Für Samstag, den 27. September ruft ein breites Bündnis zur Großdemonstration in Berlin auf. Es ist eine Chance, die Ablehnung großer Teile der Bevölkerung gegen Israels Vorgehen im Gazastreifen auch in Deutschland auf den Straßen sichtbar zu machen. Vom marx21-Ko-Kreis
Seit knapp zwei Jahren führt Israel einen Völkermord an den Palästinenser:innen in Gaza durch. In Deutschland hat sich die mediale Berichterstattung sowie der politische Wind in den vergangenen Monaten gedreht – mittlerweile findet man kritische Berichterstattung fast täglich in den Medien. In einer Umfrage von März 2024 gaben bereits 69 Prozent aller Deutschen an, dass sie das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza für nicht gerechtfertigt halten. Im Mai 2025 waren es dann schon 80 Prozent.
Ein Grund dafür sind die katastrophalen Bilder aus dem Gazastreifen sowie die militärische Eskalation Israels in der Region – insgesamt sieben Länder, darunter Libanon, Syrien, Tunesien, Iran, Katar, Palästina und Jemen, hat der israelische Staat seit dem 7. Oktober 2023 bombardiert. Ein weiterer Grund ist, dass die Palästina-Bewegung trotz Repressionen seit Monaten mit Demos, Protestcamps und Veranstaltungen auf die Situation in Gaza aufmerksam macht und so auf den gesellschaftlichen Diskurs einwirkt.
Der politische Wind dreht sich
Allerdings hat der veränderte Diskurs in Medien und Gesellschaft bisher nicht dazu geführt, dass die Bundesregierung Druck auf die israelische Regierung aufbaut oder sich anderweitig für ein Ende des Krieges einsetzt.
Friedrich Merz hat zwar angekündigt, keine neuen Waffenexporte mehr nach Israel zu genehmigen. Ob er sich daran hält, kann allerdings niemand nachprüfen – Details der Exportgenehmigungen unterliegen der Geheimhaltung. Außerdem kündigte Merz nicht an, Waffenexporte generell zu stoppen, sondern lediglich, keine Waffen mehr zu liefern, die in Gaza eingesetzt werden können. Das eröffnet zusätzliche Auslegungsmöglichkeiten, um letztlich weiter Waffen zu liefern.
Was es braucht, um Deutschlands Komplizenschaft zu beenden, ist eine breit getragene gesellschaftliche Bewegung, die die Regierung zwingt, gemäß dem veränderten Diskurs zu handeln.
Ein wichtiger Schritt, um als propalästinensische Bewegung Einfluss auf das Regierungshandeln in Deutschland zu nehmen, ist es, die bisher stille Mehrheit in Deutschland gegen Israels Vorgehen in Gaza sichtbar zu machen. Denn paradoxerweise hat sich die veränderte Stimmung bisher nur in Umfragen und nicht auf Protestkundgebungen oder im Alltag gezeigt.
Dies hat mit der repressiven Isolationspolitik von großen Teilen des politischen Establishments und ihrer Verbündeten in den Medien sowie deren Umsetzung durch Polizei und Gerichte zu tun. Die Kriminalisierung des Protestes verhindert, dass Menschen niedrigschwellig ihre Opposition äußern können und lässt sie an der Legitimität der Palästina-Bewegung zweifeln: »Ich bin zwar gegen die israelische Politik, aber habe Angst, mit Antisemiten auf die Straße zu gehen«, denken wahrscheinlich viele.
Dass jede Kritik an Israel als potentiell antisemitisch markiert und die propalästinensiche Bewegung isoliert wird, schwächt somit direkt den Protest, da weniger Menschen sich daran beteiligen. In der Bewegung führt die Isolation außerdem zu Verzweiflung und einer »Jetzt erst recht!«-Haltung. Diese hat dazu beigetragen, dass die Bewegung trotz Repression durchgehalten hat. Gleichzeitig hat sie dazu geführt, dass es der Bewegung schwerfällt, Brücken zur Mehrheit, zu den Zweifelnden und den Schwankenden aufzubauen. Dies wiederum verstärkt die Isolation – ein Teufelskreis. Dadurch sowie durch die fehlende Unterstützung gewichtiger zivilgesellschaftlicher Akteure, wie etwa nennenswerte Teile der Partei Die Linke oder NGOs und Kirchen, kann sich die Bewegung kaum vor staatlicher Repression, Polizeigewalt und Diffamierung schützen bzw. sich dagegen verteidigen. Dies führt dann wiederum dazu, dass die Hürde, sich der Bewegung anzuschließen, für viele Menschen, die das Leid in Gaza stoppen wollen, zu hoch ist.
