Die Linke darf die Zusammenhänge von Klasse und Unterdrückungsformen nicht als bloße »Identitätspolitik« abtun, meint Helena Zohdi
Helena Zohdi ist Studentin der Politischen Theorie sowie Islamischen Studien an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Die Black-Lives-Matter-Proteste sind eine Antwort auf die tief verankerten Strukturen des (antischwarzen) Rassismus in den USA, aber auch in Deutschland. Dass die Stimmen lauter werden, die eine grundsätzliche Kritik an der Institution der Polizei und der Gefängnisse formulieren, ist ein Erfolg der Bewegung und muss auch hierzulande vorangetrieben werden.
Rassistische Polizeigewalt muss als Teil eines größeren kapitalistischen und rassistischen Systems verstanden werden. Dazu gehören auch das Verschweigen der deutschen Kolonialgeschichte, rassistische Grenzregime sowie eine mörderische Abschottungs- und Abschiebepolitik. Es ist ein System des rassifizierten Kapitalismus, in dem materiell arme People of Color verstärkt ausgebeutet werden. Hierzu zählt auch die un(ter)bezahlte Care-Arbeit von überwiegend migrantischen Frauen.
Alltagsrassismus und Kulturalisierung
Alltagsrassismus – in meinem Fall antimuslimischer Rassismus – ist eine Ausprägungen dieses größeren Ganzen. Etwa wenn eine Frauenärztin mir beim ersten Besuch in ihrer Praxis ungefragt erklärt, dass sie ja schon wisse, wie in »meiner Kultur« die Gendernormen aussähen, oder wenn der Wohnungsbesitzer erläutert, ich sei nicht »die Richtige« für die Wohnung. Oder wenn eine Kommilitonin, die, nachdem sie meine Religionszugehörigkeit erfragt hat, mir sagt, ich sei »nicht wirklich Deutsch«. Es sind unzählige Erfahrungen, die einen täglich belasten.
Antimuslimischer Rassismus »kulturalisiert« Muslime. Sie werden auf ihre (vermeintliche) »Religion und Kultur« reduziert. Dabei ist meist der tatsächliche Glaube einer Person irrelevant. Menschen, die angeblich »muslimisch aussehen«, werden als solche rassifiziert.
Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen
Alltagsrassismus geschieht nicht im luftleeren Raum. Er ist Ausdruck eines Systems, das mit Rassismus Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen legitimiert und aufrechterhält. Wissensproduktion an der Uni, die einen akademischen Schleier über antimuslimischen Rassismus hängt, spielt hier eine zentrale Rolle. Unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit argumentieren selbsternannte Islam-Expertinnen und -Experten, dass das Kopftuch das Symbol der Unterdrückung und somit im Namen einer scheinheiligen »Neutralität« in Bereichen der Öffentlichkeit zu verbieten sei.
Dass jegliche Symbole stets mehrdeutig sind, scheint ihnen zu komplex zu sein. Die Gründe, wieso jemand einen Minirock, Piercings oder ein Kopftuch trägt, sind jedoch nie eindeutig. Die Grenzen zwischen unterschiedlichen und sich teilweise widersprechenden Normvorstellungen, »freier Wahl«, Gewohnheit oder sozialem Druck verschwimmen und sind von Machtstrukturen durchdrungen. Dass ich als Muslima, die ihre Religion als emanzipatorische Quelle sieht, genauso sehr Feministin und Sozialistin sein kann, wird in einigen Diskursen des weißen, liberalen Mainstream-Feminismus als unvereinbar konzipiert.
Klasse und Unterdrückung
Muslimische Frauen werden viel zu oft überhaupt nicht gehört, da sowohl konservativ-muslimische Diskurse als auch liberale Rettungsdiskurse beanspruchen, für uns zu sprechen, und unsere Stimmen vereinnahmen. Es gibt erschreckende Parallelen zwischen gegenwärtigen weißfeministischen und kolonialen Diskursen. Denn im Namen der »Rettung der (muslimischen, ›nichtweißen‹) Frau« wurden nicht nur westliche koloniale Ausbeutungszüge des 19. Und 20. Jahrhundert legitimiert, sondern auch der imperiale US-Krieg in Afghanistan.
Es gibt eine Vielzahl antiimperialistischer und sozialistischer Kritik an solchen Ausprägungen rassistischer und sexistischer Unterdrückungsverhältnisse. Diskussionen über komplexe Zusammenhänge von Klasse und Unterdrückungsformen wie Gender oder »Race« dürfen auch hierzulande in der Linken nicht als bloße »Identitätspolitik« abgetan werden. Dafür muss den Betroffenen aber auch erst mal zugehört werden.
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