Marllow Kordi* ist Aktivist und Journalist aus Kurdistan im Iran. Er lebt derzeit in einem Quarantänelager in Magdeburg. Ava Matheis sprach mit ihm über deutsche Flüchtlingslager während der COVID-19-Pandemie, über Rassismus in den Reaktionen der staatlichen Behörden und Lagerleitungen, und über Widerstand.
Die englische Version des Interviews findet sich hier.
Marx21: Du hast bis vor ein paar Tagen in der Zentralen Anlaufstelle (ZAST) in Halberstadt gelebt. Kannst du uns etwas über das Lager erzählen – wie viele Menschen leben dort, wie ist das Flüchtlingslager organisiert?
Das Lager hat drei Hauptgebäude und viele Container. In jedem Gebäude leben etwa 200 Menschen. Jedes Gebäude hat vier Stockwerke. Auf jeder Etage gibt es zwei Toiletten, zwei Badezimmer und eine Küche. Diese teilen sich etwa 50 Personen auf jeder Etage. Gebäude A ist für Alleinstehende, Gebäude B und C für Familien, Frauen und Kinder. Ein Zimmer wird von bis zu vier oder fünf Personen geteilt. Es gibt einen Bereich zum Spielen und eine Cafeteria. Im Eingangsbereich gibt es Sicherheitsmitarbeiter, die alle ein- und ausgehenden Personen kontrollieren.
Mitte März wurden in ganz Deutschland Vorschriften erlassen, um das öffentliche Leben zu stoppen und so die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Welche Maßnahmen wurden in der ZAST ergriffen?
Vor etwa fünf Wochen wachten wir eines Morgens auf und sahen vor dem Lager eine Menge Polizei. Es war Bereitschaftspolizei, glaube ich. Sie errichteten Zäune um das Lager. In verschiedenen Sprachen sagten sie: »Sie stehen unter Quarantäne.« Am nächsten Tag trennten sie die Gebäude und Container voneinander, und niemand durfte das Lager betreten oder verlassen. Aber es gab eine Ausnahme: Das Lagerpersonal und das Sicherheitspersonal durften das Lager verlassen und betreten. Die Quarantäne wurde nur für die Flüchtlinge verhängt. Es wurde uns gesagt, dass falls wir etwas brauchen, wir es bei den Sozialarbeitern oder dem Sicherheitspersonal bestellen können. Die Polizei war außerhalb des Lagers postiert und das Sicherheitspersonal lief umher, um sicherzustellen, dass niemand das Lager verließ.
Wurdet ihr medizinisch versorgt und getestet?
Am Tag des Beginns der Quarantäne gaben sie bekannt, dass eine Person positiv auf Corona getestet wurde. Zu Beginn der Quarantäne wurden wir zweimal täglich getestet – aber nur auf unsere Temperatur. In den letzten vier Wochen wurden unsere Nasen und Münder getestet. Danach sah eine neue Verordnung vor, dass wir jeden zweiten Tag getestet werden. Mein letztes Testergebnis war positiv, deshalb wurde ich mit meinem Zimmergenossen und weiteren 50 Personen in ein Lager in Magdeburg verlegt. Darunter waren Alleinstehende, Familien und Kinder.
Wie hat sich der Tagesablauf im Lager unter Quarantäne verändert?
Vor der Quarantäne haben wir unsere Mahlzeiten in der Cafeteria eingenommen. Mit der Quarantäne richtete die Lagerleitung außerhalb der Gebäude Punkte ein, an denen das Essen einzeln verteilt wurde. Um das Essen zu erhalten, mussten wir Schlange stehen. Manchmal achteten die Leute nicht darauf, Abstand zu halten. Auf diese Weise erhielten wir Frühstück und Mittagessen. Um unser Taschengeld zu bekommen, mussten wir wieder Schlange stehen. Nach 14 Tagen wurden die Zäune, die die Gebäude voneinander trennten, aufgehoben. Die Zäune um das Lager herum blieben. Die Quarantäne dauerte jedoch immer noch an. Sie wurde um 14 Tage verlängert, und soweit ich weiß, wird sie nun bis zum 3. Mai aufrechterhalten.
