Brasilien steckt tief in der Krise, während Massenstreiks der Lkw-Fahrer das Land erschüttern. Doch die Streikbewegung ist alles andere als widerspruchsfrei und die extreme Rechte auf dem Vormarsch. L. Oliveira über den Kampf gegen die Regierung Temer, die Gefahr eines Militärputsches und die Aufgaben der Linken
Der Güterverkehr ist unterbrochen, Streikposten blockieren die Straßen, leere Regale in den Supermärkten, kilometerlange Autokolonnen vor den Tankstellen sowie geschlossene Flughäfen aufgrund des Treibstoffmangels: Das war das Szenario in Brasilien während der letzten zwei Wochen, nachdem die Lkw-Fahrer in einen massiven Streik gegen die steigenden Dieselpreise getreten waren — und das in einem Land, in dem 90 Prozent der Güter über die Autobahn transportiert werden. Getragen von einer Welle der Unterstützung aus der Bevölkerung legte die Streikbewegung der Lkw-Fahrer ganz Brasilien lahm, warf jedoch auch viele Fragen auf.
Die orthodox-neoliberale Agenda unter Temer
Auslöser der Streiks war die Änderung der Preispolitik von Petrobras, der staatlichen brasilianischen Ölgesellschaft und einem der zehn größten Ölkonzerne der Welt. Seit dem institutionellen Staatsstreich gegen Dilma Rousseff im Jahr 2016 — genauer gesagt seit der Übernahme der Leitung von Petrobras durch Pedro Parente im selben Jahr — haben sich zwei wesentliche Veränderungen in der Ölpolitik ergeben: Erstens arbeiten die brasilianischen Ölraffinerien mit reduzierter Kapazität und haben die Produktion auf etwa 70 Prozent heruntergefahren. Zweitens folgen die Preise für Erdölerzeugnisse wie Benzin, Diesel oder Flugzeugkerosin, die bis dahin vom Staat kontrolliert wurden, nun den internationalen Marktpreisen. Da die brasilianische Währung gleichzeitig ständig an Wert verliert und keine normale Person in Brasilien in Dollar bezahlt wird, sind die Preise für Diesel und Benzin innerhalb von nur 90 Tagen 58 Mal angehoben worden. In einigen Gebieten des Landes haben sie sich im Vergleich zu der Zeit vor dem Staatsstreich vor zwei Jahren mehr als vervierfacht.
Die sozialen Auswirkungen dieses Preisanstiegs und der neoliberalen Politik von Präsident Michel Temer sind offensichtlich: Mit steigender Arbeitslosigkeit, stagnierenden Löhnen und einer Arbeitsreform, die die Arbeiterinnen und Arbeiter vollkommen entrechtet, können viele Familien die hohen Benzin- und Dieselpreise nicht mehr bezahlen. Einige sind sogar auf Brennholz zum Kochen angewiesen.
Auch politisch ist die Entwicklung von großer Bedeutung. Brasiliens Ölindustrie ist eigentlich in der Lage, den Bedarf des Landes selbstständig zu decken. Der Wechsel in der Ölpolitik folgt daher lediglich dem Ziel, ausländische Ölgesellschaften zu ermutigen, in Brasilien zu investieren und den Markt zu erobern, um so den öffentlichen Sektor zu schwächen -und letztlich, entsprechend der orthodoxen neoliberalen Agenda der Regierung, den Weg frei zu machen für die Privatisierung von Petrobras. Es ist eines der Hauptziele der aktuellen Regierung, die wirtschaftliche Abhängigkeit Brasiliens vom internationalen Markt zu erhöhen.
Eine widersprüchliche Bewegung
Kein Wunder, dass Michel Temer der unbeliebteste Präsident der brasilianischen demokratischen Geschichte ist. Laut einer aktuellen Umfrage des brasilianischen Instituts für öffentliche Meinung und Statistik (IBOPE) liegen seine Zustimmungswerte in der Bevölkerung bei drei bis sechs Prozent. Diese massive Ablehnung wurde in den elf Tagen des Lkw-Fahrerstreiks erneut deutlich. Dreimal trat die Regierung vor die Presse, um zu verkünden, dass die Verhandlungen erfolgreich waren – die Streiks wurden trotzdem fortgesetzt.
Diese eklatante Unfähigkeit der Regierung hat tiefere Ursachen: Die brasilianische Bourgeoisie und die Oligarchen haben, obwohl sie eine einheitliche Wirtschaftsagenda verfolgen, in den letzten Jahren eine tiefe politische Fragmentierung durchlaufen. Für die im kommenden Oktober geplanten nationalen Wahlen haben die wichtigsten Fraktionen der brasilianischen herrschenden Klasse weder einen starken Kandidaten noch ein gemeinsames politisches Projekt für das Land. Es gibt keine sichtbare Führung und kein Programm der herrschenden Klasse, das die Stabilität im Land gewährleisten könnte.