27. September: Eine entscheidende Chance
In dieser Gemengelage bietet die Großdemonstration am 27. September in Berlin eine wichtige Gelegenheit, die Isolation der Palästina-Bewegung zu durchbrechen. Unter dem Titel »All Eyes on Gaza« rufen die Palästinensische Gemeinde Deutschland, eye4palestine, Amnesty Deutschland und Medico zu einer Kundgebung auf, bei der Künstler:innen wie unter anderem K.I.Z., Pashanim und Ebow auftreten. Die Demonstration zur Kundgebung unter dem Titel »Zusammen Für Gaza« wurde unter anderem initiiert von palästinensischen sowie jüdischen Aktivst:innen, Einzelpersonen aus der Partei Die Linke und von Kulturschaffenden. Die Forderungen des Bündnisses gehen dabei weit über das hinaus, was die Partei Die Linke bislang jemals öffentlich, offensiv vertreten hat: Die Beendigung jeglicher militärischer Kooperation mit Israel, ein Ende der jahrzehntelangen Vertreibung und illegalen Besatzung, die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung der Palästinenser:inen sowie den Schutz der Meinungs-, Versammlungs- und Wissenschaftsfreiheit in Deutschland.
Die Konstellation aus prominenten Kulturschaffenden und einem Aufruf, dessen Forderungen weitestgehend an die großen Meinungsumfragen anknüpfen, sowie die politische Legitimität und der Schutz, die dem Protest durch die Beteiligung von NGOs und der Linken gegeben wird, schafft ein Potenzial, um mit der Demo in breitere Bevölkerungsteile auszustrahlen als dies bei vergangenen Protesten der Fall war. Wenn es gelingt, dieses Potenzial zu verwirklichen, werden Zehntausende Menschen am 27. September zum ersten Mal in ihrem Leben »Free, Free Palestine« rufen. Es ist möglich, dass auf der Demonstration die Empathie, die viele Menschen für das Leid in Gaza empfinden, in politisches Handeln umschlägt und Menschen anfangen, mit der deutschen Staatsräson der bedingungslosen Solidarität mit Israel und den verkürzten Lehren aus dem Holocaust zu brechen.
Die zwiespältige Rolle der Linken
Die Beteiligung der Linken und NGOs an einer propalästinensischen Demonstration kommt für die Opfer des Völkermords zu spät. Für viele Menschen, die seit Jahren innerhalb der Linken für propalästinensische Positionen kämpfen, ist das lange Zögern großer Teile der Partei traurigerweise, keine Überraschung. Die Linke bildet damit auch die Situation innerhalb der gesellschaftlichen Linken in Deutschland ab, die durch das Erbe des Holocausts an der Frage gespalten ist, wie sie zu Israel und dem Zionismus steht. Der organisierte Widerstand gegenüber Kritik am Zionismus innerhalb linker und linksradikaler Strukturen durch sogenannte Anti-Deutsche macht es umso schwieriger, eine propalästinesische Aktivität zu organisieren.
Viele Akteure innerhalb der propalästinesischen Bewegung teilen Gefühle der Verbitterung und Frustration über zu spätes Handeln der Linken und werfen ihr instrumentelle Solidarität vor. Der Partei Opportunismus vorzuwerfen, ist insofern berechtigt, als dass sie sich erst jetzt an einer solchen Demonstration beteiligt und ihre bereits lang beschlossene Forderung nach dem Ende der Waffenlieferungen offensiver vertritt. Jan van Akens Äußerungen beim Sommerinterview in der ARD waren ebenfalls nicht hilfreich: Er sprach kaum über den Horror in Gaza und unterstellte Genoss:innen aus Berlin-Neukölln und ihrem Sommerfest Nähe zur Hamas. Bodo Ramelow nannte noch vor wenigen Wochen Bilder getöteter palästinesischer Kinder »Hamas Scheiße«. Damit haben viele prominente Führungspersonen in der Linken dazu beigetragen, dass die Palästina-Bewegung bisher zu großen Teilen nicht Teil der Partei ist. Für viele ist Die Linke in dieser Frage eher Feind als Freund.
Gleichzeitig übersieht eine undifferenzierte Kritik an der Linken und ihrer Haltung zum Krieg gegen Gaza die Auseinandersetzungen, die innerhalb der Partei um diese Frage geführt werden: Die Befürworter Israels konnten sich in der Vergangenheit oft öffentlichkeitswirksam an die Medien wenden und sich damit teils über demokratische Beschlüsse hinwegsetzen. Es lässt sich vermuten, dass das breiter gefasste propalästinensische Lager innerhalb der Partei, spätestens durch die zehntausenden Neueintritte die Mehrheit bildet. Diese gilt es nun in reale Macht innerhalb sowie außerhalb der Partei zu überführen.
