz des Rechts auf eine Wohnung, Stopp von Zwangsräumungen, Reduzierung von Treibhausgasemissionen, Steuern auf Kernenergie, gegen Fracking, Entkriminalisierung des Cannabiskonsums und vieles mehr.
Die Führungen von Podemos und Izquierda Unida (Vereinigte Linke, IU) fordern, statt einer Republik Katalonien, den Aufbau einer spanischen Republik. Was hältst du dem entgegen?
Der Vorsitzende von IU, Alberto Garzón, verlangte von Puigdemont, dass er garantiert, dass das Referendum nicht einseitig, sondern im Einvernehmen mit dem spanischen Staat durchgeführt wird. Als ob es die Schuld der katalanischen Regierung wäre, dass Spanien das Referendum nicht anerkennt. Pablo Iglesias, der Chef von Podemos, forderte zunächst sogar den Boykott des Referendums. Eine Mitgliederbefragung bei Podemos sowie die überwältigende Unterstützung in der katalanischen Bevölkerung für das Referendum veranlassten ihn jedoch seine Haltung zu ändern. Aber er spricht noch immer lediglich vom Recht der katalanischen Bevölkerung sich zu entscheiden, in welcher Form Katalonien Teil des spanischen Staats sein soll. Wie viele andere Linke versteht auch er nicht, dass das Recht zu entscheiden auch die Möglichkeit der Unabhängigkeit mit einschließen muss.
Ist ein vereintes Spanien nicht besser als Kleinstaaterei?
Das Projekt der eurokommunistischen »Neuen Linken« ist ein föderales Spanien. Aber sie ignoriert dabei, dass ein föderales System nicht ohne einen vorherigen Bruch mit Spanien und eine unabhängige Republik Katalonien mit eigener Verfassung möglich sein wird. Es macht nur dann Sinn über die Bildung einer föderalen Republik zu sprechen, wenn sich ebenbürtige Verhandlungspartner gegenüberstehen und nicht der eine Partner dem anderen untergeordnet ist. Wenn Iglesias und Garzón nun das Unabhängigkeitsreferendum als illegal kritisieren und auf eine Stufe mit der Korruption der Partido Popular (Volkspartei, PP) unter Mariano Rajoy stellen, zeugt das nicht nur von einem Mangel an Respekt, sondern ist ein politischer Bankrott. Damit stellen sie sich letztlich auf die Seite des repressiven Regimes und gegen die legitimen Forderungen der Menschen in Katalonien. Iglesias zögerte auch nicht, in den eigenen Reihen genauso autoritär vorzugehen wie die spanische Regierung im Großen: So wurde der Vorsitzende von Podemos in Katalonien, Albano Dante, der das Recht auf Selbstbestimmung stets verteidigte, aus der Partei gedrängt. Acht weitere Mitglieder aus dem Regionalvorstand folgten ihm bereits.
Aber schwächt eine separatistische Bewegung nicht den gemeinsamen Kampf gegen die rechte spanische Regierung?
Diese Idee beruht auf dem Missverständnis, die Einheit der arbeitenden Menschen mit der Einheit unter der Flagge der Staaten zu verwechseln. Das ist der gleiche Irrtum, der dazu führte, dass die Parteien der Zweiten Internationale den Ersten Weltkrieg unterstützten. Der größte gemeinsame Feind der spanischen Arbeiterklasse ist das politische, wirtschaftliche und soziale System, das ihre Ausbeutung und Unterdrückung organisiert. Sie muss jede Gelegenheit nutzen, den Staat zu schwächen, der dieses System durchsetzt. Im Hier und Jetzt bedeutet das, die Selbstbestimmung Kataloniens und die Unabhängigkeitsbewegung bedingungslos, aber kritisch zu unterstützen. Die Linke hat zwei Aufgaben: Sie muss dafür kämpfen, dass die Bewegung die Bedürfnisse der lohnabhängigen Klassen in den Mittelpunkt stellt. Und sie muss den spanischen monarchischen Nationalismus herausfordern, denn dieser stellt eines der grundlegenden Werkzeuge dar, mit dem die Zustimmung der Bevölkerung zum bestehenden System hergestellt wird.