Doch die Existenz eines politischen Vakuums bedeutet nicht zwangsläufig, dass die brasilianische Linke in der Lage wäre, es zu füllen. Obwohl die Linke und die sozialen Bewegungen dynamisch und durchaus fähig sind, sich gegen einige der Angriffe der Regierung zu wehren, ist es eine Tatsache, dass sich die Ausgebeuteten und Unterdrückten im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen in einer zutiefst defensiven Situation befinden.
Die Macht der Militärs in Brasilien wächst
Um die komplexe und fragile politische Lage in Brasilien nachzuvollziehen, muss auch der autoritäre Kurs der rechten Regierung unter Temer berücksichtigt werden. Marielle Franco, Stadträtin in Rio de Janeiro von der PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit), wurde im März 2018 Opfer eines politischen Attentats. Sie und ihr Fahrer wurden in ihrem Auto erschossen, wenige Tage nachdem Franco Vorsitzende eines Ausschusses geworden war, der den Militäreinsatz in Rios Armenvierteln überwachen soll. Immer wieder hatte die Politikerin sich gegen Polizeigewalt und extralegale Hinrichtungen ausgesprochen und den Einsatz des Militärs im Bundesstaat Rio de Janeiro kritisiert, den Temer im Februar dieses Jahres angeordnet hatte. Seither ist in Rio die Zivil- und Militärpolizei dem Kommando eines Generals unterstellt. Es ist das erste Mal seit der Militärdiktatur von 1963 bis 1985, dass die Armee so viel Macht in einem Teilstaat hat.
Auch die Verhaftung des ehemaligen Präsidenten Lula da Silva, ohne legale Beweise für eine Straftat, zeigt, in was für eine autoritäre Richtung die brasilianische Politik steuert. So sehr wir in der radikalen Linken Lula auch ablehnen mögen, ist er nach wie vor so beliebt im Land, dass er die Präsidentschaftswahl wahrscheinlich gewinnen würde, wenn er kandidieren könnte. So führt allerdings Jair Bolsonaro in den Umfragen — ein offener Anhänger der Militärdiktatur. All dies zeigt: Das politische Klima neigt sich nach rechts, in Brasilien wie in vielen Teilen der Welt.
Die Widersprüchlichkeit der Streikbewegung
Dieser politische Hintergrund des Streiks der Lkw-Fahrer ist kein Detail. An den Streikposten zeigte sich, wie widersprüchlich auch diese Bewegung ist. Das hängt insbesondere mit ihrer sozialen Zusammensetzung zusammen: Während die Mehrheit der Streikenden sich aus der großen Zahl prekärer selbstständiger Fahrerinnen und Fahrern speiste, die aufgrund der steigenden Dieselpreise kein Einkommen mehr aus ihrer Arbeit erzielen konnten, unterstützten auch bürgerliche Kräfte und Firmeneigentümer aktiv den Streik, indem sie ihre Beschäftigten aussperren ließen. Und in der Tat haben die ersten Vereinbarungen der Regierung nur die Forderungen der Logistikkonzerne erfüllt, vor allem in Form von Steuerbefreiungen.
Diese sozial widersprüchliche Komponente der Bewegung in einer politisch komplexen und fragmentierten Situation löste eine diffuse Agenda unter den Streikenden aus. So sind Teile der Bewegung stark von der extremen Rechten beeinflusst und forderten sogar die Machtübernahme einer Militärregierung.
Die Gefahr eines Militärputsches in Brasilien
Mittlerweile ist der Streik beendet. Vereinbart wurde, dass die Dieselpreise um 0,46Brasilianische Real pro Liter (ca. 0,10€) gesenkt werden, Ölsteuern für Bildungsinvestitionen wurden erlassen und die Streitkräfte wurden aufgefordert, die verbleibenden Streikposten zu unterdrücken. Einige Tage später kündigte die Regierung einen erneuten Anstieg der Benzinpreise an. Anders als der Dieselpreis waren diese auch zuvor nicht gesenkt worden. Pedro Parente trat von seinem Posten bei Petrobras zurück und Teile der Bourgeoisie diskutieren, ob die neue Preispolitik tatsächlich richtig war.
