Im Baskenland ist eine neue Bewegung zur Unterstützung der politischen Gefangenen entstanden. Die Forderung nach Unabhängigkeit wurde aber inzwischen von der radikalen Linken aufgegeben. Von Héctor Sierra
Am 14. Januar demonstrierten 78.000 auf den Straßen des baskischen Bilbao und forderten »Menschenrechte, Frieden und eine Lösung des Konflikts«. Das Baskenland erstreckt sich vom Norden des spanischen Staats bis zum Süden Frankreichs und hat eine Bevölkerung von knapp 3 Millionen. Im Jahr 2014 erreichte die Bewegung mit sogar 130.000 Menschen einen ihrer letzten Höhepunkte.
Die Demonstration forderte die Beendigung des für baskische politische Gefangene geltenden Sonderrechts, das Mitte der 1980er Jahre von der Regierung der Sozialistischen Partei (PSOE) als Teil einer neuen Strategie zur Bekämpfung der ETA eingeführt worden war. Die ETA (Euskadi Ta Askatasuna – Baskenland und Freiheit) ist eine bewaffnete Gruppierung ähnlich der Irish Republican Army (IRA), die die Schaffung eines unabhängigen sozialistischen Baskenstaats anstrebt.
Die politischen Gefangenen
Die neuen Maßnahmen richteten sich gegen das schwächste Glied in der Maschine der Organisation: die hunderte in den Gefängnissen schmorenden Mitglieder. Die Maßnahmen beinhalteten über die Maßen lange Haftstrafen. Die Gefangenen wurden weit über das Land verteilt, hunderte Kilometer von zu Hause entfernt in den spanischen und französischen Gebieten, und schwer oder tödlich kranke Häftlinge hatten keine Chance auf Freilassung. Verwandte und Freundinnen oder Freunde müssen weite Strecken in Kauf nehmen für einen 40-minütigen Besuch im Knast. Im Laufe der Jahre starben 16 Personen bei Autounfällen auf ihrem Weg dahin. Andere wurden unterwegs angehalten und schikaniert oder nach einer 20-stündigen Fahrt nicht eingelassen.
Arnaldo Otegi, Führer der für Unabhängigkeit eintretenden radikalen Linken im Baskenland und maßgeblich an der Beendigung des bewaffneten Kampfs beteiligt, hat gesagt, dass die ETA über 10.000 Mitglieder hatte. Das heißt, die meisten baskischen Familien kennen irgendwen, die oder der von dieser Politik betroffen ist.
Waffenstillstand der ETA
Im Oktober 2011 verkündete die ETA den bedingungslosen Waffenstillstand und versprach, sich aufzulösen und ihre Waffenarsenale zu übergeben. Fünf Jahre später ist das inhumane Sonderrecht immer noch in Kraft. Bei Abfassung dieses Artikels befanden sich noch 349 Gefangene in französischen und spanischen Gefängnissen.
Im Jahr 1982 klagte ein hoher Offizier, dass es in den vergangenen 150 Jahren nicht eine einzige Generation von Basken gab, die ihre spanischen Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht durch den Sucher eines Gewehrs gesehen habe. Die ETA war das letzte Glied in dieser Kette bewaffneter Auseinandersetzungen. Ende der 1950er Jahre unter dem faschistischen Regime Francisco Francos gegründet, kämpfte sie für die Unabhängigkeit des Baskenlands von Spanien und Frankreich, wobei über 800 Menschen starben.
Die ETA genoss in den letzten Jahren der Diktatur Francos nicht nur in der baskischen Arbeiterklasse Unterstützung, sondern auch in der breiteren Bewegung gegen Franco, da es ihr gelang, hochrangige Armeeoffiziere zu exekutieren oder Geschäftsleute zu entführen, deren Belegschaft im Streik standen. Insbesondere wurde die Ermordung Admiral Carrero Blancos gefeiert, der von Franco als sein Nachfolger auserkoren worden war.
Forderungen bleiben aktuell
Heutzutage herrscht in linken Kreisen die Meinung vor, dass die Aktionen der ETA während der Diktatur gerechtfertigt, aber als die Zeit der Demokratie anbrach, nicht mehr zu vertreten waren. Dabei werden allerdings drei Dinge übersehen: Erstens wurde dem Baskenland die neue demokratische Verfassung übergestülpt, obwohl nur 30 Prozent der Wahlberechtigten in einem Referendum dafür gestimmt hatten.
Zweitens kämpfte die ETA mit aller Macht gegen das alte Regime, aber sie war gegründet worden, um Unabhängigkeit für das Baskenland zu erringen und einen sozialistischen Staat zu gründen. Die neue Verfassung war dazu da, beides zu verhindern und die Armee wurde mit der Verteidigung der nationalen Einheit betraut.
Drittens wendeten sich die kommunistische wie die sozialistische Partei in Madrid schließlich von der Forderung nach dem Recht auf Selbstbestimmung ab, selbst als die staatliche Unterdrückung in den ersten drei Jahrzehnten der Demokratie noch verschärft wurde.