Die fatale Haltung von Podemos, mit Ausnahme des Kreises um Albano Dante und die Gruppe der »Anticapitalistas«, hat nicht nur die Linke innerhalb der Bewegung geschwächt, sondern das gesamte Projekt. Das Gleiche gilt für die großen Gewerkschaften CCOO und UGT. Ihnen war es nicht einmal zu dumm, ihre Ablehnung der Generalstreiks damit zu begründen, dass diese die Wirtschaft beeinträchtigen. Bislang war ein erfolgreicher Generalstreik ohne sie immer undenkbar, doch das beginnt sich zu ändern. Die Streiks vom 3. Oktober und 8. November sind in dieser Form ein noch nie da gewesenes Ereignis und zeigen, dass es das Potenzial gibt, die Führungen der großen bürokratischen Gewerkschaften herauszufordern.
Gibt es linken und rechten beziehungsweise guten und schlechten Nationalismus?
Als Linke ist es natürlich grundsätzlich unser Ziel, mit jeder Form von Nationalismus zu brechen. Die Trennlinie verläuft zwischen den Klassen, zwischen oben und unten, und nicht zwischen den Nationen. Dennoch können nationale Forderungen und Bewegungen sowohl einen reaktionären als auch einen progressiven Charakter annehmen. Wir müssen sie stets unter dem Gesichtspunkt des Klassenkampfs bewerten. Sowohl die spanische als auch die katalanische Regierung haben in den letzten Jahren versucht unter dem Deckmantel der jeweiligen Nationalfahne ihre Kürzungen zu verschleiern. Aber der jetzige Zusammenstoß der beiden Nationalismen ist ein zutiefst ungleicher – nicht nur wegen der sehr ungleichen Kräfteverhältnisse, sondern auch aufgrund der verschiedenen politischen Stoßrichtungen und ideologischen Zusammensetzungen.
Der spanische Nationalismus hat einen eindeutig reaktionären Charakter. Im Vordergrund stehen Fragen der nationalen Identität und der Fetisch der Einheit Spaniens. Der katalanische Nationalismus ist hingegen widersprüchlicher und vereint auch progressive Elemente auf sich. Wenn eine nationale Bewegung legitime Forderungen artikuliert, wenn sie Werte wie Gerechtigkeit und Freiheit ausdrückt, dann müssen wir Linke Teil dieser Bewegung sein. Im Laufe des Prozesses werden sich mehr oder weniger progressive oder konservative politische Orientierungen durchsetzen. Das hängt davon ab, welche politischen Kräfte die Initiative ergreifen. Was man nicht machen kann, ist sich rauszuhalten, wie es Podemos oder die Comuns tun.
Fußt Nationalismus nicht trotzdem immer auch auf dem Ausschluss von Menschen, die vermeintlich nicht dazugehören?
Nein, die katalanische Nation schließt niemanden aus. Wir haben eine lange Tradition als Einwanderungsland. Zur Nation gehören Menschen aus allen Teilen Spaniens sowie aus der ganzen Welt. Insbesondere in den 1950er bis 1970er Jahren kamen viele Einwanderer aus dem schwach entwickelten Süden Spaniens in das industriell geprägte Katalonien. Auch meine Eltern sind im Süden geboren, haben aber den größten Teil ihres Lebens in Sabadell verbracht, einer Industriestadt nahe Barcelona. Trotzdem sprechen sie kaum katalanisch, weil ihr gesamtes Umfeld einen ähnlichen Hintergrund hat wie sie. Ihre Herkunftskultur ist jedoch längst integraler Bestandteil der katalanischen Identität.
Werden sich meine Eltern diskriminiert fühlen, wenn Unabhängigkeit erreicht wird? Nein, auf keinen Fall. Die Republik, die wir aufbauen, ist eine offene, soziale und integrative Gesellschaft, in der jeder, unabhängig von Herkunft und Sprache, Platzt hat.
Wer ist die CUP und aus was für einer Tradition kommt sie?
