Die Hochzeit der Hausbesetzungsbewegung, der alternativen Wohnprojekte und der Freiräume ist lange vorbei. Übernimmt das Kapital nun völlig die Stadt? Ein Sammelband gibt einen Überblick über aktuelle Entwicklungen und die Bewegungen dagegen.
Bis in die 1990er Jahre galt Berlin als Hochburg stadtpolitischer Protestbewegungen: von den Häuserkämpfen um die Mainzer Straße über die Massenmobilisierungen gegen Verdrängung auf dem Prenzlauer Berg bis zu den Straßenschlachten am 1. Mai. Davon ist heute nur noch wenig zu spüren, von den damaligen Strukturen sind nur subkulturelle Nischen geblieben. Gleichzeitig ist der neoliberale Umbau der Stadt weit fortgeschritten. Berlin gilt heute als Goldgrube für Immobilienspekulanten. Die Mieten sind in die Höhe geschossen – in manchen Stadtteilen stiegen die Neuvermietungspreise in den letzten fünf Jahren um über 50 Prozent. Dies ging einher mit einer der weitgehendsten Privatisierungswellen der letzten Jahre: Der rot-rote Senat verkaufte in den Jahren von 2002 bis 2011 allein 140.000 städtische Wohnungen.
Der neue Sammelband »Reclaim Berlin«, herausgegeben von Andrej Holm, dem wohl bekanntesten deutschsprachigen Kritiker der Gentrifizierung, gibt in 17 Artikeln und Interviews einen aktuellen Überblick über die stadtpolitische Situation in Berlin.
Wohnungsnot und Privatisierung
Der erste Teil des Bands (»Berliner Zustände«) macht eine Bestandsaufnahme der letzten Jahre. Während Kerima Bouali und Sigmar Gude auf die neueren Tendenzen der Gentrifizierung eingehen, problematisiert Sabina Uffer in ihrem Beitrag die Privatisierungspolitik des Berliner Senats. Christian Linde setzt sich in einem spannenden Beitrag mit der Wohnungslosenpolitik auseinander. Insgesamt ergibt sich ein düsteres Bild: Berlin steht kurz vor einer gravierenden Wohnungsnot und die Privatisierung von Wohnraum wirkt als Brandbeschleuniger für Verdrängung und Segregation. Eine kleine Schwachstelle des ersten Abschnitts ist die fehlende internationale Einordnung und die kaum vorhandene Betrachtung makroökonomischer Prozesse der urbanen Wertschöpfung.
Der zweite Teil des Sammelbands beleuchtet verschiedene »Konflikte und Widersprüche«. Auch hier wird ein sehr breites Feld an Themen behandelt. Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Jenny Künkel über »Umkämpfte Räume des Sexgewerbes«. Sie beschreibt, wie die neoliberale Stadtentwicklung zur Verdrängung von Straßenstrichen führen kann, und zeigt am Beispiel der Kurfürstenstraße, wie erfolgreiche Gegenwehr aussieht.
Der letzte Teil des Buchs widmet sich dem »Protest und Widerstand« gegen Mietsteigerungen und gegen die Verdrängung subkultureller Räume sowie den Perspektiven der Hausbesetzungsbewegung. Ein Höhepunkt ist der Beitrag der Mieterinnen- und Mieterinitiative Kotti & Co über das »Recht auf Stadt«. Kotti & Co ist eine von Migrantinnen und Migranten geprägte Initiative, die mit innovativen Mitteln politischen Druck auf den Senat ausübt und dadurch bereits Teilerfolge erringen konnte.
Inhaltliche Vielfalt
Das Buch »Reclaim Berlin« ist eine Pflichtlektüre für alle stadtpolitischen Aktivistinnen und Aktivisten in Berlin und anderswo, da es wichtige Argumente und eine gute Übersicht über das Thema bietet.
Die inhaltliche Vielfalt ist dabei zugleich eine Stärke als auch eine Schwäche. Viele Themen werden nur kurz in einem Beitrag angeschnitten, ohne in die Tiefe zu gehen. Bedauerlich ist auch, dass das erfolgreiche Volksbegehren gegen Luxusbebauung auf dem Tempelhofer Feld nicht mehr berücksichtigt werden konnte. Dabei stellt dieser Erfolg eine wichtige Erfahrung für die gesamte Berliner Mietenbewegung dar. Vielleicht findet die Initiative ja ihren Platz in einem Nachfolgeprojekt von »Reclaim Berlin«. Dass die Debatte um die Berliner Stadtentwicklung und die dazugehörigen Proteste in dieser Form weitergeführt wird, ist auf jeden Fall zu hoffen.
Andrej Holm (Hrsg.): Reclaim Berlin. Soziale Kämpfe in der neoliberalen Stadt, Assoziation A, Berlin 2014, 368 Seiten, 18 Euro.
Foto: Angela Schlafmütze
Schlagwörter: Berlin, Bücher, Gentrifizierung, Kultur, Privatisierung, Proteste, Recht auf Stadt, Stadtentwicklung, Tempelhofer Feld, Wohnungsnot