Wie haben die Menschen auf all das reagiert?
Zuerst wussten sie nicht, was vor sich ging. Sie waren ratlos und verwirrt. Nach einigen Tagen infizierten sich immer mehr Menschen. Die Menschen wurden immer gestresster und verängstigter. Die Lebensmittelvorräte reichten nicht mehr aus. Viele Menschen kochen selbst, aber nach ein paar Tagen gingen ihnen die Lebensmittelvorräte aus.
Außerdem ist die Angst groß, mit dem Virus infiziert zu werden. Deshalb begannen die Menschen zu fordern, dass Menschen, die nicht infiziert sind, in andere Lager transferiert werden müssen. Nach der ersten Woche in Quarantäne protestierten die Menschen gegen den Umgang der Lagerleitung mit der Situation. Rund 100 Menschen begannen einen Hungerstreik. Sie legten ihre Lebensmittel beiseite und aßen sie nicht. Sie richteten sich an die Lagerleitung und auch an die Politiker. Eine der Hauptforderungen war: Bringt die Menschen, die noch nicht infiziert sind, an einen sicheren Ort! Hier passiert eine Katastrophe. Alle sind in Gefahr, und ich denke, die meisten Menschen hier werden infiziert werden.
Berichten zufolge wurden Anfang April Geflüchtete von Seiten der Sicherheitskräfte attackiert. Kannst du uns über den Vorfall berichten?
Sie waren in Gebäude B, ich war in Gebäude A, also war ich nicht dabei. Aber nach dem, was ich gehört habe, brach ein Konflikt zwischen den Geflüchteten und dem Sicherheitspersonal aus. Zwei Sicherheitsbeamte schlugen auf Geflüchtete ein, eine schwangere Frau wurde getroffen.
Das Wichtigste ist: Der Protest selbst war friedlich. Die meisten von uns hier sind vor Krieg, Grausamkeit und Diktatur geflohen. Wir wollen das nicht wiederholen und noch einmal sehen. Die Menschen wollten ihre Forderungen nicht gewaltsam durchsetzen. Sie haben es friedlich getan, mit Respekt vor allen. Sie sagten: Hier sind wir in einer Demokratie, ihr müsst auch uns Beachtung schenken. Wir wissen, dass es im Moment eine Art Ausnahmesituation gibt. Aber die Menschen müssen unserer Situation Beachtung schenken. Die Flüchtlinge in den Lagern können nicht ignoriert werden. Sie müssen versorgt werden, genauso wie die Deutschen in Deutschland oder Menschen in anderen Ländern.
Wie reagierte die Heimleitung auf die Proteste und den Hungerstreik?
Es dauerte etwa drei bis vier Tage, dann lud die Lagerleitung die Hungerstreikenden zum Gespräch ein. Das Gespräch brachte keine Ergebnisse. Es wurden nur Versprechungen gemacht, aber nichts wurde umgesetzt. Wenige Tage später hatten sie ein weiteres Treffen. Nach diesem Treffen brachten sie Hygieneartikel wie Masken und Seife mit. Allerdings wurden diese nicht von der Lagerleitung, sondern von Nichtregierungsorganisationen außerhalb des Flüchtlingslagers zur Verfügung gestellt. Es wurden auch Lebensmittel mitgebracht. Schwangere Frauen und einige Kranke wurden in andere Lager verlegt. Das war’s.
Du hast gesagt, Du bist nicht mehr in Halberstadt. Wo bist Du und warum wurdest Du verlegt?
Vor drei Tagen wurden mein Zimmergenosse und ich in ein anderes Flüchtlingslager verlegt, nach Magdeburg. Ich glaube, es ist in der “Breitenstraße”, ich bin mir nicht sicher. Tag für Tag nahm die Zahl der Infizierten zu. Am Anfang waren es 6 Menschen, dann 10, … Vor drei Tagen wurden 60 Menschen in andere Lager verlegt. Nach Magdeburg und in andere Lager. Das hat man mir gerade gesagt: »Sie müssen verlegt werden, weil Sie positiv sind.« Keine weiteren Informationen.