Die CUP ist eine Plattform radikaler Linker, die im Zuge jahrelanger lokaler Aktivitäten aufgebaut wurde. Sie ist aus kommunalen Versammlungen hervorgegangen und steht für eine sozialistische, ökologische und feministische Politik. Mittlerweile ist sie in etwa achtzig Gemeinden Kataloniens und in der Region Valencia präsent. Die CUP hat sich dazu entschlossen, zu Wahlen anzutreten, um eine radikale linke Oppositionskraft im katalanischen Parlament aufzubauen und dort die Stimme der linken Bewegungen zu sein. Eine Beteiligung an der Autonomieregierung lehnt sie ab. Um dem Anpassungsdruck parlamentarischer Arbeit entgegenzuwirken, dürfen Abgeordnete nicht länger als eine Legislaturperiode ein Mandat ausüben. Auch das prominenteste Gesicht der CUP, der sehr beliebte Politiker David Fernández, musste nach Ablauf einer Legislaturperiode seinen Platz räumen.
Aber es gibt natürlich auch Probleme: So ist die CUP auch immer wieder Gefangene ihrer Rolle als Mehrheitsbeschafferin der Regierung, um zu verhindern, dass der Unabhängigkeitsprozess ins Stocken gerät. Außerdem fehlt ihr eine klare Strategie, wie sie die Teile der katalanischen Linken, die der Bewegung skeptisch gegenüberstehen, einbinden kann.
Welche Rolle spielen rechte Unabhängigkeitsbefürworter und was ist ihre Strategie?
Die katalanische Rechte war nie für die Unabhängigkeit. PDeCAT beziehungsweise ihre Vorgängerpartei CiU waren schon immer Parteien der Bourgeoisie und diese unterstützt seit jeher den spanischen monarchistischen Nationalismus. Während es im Kleinbürgertum noch eher Verständnis für die Forderung nach Unabhängigkeit gibt, ist das Großbürgertum strikt dagegen. In den letzten Wochen und Monaten haben zahlreiche Banken und multinationale Konzerne ihren Unternehmenssitz aus Katalonien verlegt. Es gibt auch Drohungen ganze Betriebe umzusiedeln, sollte die katalanische Regierung keinen Rückzieher machen.
Die Kapitalisten wollen einen stabilen politischen Rahmen, der ihr Geschäft nicht gefährdet. Für sie ist die Unabhängigkeit ein riskantes Abenteuer, das unbedingt verhindert werden muss. Die Tatsache, dass die CiU und ihre Nachfolgepartei PDeCAT heute für das Recht auf Selbstbestimmung eintreten, liegt einzig und allein daran, dass der Druck von unten so stark war. Sie hatten schlicht keine andere Wahl, wenn sie sich politisch nicht vollkommen isolieren wollten. Doch die Rechte ist innerhalb der Bewegung keinesfalls so stark, wie es durch Puigdemonts Präsenz in den Medien erscheinen mag. Die Bewegung 15M und die Proteste gegen die Kürzungspolitik seit dem Jahr 2011 haben einen großen Beitrag dazu geleistet, die CiU bzw. PDeCAT in den Augen vieler Katalanen zu entmystifizieren.
Gewinnt also die Linke innerhalb der Bewegung an Unterstützung?
Seitdem der sogenannte »Prozess« im Herbst 2012 begonnen hat, ist die katalanische Linke spürbar im Aufwind. Der ERC ist mittlerweile zur beliebtesten katalanischen Partei aufgestiegen. Noch wichtiger aber: Die CUP konnte bei der Wahl im Jahr 2015 ihre Abgeordnetenmandate von drei auf zehn steigern, wodurch sie eine Schlüsselrolle im katalanischen Parlament einnimmt. Junts pel Sí, die Koalition aus PDeCAT und ERC, bildet seither eine Minderheitsregierung. Durch ihre günstige strategische Position konnte die CUP etwa verhindern, dass Artur Mas erneut zum Präsidenten der Regionalregierung gewählt wurde. Unter ihm waren zuvor harte Kürzungsmaßnahmen durchgesetzt worden. Die spanische Financial Times beklagte damals, eine kleine Gruppe von Antikapitalisten würde über die Zukunft der Nation entscheiden. Das ist natürlich Unsinn, zeigt aber die Panik im neoliberalen Lager.