Die Regierung ist nicht gefallen und auch das Militär ist nicht denjenigen gefolgt, die es zur Machtübernahme aufgefordert haben. Dies hat zwei Gründe: Zum einen scheint das Oberkommando der Streitkräfte die Risiken eines solchen Regimewechsels in der instabilen Lage zu scheuen. Zum anderen sind die Verbindungen, welche das Militär mit der Regierung Temer nach dem kalten Putsch eingegangen sind, so tief wie nie zuvor seit dem Ende der Diktatur im Jahr 1985 — zahlreiche wichtige Posten in der Regierung sind bereits jetzt mit Militärs besetzt. Da es jedoch kein klares hegemoniales Projekt der herrschenden Klasse gibt, sollten wir als Linke nicht glauben, dass ein Militärputsch für die Bourgeoisie keine Option zur »Lösung« der Krise darstellen könnte.
Warnung vor landesweiten Streiks
Der Streik der Lkw-Fahrer stand kurz davor, eine breite Bewegung gegen die Regierung loszutreten. Am 30. Mai traten auch die Beschäftigten der Ölindustrie in den Streik. Und anders als die Lkw-Fahrer hatten diese eine klare Haltung gegen die Preispolitik und die Privatisierungsagenda der Regierung, aber auch eine klare Positionierung gegen die militaristischen Ideen der radikalen Rechten, die in den vorangegangenen Tagen immer wieder hochgekommen waren.
Der Streik der Ölarbeiter wurde vom Obersten Arbeitsgericht allerdings als illegal eingestuft und die Gewerkschaft für jeden Streiktag mit einer Geldstrafe von einer halben Million Real belegt. Aufgrund dieser Kriminalisierung beschloss sie, den Streik auszusetzen, hielt aber an ihrer Warnung vor einer landesweiten Streikbewegung fest.
Wie weiter für die Linke?
So widersprüchlich die Streikbewegung der Lkw-Fahrer auch war, letztlich spiegelt sie die komplexe politische Situation in Brasilien wieder und bekräftigt die Aufgaben der Linken.
Erstens: Die aktuellen Kämpfe sind die Folge einer Wirtschaftspolitik, die die wenigen Errungenschaften der brasilianischen Arbeiterklasse des letzten Jahrhunderts zunichtemacht. Der Sozialstaat und die öffentlichen Investitionen werden von der Regierung bei jeder Gelegenheit geschliffen, und die starke Reaktion der streikenden Lkw-Fahrer zeigt zumindest, dass der kommende Sieger der Präsidentschaftswahl es nicht einfach haben wird, wenn er die jetzige Agenda fortsetzen will.
Zweitens wirft die Bewegung ein Schlaglicht auf das aktuelle Kräfteverhältnis in der Gesellschaft, ihre Fragmentierung und die Komplexität der politischen Lage. Auch wenn es großes Potenzial für das Wachstum der Linken gibt, wird dies nur gelingen, wenn sie entschieden gegen den zunehmenden Einfluss der extremen Rechten kämpft. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese in einer wachsenden politischen Krisensituation zur politischen Option der Bourgeoisie werden kann. Demokratische Rechte werden in Brasilien angegriffen und diejenigen in der Linken, die jetzt nicht dagegen kämpfen, stärken damit am Ende unseren gefährlichsten Feind.
Drittens zeigt die Streikbewegung auch, wie die Linke wachsen kann: nicht nur mit dem richtigen Programm, sondern indem sie eine entscheidende Rolle in der Dynamik der sozialen Bewegungen spielt. Die diffuse Führung der streikenden Lkw-Fahrer — ein Sektor, in dem die brasilianische Linke kaum präsent ist — zeigt, was in der Krise in Brasilien seit dem Staatsstreich im Jahr 2016 für Möglichkeiten aber auch Risiken existieren. Die Linke ist nicht die einzige Kraft, die um die soziale und politische Macht kämpft. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass es in der Politik so etwas wie einen »leeren Raum« nicht gibt: Jemand wird ihn besetzen, und das sollten besser wir sein.
In einer tiefen Krise gibt es immer diejenigen, die aus Angst gelähmt sind, wie auch diejenigen, die die Macht des Feindes nicht erkennen. Keine dieser beiden Positionen dient einer starken, kohärenten und massenorientierten Linken. Die brasilianische Linke muss in einer vereinten und breiten Front mit anderen Kräften auf der Straße kämpfen — gegen die Regierung, genau wie gegen die extreme Rechte.
Foto: Agência Brasil Fotografias
Schlagwörter: Bolsonaro, Brasilien, Faschisten, Franco, Massenstreik, Militär, Militärputsch, Ölindustrie, PSOL, Rechte, Streik, Streikbewegung, Temer