Die Kräfteverhältnisse haben sich so weit verschoben, dass Die Linke nicht nur zum 27. September aufruft, sondern auch Ressourcen in die Mobilisierung steckt. Ende August erhielten die über 110.000 Mitglieder der Partei eine Mail der Vorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken mit dem Betreff »27.9. Demo in Berlin: Zusammen für Gaza!«. In der Mail wird dazu aufgerufen, sich der Demonstration anzuschließen. Damit der Protest richtig groß werden kann, brauche es jeden Einzelnen, heißt es dort. Kreisverbände aus ganz Deutschland sollen dafür Busse organisieren. Mittlerweile, vier Tage vor der Demonstration, haben sich Busse aus über 30 Kreisverbänden der Linken für kommenden Samstag zur Fahrt nach Berlin angekündigt.
Wenn dieser Tag ein Erfolg wird, wird das dazu beitragen, die Partei an dieser Frage grundlegend weiter in Richtung einer propalästinensischen Ausrichtung zu drehen. Denn viele Parteimitglieder werden durch die Demonstration erstmals an einem propalästinensischen Protest teilnehmen und sich dabei auch selbst verändern. Diese Erfahrungen werden in die Kreisverbände, Landes- und Bundesparteitage getragen. Vor diesem Hintergrund ist der 27. September eine historische Chance, Die Linke endgültig und klar an die Seite des unterdrückten palästinensischen Volkes zu stellen.
Kritik von links
Während ein Teil der palästina-solidarischen Bewegung den Protest am 27. September tatkräftig aufbaut, gibt es Akteure, die die Demo und die Kundgebung offen boykottieren. Das sät Zweifel und verunsichert viele Menschen, die beiden Teilen der Bewegung nahestehen. Der Boykott wird damit begründet, dass die Forderungen des Demo-Aufrufs nicht weit genug gingen. Insbesondere kritisieren die Initiator:innen des Boykotts, dass der siedlerkoloniale Charakter Israels und der Zionismus als Wurzel der jahrzehntelangen systematischen Unterdrückung, Besatzung und Vertreibung nicht genannt werden. Dies führe dazu, dass der Kampf für palästinensische Befreiung und Selbstbestimmung »weichgespült« werde.
Auch wenn die Analyse des Zionismus als Ursache der Gewalt und Unterdrückung richtig ist, kann eine Massendemonstration nicht erfolgreich aufgebaut werden, indem inhaltliche Maximalforderungen und -positionen zur Teilnahmebedingung gemacht werden. Viele Menschen in Deutschland haben keine Vorstellung vom Leben in Gaza und der Westbank vor dem 7. Oktober, geschweige denn von der Notwendigkeit von (bewaffnetem) Widerstand dagegen. Um bei den aktuellen Bildern aus Gaza auf die Straße zu gehen und für ein Ende der Zerstörung zu demonstrieren, sollte es keine Teilnahmebedingung sein, dass man alle Analysen und Hintergründe des »Konfliktes« kennt oder teilt. Je größer die Bewegung wird, desto mehr finden auch weitergehende Forderungen und Positionen Gehör. Deshalb ist es wichtig, um die Herzen und Köpfe derer zu kämpfen, die durch den vergleichsweise niedrigschwelligen Aufruf zum ersten Mal demonstrieren gehen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn man organischer Teil der Demonstration ist – so wie das für viele langjährige palästina-solidarische Akteure beim Protestaufruf zum 27. September der Fall ist.
Für einen langfristigen Erfolg der Bewegung ist es gleichzeitig wichtig, dass antizionistische Positionen auf kurz oder lang innerhalb einer neuen, größeren Bewegung mehrheitsfähig werden. Dies kann gelingen, wenn Menschen über einen breiten Aufruf zu Demos und Kundgebungen kommen und dort persönliche Berichte und Erfahrungen von Palästinenser:innen über die Brutalität der israelischen Besatzung hören. Hier entsteht eine Gegenöffentlichkeit gegen die oft verzerrte mediale Berichterstattung und Entkontextualisierung des Kriegs in Gaza.
Vor diesem Hintergrund stellt der kommende Samstag eine entscheidende Gelegenheit dar, um die Isolation der Palästina-Bewegung zu durchbrechen. Nutzen wir sie!
Schlagwörter: Gaza, Palästina