Die Medien feiern den verstorbenen letzten sowjetischen Präsidenten als Vater der deutschen Einheit. Doch unter Gorbatschows Herrschaft sind Millionen Menschen verarmt und die Einheit hätte es ohne die ostdeutsche Revolutionen von 1989 nicht gegeben
Ein kritischer Nachruf von Hans Krause
Gorbatschow war Regierungschef der Sowjetunion von 1985 bis zur Auflösung des Staates 1991. Somit fiel in seine Amtszeit sowohl die deutsche Einheit 1990 als auch die Unterzeichnung des INF-Vertrages (Intermediate Range Nuclear Forces) mit den USA 1987, dem größten Atomwaffen-Abrüstungsvertrag des Kalten Krieges. Und dennoch war seine Politik weder friedlich, freiheitsliebend noch sozial.
Gorbatschow ein Friedensstifter?
1968 wurde Gorbatschow zum Zweiten Sekretär der Region Stawropol ernannt. Damals unterstützte er den Einmarsch der sowjetischen Armee in die Tschechoslowakei, um dort die Demokratiebewegung »Prager Frühling« niederzuschlagen. 1978 wurde er ins Sekretariat für Landwirtschaft des sogenannten »Zentralkomitees der Kommunistischen Partei« in Moskau berufen und gehörte seitdem zum Machtzentrum des Staates. Jahrzehnte später schrieb Gorbatschow, er habe den sowjetischen Krieg in Afghanistan ab 1979 für einen Fehler gehalten. Damals sagte er jedoch nichts dagegen und beendete ihn als Regierungschef erst 1989. 1980 unterstützte er die Forderung der sowjetischen Regierung nach Niederschlagung der Streikwelle und Solidarnosc-Bewegung in Polen.
Gorbatschow, »Glasnost« und »Perestroika«
1985 wurde er befördert zum »Generalsekretär der Kommunistischen Partei«, dem De-facto-Regierungschef der Sowjetunion. Was Gorbatschow beliebt machte, war wie bei so vielen Regierungen nicht gute Politik, sondern erfolgreiches Marketing. In fast jedem Fernsehauftritt benutzte er für seine Politik die Begriffe »Glasnost« und »Perestroika«, auf Deutsch sinngemäß »Offenheit« und »Umbau«. Wörter, die vieles bedeuten und die vor allem dazu dienten, dass jeder und jede seine Hoffnungen in sie projizieren konnte.
Es fehlen Eier, Milch, Obst und Gemüse
Gorbatschow übernahm damals ein Land in der Krise und wollte mit seiner Politik mehr Wirtschaftswachstum schaffen. Dafür führte er privatwirtschaftliche Elemente ein, was jedoch nicht den Lebensstandard der Menschen verbesserte. Weil die Regierung dazu keinerlei Untersuchungen zuließ, konnte niemand vollständig herausfinden, wie groß soziale Ungerechtigkeit und Armut in der Sowjetunion waren. Sicher ist jedoch, dass sie sich unter Gorbatschow verschlimmerten.
Noch viel öfter als in der DDR gab es in sowjetischen Geschäften vieles nicht zu kaufen, häufig nicht mal Grundnahrungsmittel. Laut dem Vorsitzenden des Ministerrats Nikolai Ryschkow fehlten 1991 in der Sowjetunion 1,5 Millionen Tonnen Fleisch, 5,7 Millionen Tonnen Milch und 3,6 Milliarden Eier. Nach einer Umfrage von 1990 konnten 75 Prozent der Menschen nicht genug Fleisch und 65 Prozent nicht genug Obst und Gemüse kaufen. 43 Prozent gaben an, öfter keine Seife kaufen zu können, 40 Prozent kein Waschmittel und 20 Prozent keine Zahnpasta.
Der Markt regelt gar nichts
Hinzu kam, dass Gorbatschow die zentrale Staatswirtschaft abschaffte, aber durch kein anderes halbwegs funktionierendes System ersetzte. Früher hatte die Regierung die Preise festgelegt. Nachdem diese dem Markt überlassen wurden, stieg die Inflation von 6 Prozent 1986 auf 10 Prozent 1989, 54 Prozent 1990 und 650 Prozent 1991. Verwendet man die international anerkannte Armutsgrenze von zwei Dritteln des Durchschnittseinkommens, mussten 1990 56 Prozent der Sowjetrussen in Armut leben.
Dass es überhaupt Umfragen gab, lag an der Lockerung von Presse- und Meinungsfreiheit. Doch wie eng deren Grenzen waren, zeigte eine der weltweit größten Katastrophen des späten 20. Jahrhunderts. Nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 hat Gorbatschows Regierung das wahre Ausmaß der radioaktiven Strahlung jahrelang geheim gehalten. Wie viele tausend Menschen an Krebs erkrankten und wie viele starben, weil sie nicht gewarnt wurden, ist nie genau untersucht worden. Doch sicher ist, dass auch Gorbatschow das Leben der Menschen in der Sowjetunion weniger wichtig war als die Interessen von Wirtschaft und Armee.