Welche medizinische Behandlung hast Du nach Deinem positiven COVID-19-Test und Deiner Verlegung in das andere Lager in Magdeburg erhalten?
Als wir ankamen, sagten uns die Sozialarbeiter, dass wir zwei Wochen hier bleiben müssten. Danach werden wir getestet und dann in andere Lager verlegt, ich weiß es nicht. Seit Beginn der Verlegung habe ich keinen Arzt gesehen. Sie geben uns Obst und Lebensmittel. Keine Medikamente, Nichts weiter. Ich weiß nicht, ob das so sein soll. Ich weiß nicht viel über Corona, und ich will auch nicht zu viel wissen. Dadurch fühle ich mich gestresst, und ich will nicht noch mehr Stress haben. Man hat uns gesagt, dass wir in ein paar Tagen getestet werden und ein Arzt uns sehen wird, aber das ist noch nicht passiert.
Wie ist die sanitäre und hygienische Situation im Quarantänelager in Magdeburg?
Das Lager hier in Magdeburg besteht aus kleinen Häusern mit drei bis vier Personen in einem Raum. In meinem Zimmer sind wir zwei Personen. Hier haben wir eine öffentliche Toilette, öffentliche Bäder, ohne jegliche Sanitärprodukte. Bei meiner Ankunft erhielt ich für mehrere Tage eine Maske. Ich fragte einen der Sozialarbeiter, ob wir eine Behandlung benötigten, er sagte es mir: »Sie brauchen keine Medikamente, Corona ist diese Art von Krankheit, bei der man durch Warten gesund werden muss«. Wir müssen also hier bleiben, und ich weiß nicht, ob wir gesund werden oder nicht. Außerdem sind hier Polizei und Sicherheitspersonal rund um das Lager postiert. Niemand kann das Lager verlassen. Sie tragen spezielle Anti-Virus-Uniformen und desinfizierende Handschuhe und Masken. Aber diejenigen, die infiziert sind, haben nichts von alledem.
Gibt es noch etwas, das Du uns mitteilen möchtest?
Es ist eine Krise, und sie breitet sich auf der ganzen Welt aus. Als Flüchtlinge hier, sind wir einer viel höheren Gefahr ausgesetzt. Wir müssen mit so vielen anderen Menschen in Lagern leben. In Halberstadt waren es etwa 900 Menschen. Jetzt, mit der Quarantäne, sind es etwa 600 Menschen. Wir sind einfach nicht in der Lage, Abstand voneinander zu halten. Es ist gefährlich und bedrohlich. Und nicht nur für die Flüchtlinge: Es kann sich auch von hier aus ausbreiten. Im Moment sind alle von der Ausgangssperre betroffen. Aber der Unterschied ist: Andere Menschen leben in ihren Häusern. Sie haben ihre Privathäuser. Bei uns ist das anders. Hier gibt es so viele Räume, nah beieinander, Tür an Tür. Die Menschen berühren sich hier unabsichtlich. Das belastet uns auch psychisch sehr stark. Jeder Mensch weltweit ist wegen Corona in Gefahr. Aber hier in den Lagern leben wir mit einem viel höheren Risiko.
Was erwartest Du von der deutschen Linken?
Unsere wichtigste Forderung an linke Parteien und linke Gruppen ist: Dass sie unsere Stimme sind, dass sie uns schützen. Dass sie die Regierung und die Behörden dazu bringen, auf unsere Stimme zu hören, um die Menschen hier in den verschiedenen Lagern zu unterstützen.
Sie müssen sich für die Schließung aller Flüchtlingslager einsetzen. Wir brauchen sichere Unterkünfte. Auch wir müssen auf Distanz gehen können. Die Isolation von Geflüchteten vom Rest der Bevölkerung in Flüchtlingslagern muss beendet werden. Sonst werden wir von Stress und Verzweiflung erfüllt bleiben.
* Name geändert
Foto: Rasande Tyskar
Schlagwörter: Corona, Flüchtlinge, Inland