Die neue Verhandlungsmacht und der militante Geist der CUP zwangen JxS ihr Versprechen nicht zu brechen und das Referendum durchzuführen. Auf die CUP ist es auch zurückzuführen, dass progressive Gesetze wie das Verbot von Zwangsräumungen oder ein garantiertes Grundeinkommen durchgesetzt werden konnten. Aktuellen Umfragen zufolge gibt es eine politische Mehrheit für den ERC, die Comuns und die CUP. PDeCAT, die den Prozess bislang angeführt hat, kommt gerade noch auf 15 bis 20 von insgesamt 135 Parlamentssitzen. Diese Stärke der katalanischen Linken ist eine Anomalie in einem Europa voller grassierendem Rassismus und Faschismus.
Ein wichtiger Faktor für die Bewegung sind auch die neu entstehenden Netzwerke von Basisorganisierung. Was hat es damit auf sich?
Im Vorfeld des 1. Oktober wurden die Comitès de Defensa del Referèndum (Komitees zur Verteidigung des Referendums, CDR) gegründet. Das sind dezentrale Zusammenschlüsse der Selbstorganisation, die sich untereinander koordinieren. Sie waren es, die durch ihren Einsatz und die Besetzung von Schulen, die Durchführung des Referendums möglich gemacht haben. Mittlerweile wurden die CDR in Verteidigungskomitees der Republik umbenannt. Es gibt in ganz Katalonien schon etwa 200 davon. Ihre Zusammensetzung ist sehr vielfältig und plural. Dadurch, dass sie in den Ortschaften und Nachbarschaften verwurzelt sind, haben sie schnell eine gewisse Routine entwickelt. Sie dienen sowohl als Aktionseinheiten als auch als Raum für Debatten, bei denen jede und jeder Vorschläge einbringen kann. Während es zunächst nur um die Durchsetzung des Referendums ging, sind die CDR mittlerweile zu einem zentralen Faktor einer sich von unten konstituierenden Macht geworden. Ein Beispiel dafür ist ihre Rolle beim Generalstreik am 8. November: Sie organisierten bereits im Vorfeld dezentrale Aktionen und blockierten dann am Streiktag zahlreiche Straßenkreuzungen und Autobahnen.
Was es jetzt bräuchte, um die Bewegung auf eine neue Ebene zu bringen, wäre die Schaffung von CDR in den Betrieben. Das würde ihre Schlagkraft noch einmal deutlich erhöhen und auch der aufstrebenden alternativen Gewerkschaftsbewegung den Rücken stärken.
Nun sind Neuwahlen für den 21. Dezember angesetzt. Was bedeutet das für die Bewegung und den Unabhängigkeitsprozess?
Die Neuwahlen sind das Ergebnis der Anwendung von Artikel 155 der spanischen Verfassung. Unmittelbar nach der Absetzung der katalanischen Regierung hat Rajoy die Wahl einberufen. Mit dieser Demonstration der Stärke hat die PP die Initiative wiedererlangt und die Unabhängigkeitsbewegung zunächst in die Defensive gebracht. Das heißt aber nicht, dass Rajoy gewonnen hätte. Es ist extrem schwierig, ein Land zu regieren, in dem die Hälfte der Bevölkerung die Legitimität der Regierung und des Staats nicht länger anerkennt.
Jetzt befinden wir uns in einem Wahlkampf, bei dem der eine Teil der Regierung in Untersuchungshaft sitzt – so auch der Spitzenkandidat der voraussichtlich stärksten Partei ERC – und der andere Teil im belgischen Exil. Das Ziel einer unabhängigen katalanischen Republik hat in den letzten Monaten ohne Zweifel an Unterstützung gewonnen, aber ein erneuter Wahlsieg der Unabhängigkeitsparteien ist keineswegs garantiert. Wie erwarten eine hohe Wahlbeteiligung der Anhänger der Einheit Spaniens. Es wird daher darauf ankommen, ob es gelingt, auch die Befürworter der Unabhängigkeit zu dieser vom spanischen Staat erzwungenen Wahl zu mobilisieren.
Wäre es da nicht klüger, die Wahl von vornherein zu boykottieren?