Empfangen wie ein Fußball-Star
Trotz alldem wurde Gorbatschow von deutschen Regierungen und Medien meist als Politiker der Freiheit dargestellt und 1989 beim Staatsbesuch in Westdeutschland von Zuschauern wie ein Fußballer mit »Gorbi! Gorbi!«-Rufen empfangen. Der Grund war die damalige Hoffnung auf das Ende des Kalten Krieges und tatsächlich setzte Gorbatschow die sowjetische Armee nicht ein, um den Warschauer Pakt in Osteuropa mit Gewalt aufrecht zu erhalten.
Doch tat er dies nicht aus Liebe zur Freiheit, sondern weil er keine Chance dazu hatte. In Polen organisierte Solidarnosc im Sommer 1988 Streiks für ihre Anerkennung als Gewerkschaft und freie Wahlen. In Ungarn wurden die Demonstrationen für Demokratie 1987 und 1988 immer größer und die Regierung beteiligte Oppositionelle an der Regierung. Auch in der Tschechoslowakei gab es eine Demokratiebewegung, in der DDR fiel 1989 die Mauer und in fast allen Teilrepubliken der Sowjetunion strebten die Menschen nach Unabhängigkeit.
Armee in Litauen eingesetzt
Noch im Januar 1991 ließ Gorbatschow die sowjetische Armee Regierungs- und Mediengebäude in Litauen besetzen, um die Unabhängigkeit der Teilrepublik zu verhindern. Dabei ermordeten die Soldaten 15 unbewaffnete Zivilisten. Sie zogen jedoch nach zwei Tagen ab, nachdem Massenproteste gegen die Besatzung auf den Straßen der Städte waren.
Um den Warschauer Pakt zu erhalten, hätte Gorbatschow einen jahrelangen Krieg oder Bürgerkrieg in halb Osteuropa und der Sowjetunion mit ungewissem Ausgang und zehntausenden Toten führen müssen, und das inmitten einer der größten Wirtschaftskrisen in der Geschichte des Landes.
Ob Gorbatschow diesen Krieg überhaupt hätte führen können, ist Spekulation. Doch darauf verzichtet zu haben, macht ihn nicht zum Freiheitskämpfer.
Es gab keinen Sozialismus
Gorbatschow hat in der Sowjetunion keinen Sozialismus abgeschafft, weil die Sowjetunion ebenso wie die DDR niemals sozialistisch war (Lies hier den marx21-Artikel: War die DDR sozialistisch?) .
Ein Staat, in dem frei gewählte Betriebsräte und Gewerkschaften ebenso verboten sind wie Streiks und in dem die Menschen deutlich schlechter Leben als im kapitalistischen Westdeutschland oder den USA, kann niemals sozialistisch sein. Egal ob sich die diktatorisch herrschende Partei so nennt oder nicht.
Er hat den Menschen jedoch auch keine Freiheit oder Demokratie gebracht. Die letzten Jahre der Sowjetunion und noch mehr das nachfolgende Russland waren Staaten der totalen Marktwirtschaft, in der sich eine kleine Elite von Oligarchen und korrupten Politikern Milliarden Euro und die Macht gesichert haben. Während die große Mehrheit von einigen hundert Euro im Monat leben muss. Einer, der es damals an die Spitze geschafft hat, war Wladimir Putin. Der heute in der Ukraine den mörderischen Krieg führt, den Gorbatschow nicht gewagt hatte.
Streiken gegen Gorbatschow
Woran wir von den letzten Jahren der Sowjetunion erinnern sollten, ist nicht die menschenverachtende Politik des Michail Gorbatschow, sondern die Arbeiterkämpfe gegen ihn. 1989 traten 500.000 Bergarbeiter im ganzen Land in den Streik. Der Auslöser war, dass Arbeiter in Donezk mit Kohlenstaub bedeckt aus einer Mine fuhren und es keine Seife gab, um sich zu waschen. Der Streik endete nach elf Tagen. Die Vereinbarung mit der Regierung sah unter anderem vor, dass die Bergarbeiter jeden Sonntag frei haben. Bis dahin mussten sie nicht nur jeden Samstag, sondern auch jeden zweiten Sonntag arbeiten.
Der Bergarbeiterstreik 1989 ermutigte im folgenden Jahr viele andere Beschäftigte, wegen der explodierenden Inflation für höhere Löhne zu streiken. Im ersten Halbjahr 1990 waren jeden Arbeitstag(!) durchschnittlich 65.000 Beschäftigte im Streik. Allein im März 1991 hatten die Beschäftigten verschiedener Branchen 1,2 Millionen Arbeitstage bestreikt.
Damals wie heute sind es die Beschäftigten in den Büros und Betrieben, die ein kapitalistisches System zum Einsturz bringen können, in dem eine winzige Minderheit die große Mehrheit ausbeutet und in den Krieg zwingt. Diese Bewegung gilt es in Deutschland, Russland und weltweit aufzubauen. Statt darauf zu hoffen, dass aus dem bestehenden System ein Präsident wie Gorbatschow auftaucht, der uns mit Freiheit und Demokratie beschenkt.
http://usinfo.state.gov/journals/itps/0406/ijpe/laqueur.htm
–Schlagwörter: Deutsche Einheit, Einheit, Ende, Glasnost, Gorbatschow, Perestroika, Sowjetunion, Tschernobyl, Wiedervereinigung