Daraus zu schließen, dass Gewalt der einzige Weg war, wäre sicherlich falsch, aber es erklärt, warum jene, die das Vorgehen der ETA richtig fanden, wenig Grund hatten, ihr in der neuen Zeit ihre Unterstützung zu entziehen.
Stimmung gegen Unabhängigkeitsbewegung
Im Laufe der Jahre wurde Spanien Vollmitglied der EU, und nachdem Frankreich baskische Kämpferinnen und Kämpfer auf seinem Gebiet nicht mehr als politische Flüchtlinge anerkannte und sich der Verfolgung anschloss, wurde es zunehmend schwieriger für die bewaffnete Gruppe, ihre Operationen durchzuführen. Sie gab ihre Taktik gezielter Schläge auf und wurde mit wachsender Repression immer gewalttätiger.
Infolgedessen verlor sie immer mehr an Unterstützung. Ab den 1990er Jahren nutzten die jeweiligen sozialistischen und konservativen Regierungen mit großem Geschick diese Stimmung aus. In den bürgerlichen Medien setzte sich die Linie durch, dass das wirkliche Problem nicht Terrorismus war, sondern das Streben nach Unabhängigkeit. Demokraten müssten ihre Differenzen überwinden und gemeinsam gegen die Loslösungsbestrebungen vorgehen.
Tendenziell wurde der bewaffnete Kampf mit der übergreifenden nationalistischen Bewegung gleichgesetzt und jede Abweichung davon als Verrat und als Beleidigung der Opfer der Bomben der ETA verunglimpft. Es wurde eine Atmosphäre geschaffen, in der das Verbot politischer Parteien, die Schließung von Zeitungen in baskischer Sprache oder Verhaftung von Journalistinnen und Gewerkschaftern hoffähig wurden. Die geringste Beziehung zu dem baskischen Universum konnte Menschen zum Objekt einer Verleumdungskampagne oder zum Opfer polizeilicher Folter machen.
Die spanische Linke
Solch eine Stimmung ist auch heute noch spürbar: Etliche baskische Jugendliche, die sich im Dezember eine Kneipenschlägerei mit zwei Angehörigen der spanischen Sonderpolizei geliefert hatten, sollen wegen Terrorismus angeklagt werden.
Viele dieser Ungerechtigkeiten hätten schon beseitigt sein können, wenn die spanische Linke sich solidarisch gezeigt hätte. In den meisten Fällen ist das Schweigen jedoch geradezu ohrenbetäubend. Die Mischung aus einer völlig falschen Analyse und Angst vor schlechten Wahlergebnissen haben dazu geführt, dass die Führer der Vereinigten Linken (Izquzierda Unida) Seite an Seite mit den reaktionärsten Figuren des spanischen Nationalismus auf von der konservativen Partido Popular (PP) organisierten Anti-ETA-Demonstrationen laufen.
Das feige Verhalten der spanischen Linken oder die brutalen Unterdrückungsmaßnahmen der jeweiligen Regierungen sind aber nicht ausreichend, um zu erklären, warum die Baskische Nationale Befreiungsbewegung so erfolglos blieb. Wir müssen auch einen Blick auf die Schwächen der Strategie werfen, die die Bewegung mehrheitlich verfolgte.
Schwächen der Strategie
Organisation in Betrieben kann zu kollektiver Aktion führen und zum Erwachen des Klassenbewusstseins. Ein revolutionäres Projekt gestützt auf eine bewaffnete Truppe, die naturgemäß klein sein und im Geheimen operieren muss, führt zu passiver Unterstützung der Massen für die heldenhaften Anstrengungen einiger weniger.
Darüber hinaus erlaubt die Unterordnung des politischen Bereichs der Bewegung unter den militärischen nicht allzu viel interne Demokratie; diejenigen, die am meisten riskieren, haben in der Regel auch das Sagen bei wichtigen Angelegenheiten. Gleichzeitig kann der Staat den bewaffneten Kampf als Vorwand benutzen, um die Linke insgesamt zu neutralisieren.
Im Rahmen der Finanzkrise
Nach der Finanzkrise des Jahres 2007 und der Sparpolitik brach in Katalonien eine riesige Unabhängigkeitsbewegung aus, Millionen nahmen an Demonstrationen teil und im Jahr 2015 entstand eine parlamentarische Mehrheit pro Unabhängigkeit. Im Gegensatz zur katalanischen Bourgeoisie sieht sich die rechte Baskische Nationale Partei nicht hinreichend unter Druck, um Schritte zur Unabhängigkeit zu unternehmen.
Nachdem die Verhandlungen im Jahr 2006 zwischen der bewaffneten Gruppe und der spanischen Regierung ergebnislos blieben und der Waffenstillstand gebrochen wurde, begannen der baskische Politiker (und ehemaliges Mitglied des militärischen Arms der ETA) Otegi und andere eine Debatte, um die Baskische Nationale Befreiungsbewegung davon zu überzeugen, den bewaffneten Kampf aufzugeben – nicht nur aus Gründen der Moral, sondern wegen seiner Unwirksamkeit. Sie obsiegten in dieser Debatte.