Die PDeCAT und der ERC haben bereits sehr früh ihre Teilnahme an der Wahl zugesichert. In der CUP gab es zunächst Diskussionen, ob angesichts der Unterdrückung durch den spanischen Staat ein Boykott nicht die bessere Alternative wäre. Doch es ist klar, dass ein Rückzug vom parlamentarischen Terrain, trotz aller Schwierigkeiten, ein schwerer Fehler wäre, da er die Neuordnung des reaktionären Blocks nur erleichtern würde. Ohne Präsenz einer radikalen linken Opposition im Parlament, wird der Reformismus keineswegs geschwächt – im Gegenteil.
Auf der anderen Seite gab es den Vorschlag, eine gemeinsame Wahlliste aller Kräfte aufzustellen, die sich für die Unabhängigkeit aussprechen. Was hältst du davon?
Ein solches Bündnis wäre nur im Interesse der PDeCAT, die sich momentan im freien Fall befindet. Außerdem würde es die großen Unterschiede zwischen den Parteien verwischen. Denn obwohl die Wahl den Charakter einer Volksabstimmung über die Unabhängigkeit hat, ist dies bei Weitem nicht die einzige Frage. Wie jede große nationale Bewegung hat auch die katalanische Unabhängigkeitsbewegung eine klassenübergreifende Basis und umfasst viele unterschiedliche politische Kräfte. Deshalb ist es vollkommen richtig, dass die CUP sich mit großer Mehrheit dazu entschieden hat, unabhängig zur Wahl anzutreten. Zudem hat sie sich gegen eine Regierungsbeteiligung ausgesprochen, ist aber bereit, die Wahl eines Präsidenten zu unterstützen, wenn dieser sich verpflichtet, den Aufbau einer unabhängigen Republik mit konkreten Maßnahmen voranzubringen.
»Die Republik verteidigen«, das ist seit ihrer Ausrufung der zentrale Slogan. Aber wie soll das gehen?
Wir müssen uns der Frage der Macht des spanischen Staates in Katalonien stellen. Diese basiert insbesondere auf der Präsenz von Polizei und Armee, dem Monopol beim Einzug des überwiegenden Teils der Steuergelder und nicht zuletzt der Macht der Banken und Konzerne. Die katalanische Regierung hat sich diesen Problemen nie wirklich gestellt. Stattdessen glaubte sie parallele staatliche Strukturen schaffen zu können und so einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten. Die Realität ist jedoch, dass diese Strategie nicht funktionieren kann. Um der Übermacht des spanischen Staatsapparats etwas entgegenzusetzen, ist es unabdingbar, dass sich die katalanische Arbeiterbewegung an die Spitze der Bewegung stellt, wie sie es bereits beim Generalstreik am 3. Oktober getan hat.
Wir müssen genügend Schlagkraft entwickeln, um mit dem monarchischen Nationalismus Spaniens und seinem politischen Herrschaftssystem zu brechen. Nur so können wir eine Gegenmacht darstellen, die den Prozess weiter antreibt. Dafür brauchen wir einen Zustand der permanenten Mobilisierung und es ist an der Zeit, die zentralen Forderungen auf den Tisch zu legen: ein Ende der Stationierung der Streitkräfte, Verstaatlichung des Bankwesens und strategischer Sektoren der Wirtschaft wie Energie, Transport oder Telekommunikation sowie die Kontrolle über die Staatskasse.
Doch wir brauchen auch einen Kampfhorizont über die Grenzen Kataloniens hinaus. Ohne die Mobilisierung der Menschen im übrigen Spanien wird der Kampf um die katalanische Republik kaum zu gewinnen sein. Und wir brauchen internationale Solidarität – auch aus Deutschalnd. Die Initiative »With Catalonia« könnte ein wichtiger Anfang hierfür sein.
Isaac Salinas ist Gewerkschafter bei der Intersindical Alternativa de Catalunya (IAC), Mitglied der Assemblea Groga, einer Initiative für gute öffentliche Bildung, und Sympathisant der Candidatura d’Unitat Popular (CUP).
Das Interview führte Martin Haller.
Schlagwörter: Barcelona, CUP, Generalstreik, Izquierda Unida, Katalonien, Nationalismus, Podemos, Rajoy, Referendum, Repression, Selbstbestimmung, Spanien, Unabhängigkeit, Unabhängigkeitsbewegung, Volkseinheit