Das große Was-wäre-wenn als Roman: Der Schweizer Historiker Urs Zürcher hat mit seinem Debüt »Der Innerschweizer« die Geschichte der 1980er Jahre neu geschrieben – im wahrsten Sinne des Wortes.
Anfang Oktober 1982, die Vertrauensabstimmung im Bonner Bundestag ist gerade vorbei: »Schmidt bleibt Kanzler«, notiert Ursus in sein Tagebuch. »Die FDP konnte nicht genug Stimmen aufbringen, Kohl sei außer sich, hörte ich im Radio, er hätte sich bereits als Kanzler gesehen.« Es ist nur eine Randbemerkung, doch so langsam dämmert es mir: Der Historiker Urs Zürcher will mit seinem Romandebüt »Der Innerschweizer« eine alternative Geschichte der 1980er Jahre schreiben. Spätestens als Schmidt einige Zeit später an Lungenkrebs stirbt und der SPD-Politiker Björn Engholm sein Nachfolger wird, ist klar: Hier wird ein ganz großes Was-wäre-wenn veranstaltet. Eine »Alternativweltgeschichte des Kalten Krieges«, nannte die »Neue Zürcher Zeitung« das Werk. Tatsächlich steht am Ende des Jahrzehnts im wahrsten Sinne des Wortes kein Stein mehr auf dem anderen.
Die Hauptfigur Ursus ist ein junger Mann aus der konservativen Innerschweiz. Im Februar 1979 kommt er zum Studium nach Basel und zieht in eine linke Wohngemeinschaft. Es ist die Zeit von Jugendprotesten und Hausbesetzungen. Die linksautonome Bewegung der Schweiz befindet sich auf ihrem Höhepunkt.
Den Alltag in der fiktiven Hegenauer Straße dokumentiert Ursus akribisch in seinem Tagebuch. Das Wetter, den gemeinsamen abendlichen Wein in der WG-Küche und auch die große Weltgeschichte: Alles hält er mithilfe seiner Schreibmaschine fest. Allein das ist schon ungeheuer lesenswert. Autor Zürcher war selbst in den 1980er Jahren in der »Gruppe für eine Schweiz ohne Armee« aktiv. Auch deswegen gelingt es ihm, ein ebenso authentisches wie augenzwinkerndes Porträt der linken Szene jener Zeit zu zeichnen. Da wird über die Anschaffung des Fernsehapparats genauso leidenschaftlich gestritten wie über die sowjetische Intervention in Afghanistan.
»Widerstand gegen diesen Schweinestaat«
Zugleich schildert Zürcher nachvollziehbar den Radikalisierungsprozess seiner Hauptfigur. Ursus ist ein halbwegs unpolitischer Mensch, als er nach Basel kommt. Seine Eltern warnen ihn noch vor seiner neuen Wohnform, schließlich leben ja nur Kommunisten in WGs. Und tatsächlich trifft Ursus in der Hegenauer auf die Aktivistin Kati (»streng maoistisch«) und einen Philosophiestudenten, den alle nur Hegel nennen (»sympathisiert offensichtlich mit der ›vierten Internationale‹«). Er diskutiert viel mit ihnen und nähert sich im Lauf der Zeit ihren Ansichten an. Sie gehen gemeinsam auf Demonstrationen und führen nachts illegale Plakataktionen durch. Doch dann eskaliert einer der Proteste und die Polizei verprügelt Ursus‘ Freundin. Nun ist für den jungen Mann klar: »Hier hilft nur Widerstand! Widerstand gegen diesen Schweinestaat.«
Als Hegels Philosophieprofessor Hans-Joachim Ploetz schließlich die WG einlädt, mit ihm ein »Arbeitspapier Klassenanalyse und Klassenkampf« zu diskutieren, ist auch Ursus dabei: »Ich finde den Text gut«, notiert er. »Im Großen und Ganzen zielt die Sache auf radikale Schritte hin, weil Pragmatismus und Liberalismus auch in ›kritischer Intention‹ (Ploetz) den Kapitalismus nähren statt zu vernichten.« Tatsächlich wird aus dem Diskussionszirkel bald eine militante Aktionsgruppe. Über Monate hinweg planen sie minutiös einen Sprengstoffanschlag auf einen Militärlastwagen. Doch der missglückt – und nun gerät die Welt vollkommen aus den Fugen.
Urs Zürcher ist ein beeindruckendes und ebenso kurzweiliges wie tiefsinniges Werk gelungen. Seine fiktive Geschichte der 1980er Jahre beschreibt er so erschreckend real, dass es einen regelmäßig erschaudernd lässt. Nur einmal geht die Phantasie dann doch mit dem Autor durch: Im Sommer 1982 lässt er die Sowjetunion Fußballweltmeister werden. Das nimmt ihm nun wirklich keiner ab.
Das Buch: Urs Zürcher: Der Innerschweizer, Bilger-Verlag, Zürich 2014, 720 Seiten, 34,90 Euro.
Schlagwörter: Autonome Bewegung, Bücher, Hegel, Kultur, Roman, Sowjetunion