Die ETA verlor ihre Führungsposition in der Bewegung und war gezwungen, den bedingungslosen und endgültigen Waffenstillstand auszurufen. Kurz vor der Verkündung wurden Otegi und alle, die zu dieser Entwicklung beigetragen hatten, von der spanischen Polizei verhaftet und auf sechs Jahre ins Gefängnis geworfen.
Die spanische herrschende Klasse war einfach nicht bereit, dieses so nützliche Feindbild aufzugeben, insbesondere da die Wirtschaftskrise schmerzhaft spürbar wurde und aus Protest tausende die großen Plätze in den spanischen Städten besetzten. Die konservative Regierung, die seit dem Jahr 2011 im Amt war, machte weiter wie bisher, verhaftete Radikale und verschärfte die Haftbedingungen, was früher für die ETA gereicht hätte, den Waffenstillstand zu brechen.
Das Baskenland bleibt militarisiert
Internationale Vermittler und erfahrene Friedenswächter wurden im Jahr 2014, nachdem sie der ETA bei der Zerstörung von Waffen geholfen und dies per Video dokumentiert hatten, vor den spanischen Sondergerichtshof gezerrt. Kürzlich wurde eine Gruppe Menschenrechtler, Gewerkschafter und Journalisten verhaftet, während sie dabei halfen, ein weiteres Waffendepot zu vernichten. Verblüffte Experten meinten dazu, ihnen sei noch kein solcher Fall untergekommen, da einer bewaffneten Gruppe nicht erlaubt wird, sich selbst zu entwaffnen.
Nach fünf Jahren ohne Explosionen und Schüssen bleibt das Baskenland ein äußerst militarisierter Ort, in dem der Anteil an Polizeispitzeln im Verhältnis zu Bürgern einer der höchsten in Europa ist.
Diese Sabotagepolitik erfüllt dreierlei Zweck: Es wird der Anschein erweckt, dass das Ende der ETA nicht Folge der Entscheidung der Gruppe oder einer Forderung aus der baskischen Gesellschaft selbst ist, sondern als militärischer Sieg der spanischen herrschenden Klasse verbucht werden kann. Zweitens demonstriert sie, dass die Idee von Unabhängigkeit als ein Minimum an unter bürgerlicher Demokratie zu erreichender Freiheit vorläufig nicht erfüllbar ist. Drittens dienen die politischen Gefangenen als Mittel der Erpressung der baskischen Gesellschaft, ihre Bestrebung nach Selbstbestimmung aufzugeben.
Während in der Vergangenheit die spanische Regierung vielleicht Interesse an der Aufnahme von Verhandlungen hatte, sieht die PP aus ihrer derzeitigen Position der Überlegenheit keine Vorteile darin.
Unabhängigkeit
Ein breites Bündnis der für Unabhängigkeit eintretenden Linken (EH Bildu) wurde nach Erklärung des Waffenstillstands gegründet. Darin vertreten sind Sozialdemokratie und Überreste der radikalen Linken. Diesem Bündnis ist es gelungen, einem laut Verfassung möglichen Verbot zu entgehen und es erhielt seit Jahrzehnten den höchsten Anteil an Stimmen, die eine Unabhängigkeit fordernde Linke erhalten hat: Es wurde im Jahr 2012 zweitstärkste Kraft im baskischen Parlament und konnte sich im Jahr 2016 trotz der Entstehung von Podemos auf diesem Platz behaupten.
Leider hat sich diese Koalition in eine nur noch Reformen anstrebende Bewegung der gesamten baskischen Linken verwandelt. Der bewaffnete Kampf mag aufgegeben worden sein, aber seine politische Kultur besteht fort: Wieder sind es nur einige wenige, die eine führende Rolle spielen und die Entscheidungen treffen, während die Rolle der einfachen Leute darin besteht, passiv zu beobachten und ihre Unterstützung von Zeit zu Zeit an der Wahlurne zu bekunden.
Als Folge dieses mangelnden Vertrauens in die einfache Bevölkerung hat die neue baskische Linke viele Hoffnungen auf ihre parlamentarischen Aktivitäten und das Engagement internationaler Vermittler (wie Gerry Adams aus Irland oder Tony Blairs Stabschef, Jonathan Powell) gesetzt, um die Blockade der konservativen Regierung zu durchbrechen.
Nur Massenaktionen wie die in Bilbao, die den politischen Preis für die Regierung in die Höhe treiben, können die Lage der Gefangenen verbessern und die Unabhängigkeitsbewegung weiterbringen. Eine neue revolutionäre Linke wird dringend gebraucht, um diesen Mobilisationen Richtung zu geben und um für Unabhängigkeit von einem sozialistischen Standpunkt aus zu argumentieren.
(Zuerst veröffentlicht auf: http://socialistreview.org.uk/422/new-mood-grips-basque-struggle. Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning)
Foto: Galiza Contrainfo
Schlagwörter: Baskenland, Faschismus, Franco, Podemos, Spanien